# taz.de -- Die Wahrheit: Herein, wenn’s kein Schneider ist | |
> Beethoven-Jahr? Davon will man in Ulm, der Hauptstadt des Scheiterns, | |
> nichts wissen. Denn hier ist Albrecht-Ludwig-Berblinger-Jahr. | |
Bild: Zwei gigantische Büstenhalter Größe X? Nein, ein original Ulmer Hänge… | |
„Und hier ist der Grasdaggl in die Donau gesemmelt“, referiert Luise | |
Pfulinger sichtlich unbeeindruckt und zeigt mit gewisser Abscheu auf eine | |
Stromschnelle, in der sich heute bloß eine einsame Plastiktüte dreht. „Was | |
für ein Subbakaschbr“, murmelt die resolute Schwäbin noch kopfschüttelnd, | |
bevor sie uns zum angeblichen Geburtshaus des nach Albert Einstein | |
berühmtesten Ulmers führt, in dem passenderweise eine Änderungsschneiderei | |
untergebracht ist. | |
In der beschaulichen Stadt am Rand der Schwäbischen Alb dreht sich zum 250. | |
Jubiläum alles um den 1770 geborenen Albrecht Ludwig Berblinger, der als | |
„Schneider von Ulm“ in die Geschichte menschlicher Misserfolge eingegangen | |
ist. Der Hobbykonstrukteur und Gelegenheitserfinder bastelte 1811 in | |
mühevoller Heimarbeit einen Hängegleiter, der nachweislich nicht | |
funktionierte. Denn statt sich in die Lüfte zu erheben, stürzte die | |
Flugmaschine Berblingers vor zahlreichen Zeugen in die Donau. „Einen | |
furchtbaren Wind hat der Schafseggl vorher gemacht“, erläutert die Ulmerin | |
Pfulinger, deren Vorfahren der erfolglosen Flugschau des Schneiders | |
beiwohnten. „Und dafür hatten wir nun extra die Kehrwoche ausgesetzt.“ | |
Der Schwabe leidet es nämlich nicht, wenn man ihn unter Vorspiegelung | |
falscher Tatsachen vom Tagwerk abhält. Das musste auch der glücklose | |
Flugpionier erfahren, der nach der Bruchlandung keinen Fuß mehr auf den | |
Boden seiner Vaterstadt bekam und nach seinem Ableben klammheimlich im | |
Armengrab verscharrt wurde. Ein wenig von dieser Ablehnung ist in der Ulmer | |
Urbevölkerung noch immer zu spüren. „Hadrlomp! Vollbfoschda! Malefizaff!“, | |
beschimpft Luise Pfulinger das Gebäude, dessen schmucklose Architektur | |
allerdings verdächtig an die Nachkriegsjahre gemahnt. | |
Die offizielle Geschichtsschreibung des Ulmer Stadtmarketings geht ungleich | |
gnädiger mit dem berühmten Sohn der Stadt um. Sie ignoriert den krachenden | |
Misserfolg großzügig, vereinnahmt Berblinger kurzerhand als Pionier des | |
Innovationsstandortes Baden-Württemberg und will ihn posthum zum | |
Klassensprecher des Musterländles erheben. Deswegen wird in Ulm heuer jede | |
Menge heißer Luft durch die Eventmaschine des Tüftlergedenkens geblasen. | |
Ein Multimedia-Zinnober entlang der Stadtmauer, ein flatterhaftes | |
Rock-Musical, etliche Theateraufführungen, Ausstellungen, Talkrunden und | |
halsbrecherische Performances sollen 2020 an das gescheiterte Gscheitle und | |
seine hochfliegenden Pläne erinnern. | |
## Zwischen Lech und Walesa | |
Doch wäre das Schwabenland nicht jene liebenswerte Anhäufung ehrpusseliger | |
wie geschäftstüchtiger Pietisten, die sich gegenseitig nicht das Schwarze | |
unter dem Fingernagel gönnen, wenn das Ulmer Jubiläum keine Neider und | |
Nachahmer auf den Plan rufen würde. Denn auch andere profilneurotische | |
Weiler zwischen Lech und Bodensee können mit verkrachten Existenzen | |
aufwarten, deren verunglückte Schnapsideen des öffentlich geförderten | |
Gedenkens wert sind. | |
