| # taz.de -- Die Wahrheit: Eine Beziehung, zwei Systeme | |
| > Die Ablagemethodik für Steuerdinge als Anlass für einen Streit? Das war | |
| > neu für das Paar, aber eröffnete beiden faszinierende Kriegsschauplätze. | |
| Bild: Zwei gigantische Büstenhalter Größe X? Nein, ein original Ulmer Hänge… | |
| Neulich hatten meine Freundin und ich einen Streit, wer über die bessere | |
| Schriftgutverwaltung verfüge. Vermutlich wollten wir uns einfach mal wieder | |
| streiten, hatten aber alle interessanten Themen schon durch. Meine Freundin | |
| hat ein Ablagesystem, bei dem sie jedes Papierchen, das wichtig sein | |
| könnte, mit einem Magneten an ihre Kühlschranktür heftet. Mein Ablagesystem | |
| kommt ohne Magneten aus, weil es, die Schwerkraft klug ausnutzend, | |
| horizontal auf meinem Sofa basiert. | |
| Dort liegen in fluider Ordnung und assoziativer Systematik Rechnungen, | |
| Quittungen, Fahrkarten und Kontoauszüge sowie ein Meisenknödel. Was der | |
| Meisenknödel da soll, weiß ich nicht, die Papiere liegen da, weil ich unter | |
| Abheftschwäche leide, die ich nur am schlimmen Steuertag überwinden kann. | |
| An diesem Tag loche ich alles, was sich auf dem Sofa angesammelt hat und | |
| hefte das Zeug inklusive Meisenknödel in einen Ordner mit niedlichen | |
| Katzenmotiven, weil eben diese die Sachbearbeiter des Finanzamts in | |
| versöhnliche Stimmung versetzen. Die werden sie auch brauchen, wenn sie | |
| entdecken, dass ich wieder versuche, meinen Locher als Sportgerät von der | |
| Steuer abzusetzen. Damit sie mich für leicht beschränkt halten, arbeite ich | |
| im Anschreiben mit Wachsmalstiften. | |
| Im Gegensatz zur vertikalen Kühlschrankablage ist es ein fantastisches | |
| System. Man kann zwar im Wohnzimmer nicht lüften und hat kein Sofa mehr, | |
| aber niemand muss verhungern. Der Kühlschrank meiner Freundin taugt dagegen | |
| kaum noch zur Nahrungsmittelversorgung, vielmehr hat er sich zu einer | |
| biografischen Installation ausgewachsen, zu einem Zettelkasten | |
| Schmidt’schen Ausmaßes, in dem fingerdicke Papier-Konvolute von winzigen | |
| Marienkäfermagneten in prekärer Ordnung gehalten werden. Ich brauche das | |
| Ding nur anzuschauen und schon segeln erste Zettelchen zu Boden, worauf ein | |
| Zahnarzttermin oder ein politisch sensibler Geburtstag verschwitzt wird und | |
| der Haussegen so schief hängt wie jener Brief an die Krankenkasse, der über | |
| einer Sammlung Kinderbilder pappt, deren Zeichner die Volljährigkeit längst | |
| erreicht haben dürften. | |
| Das aber wollte meine Freundin nicht einsehen. „Geht doch prima!“, sprach | |
| sie und klappte den Kühlschrank mehrfach auf zu, ohne dass ein einziges | |
| Blättchen fiel. Im Kampf der Systeme wagte ich das Äußerste. Ich zog selbst | |
| am Türgriff. Erst einmal tat sich gar nichts und meine Freundin | |
| triumphierte. Dann aber löste sich mit sattem Schmatzen die Gummidichtung. | |
| Vom Rückstoß befeuert, klackerten sämtliche Magneten zu Boden und die | |
| Blätter fielen, denn es war unversehens Herbst geworden. | |
| Als Vergeltung exekutierte meine Freundin ein völlig neues Ablagesystem an | |
| meinen Papieren. Es basierte auf einer chemischen Oxidationsreaktion mit | |
| Flammenerscheinung. Der schlimme Steuertag fällt in diesem Jahr also aus, | |
| ich bin sicher, das Finanzamt hat Verständnis. | |
| 29 Oct 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Bartel | |
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