Als Erstes meldete sich die Weltmetropole Schnäpplerdingen, idyllisch auf | |
halber Strecke zwischen Trochtelfingen und Mössingen gelegen. Einer lokalen | |
Legende zufolge hat der Konditor Nepomuk Glattsieder hier im Jahr 1245 beim | |
Versuch, die Schwarzwälderkirschtorte zu erfinden, versehentlich erstmals | |
das Schwarzpulver zusammengemengt. Deutlich bevor der Franziskanermönch | |
Berthold Schwarz aus dem rivalisierenden Baden diese Erfindung wenigstens | |
für den europäischen Raum für sich reklamieren konnte. Allerdings muss sich | |
Glattsieder gleich beim ersten Testlauf derart gründlich selbst in die Luft | |
gesprengt haben, dass weder Beweise für seine Existenz noch für seine | |
Erfindung erhalten blieben. Nur der Glattsieder-Bruch, ein unbebautes | |
Gelände, das bislang unter Naturschutz stand, erinnerte vage an ihn. Hier | |
will die Gemeinde nun mit Landesmitteln einen weitläufigen Parkplatz zu | |
seinem Gedenken errichten. | |
Die Gemeinde Oberflöhingen versucht wiederum, dem Franzosen Louis-Sébastien | |
Lenormand den 1783 erfolgreich absolvierten Jungfernsprung mit dem | |
Fallschirm abzuschnöden. Im Jahr zuvor hatte sich nämlich der Scheuer-Kuno, | |
der in seinem Heimatort zuvor als Dorfdepp Furore gemacht hatte, mit einem | |
Bettlaken vom örtlichen Kirchturm gestürzt. Der Turm soll nun mit | |
EU-Geldern liebevoll restauriert werden, das historische Laken befindet | |
sich noch immer in Familienbesitz, kann jedoch auf Anfrage im Wäscheschrank | |
besichtigt werden. | |
Im benachbarten Neckarhäslach will man sogar den Berliner Ingenieur Konrad | |
Zuse abgehängt und Jahrzehnte vor ihm den Computer, wenn nicht gar „desch | |
Indernedd“ erfunden haben. Jedenfalls beinahe. „Uropa Hannes war sehr gut | |
mit Zahlen“, gibt Urenkel und Gastwirt Georg Bäsle sich zu erinnern vor. | |
Hauptberuflich habe der Ahn zwar als Weinhändler gewirkt, aber in seiner | |
Freizeit oft brütend im Wirtshaus herumgesessen. „Wer weiß, was da alles in | |
seinem Schädel vorgegangen ist“, meint Bäsle und präsentiert zum Beweis | |
einen Bierfilz aus der Kaiserzeit, der mit Kringeln und Strichen bekritzelt | |
ist. Ein Binärcode oder bloß Nachweis einer durchzechten Nacht bei | |
zahlreichen Obstlern (Kringel) und etlichen Schoppen Trollinger (Strich)? | |
Die Fachwelt bleibt skeptisch, doch Bäsle glaubt fest an das | |
Innovationspotential seines Vorfahren: „Keine Ahnung, was der Hannes alles | |
hinbekommen hätte, wenn er nicht so furchtbar gesoffen hätte“, verteidigt | |
er das blaue Schaf der Familie. Das wertvolle Dokument will er | |
Interessierten künftig in der „Hannes-Bäsle-Erlebniswelt“ (mit Ausschank) | |
zugänglich machen. | |
In der Schneiderstadt Ulm sieht man der Konkurrenz im Festjahr mit | |
selbstbewusster Gelassenheit entgegen. Sogar für internationalen Tourismus | |
will man sich in der Münsterstadt aufstellen. Wir schauen uns noch ein | |
wenig in der Stadt um, die Albert Einstein bereits als Kleinkind verließ, | |
und prägen nach kurzem Nachdenken den Slogan „Ulm – World Capital of | |
Failure“. Als wir den Spruch unserer Ulmer Gewährsfrau übersetzen, können | |
wir uns abermals von der Innovationskraft und dem sprachlichen Reichtum der | |
schwäbischen Schimpf- und Zeterkultur überzeugen. | |
13 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Christian Bartel | |
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