# taz.de -- Demütigung und Ermächtigung in Games: Granaten aus Exkrementen | |
> Lange waren Videospiele vor allem eine große Ermächtigungsfantasie. Doch | |
> Spiele wie „Death Stranding“ machen nun das Gegenteil. | |
Bild: Das Baby als Last und Lebensretter – Szenenbild aus „Death Stranding�… | |
Wenn die Spieler*innen in [1][„Death Stranding“] duschen gehen oder die | |
Toilette besuchen, hat das einen Zweck. Es geht nicht nur um die Säuberung | |
oder Entleerung des virtuellen Körpers. Aus ihrem Schmutz und ihren | |
Exkrementen werden in dem Spiel Granaten hergestellt. Ja, die Spieler*innen | |
werfen ihren eigenen Kot auf übernatürliche Gegner*innen. Das hat nichts | |
Ermächtigendes, gibt kein Gefühl der Allmacht – es demütigt. Ein Gefühl, | |
das in Videospielen lange Zeit keine Rolle spielte. | |
Videospiele dienen noch immer zu großen Teilen der Selbstermächtigung. Die | |
Protagonist*innen sind Powerfantasien. Sie strotzen vor Kraft, sind | |
unbeirrbar. Mit der Waffe in der Hand wird jeder Zweifel ausgelöscht, das | |
Ziel ist immer vor Augen, die Stringenz der Spielwelt läuft auf die | |
Spieler*innen zusammen, die vor dem Bildschirm sitzen und den Controller in | |
der Hand haben. | |
Freilich liegt das nahe, sind viele Spiele doch darauf ausgelegt, dass sie | |
gewonnen oder gelöst werden können. Sie haben also einen Endpunkt, der | |
oftmals schon vor Beginn des Spiels klar ist. Doch machen es viele Spiele | |
den Gamer*innen auch während des Spielens sehr leicht. Ihre Rolle wird | |
niemals infrage gestellt, sie sind der Nabel dieser virtuellen Welt, die | |
nur auf ihren Knopfdruck wartet. | |
Langsam aber bröckelt die Fassade des unbeirrbaren Protagonisten. Sicher, | |
Ansätze zu einem Paradigmenwechsel gibt es schon lange. Momente etwa, in | |
denen Spieler*innen zum Zweifeln gebracht werden. Doch ist die Demütigung, | |
im Sinne von Demut bringend, ein Ansatz, der gerade in den | |
Blockbusterspielen kaum einen Raum bekam. In „Death Stranding“ aber schon. | |
## Selbstbildnis als Laufbursche | |
Hauptsächlich müssen die Gamer*innen in diesem Spiel laufen. Das ist | |
freilich nichts Besonderes, ist das Laufen – das Erreichen eines Ziels – | |
doch wichtiger Bestandteil vieler Videospiele. Sie sind Teil der | |
traditionellen Staffage der Spielwelten. Kilometer werden rennend | |
überwunden, Flüsse, Berge, Schluchten – alles keine Herausforderungen. Der | |
Weg ist die zu erbringende Leistung, um das Ziel eines Videospiels | |
erreichen zu können. „Death Stranding“ jedoch dreht dieses Verhältnis um. | |
Das Laufen ist hier der eigentliche Spielinhalt. Denn heruntergebrochen | |
sind die Spieler*innen hier vor allem mit Botengängen beschäftigt. Sie | |
liefern Waren aus. | |
Das wird aufgeladen mit einer metaphysischen Geschichte über die | |
Wiedervernetzung der USA, das Zusammenfügen versprengter Einzelteile. Doch | |
auf dem Weg dorthin müssen die Spieler*innen vor allem darauf achten, nicht | |
zu stolpern. Tatsächlich besteht ein großer Teil der Spielmechanik daraus, | |
das Gleichgewicht zu halten, die Ware auf dem Rücken nicht zu beschädigen. | |
Dabei trägt der Protagonist des Spiels, Sam Porter Bridges, gespielt von | |
Norman Reedus, zusätzlich ein Baby in einer Art Brutkasten auf der Brust, | |
das er immer wieder beruhigen muss. Denn dieses Baby ist der eigentliche | |
Schutz in der Dunkelheit. In der Welt von „Death Stranding“ ist das | |
Jenseits mit seinen dunklen Gestalten überall. Und der Schrei eines Babys | |
ist ein wichtiger Weckruf. | |
Kurzum, die Spieler*innen haben hier keine Grundlage, um sich ermächtigt zu | |
fühlen. Weder ist ihre grundlegende Aufgabe die eines Helden, noch macht | |
sie ein Baby auf der Brust zu einem waghalsigen Killer. Jedoch muss „Death | |
Stranding“ nun zum Ende des Jahres wieder mit Spielen konkurrieren, die | |
genau diesen Ansatz haben. In „Ghost Recon: Breakpoint“ etwa, in dem die | |
Spieler*innen einen Soldaten oder eine Soldatin spielen, die auf einer | |
fiktiven Insel mit allerlei realistischen Waffen auf „böse“ Soldaten | |
schießen und sich dabei eigentlich nie in ihrer Rolle unwohl fühlen müssen. | |
Ebenso ein „Call of Duty: Modern Warfare“, das sich zwar als | |
Antikriegsspiel verstehen mag, aber die Spieler*innen nie daran zweifeln | |
lässt, was sie zu tun haben – und zu welchem Zweck. Ihre Rolle ist immer | |
klar. | |
## Gaming in Grabenkämpfen | |
[2][Der Begriff „Gamer“ ist stark konnotiert]. Er wird oft benutzt von | |
Menschen, die ihr Hobby als genau das sehen: ihr Hobby – ihr Hobby allein. | |
Es ist eine Identifikation, die oft begleitet wird von Abwehrkämpfen. Der | |
Abwehr dessen, was als störend empfunden wird. Etwa diversere Charaktere | |
und Geschichten in Videospielen. Oder aber auch die Ablehnung politischer | |
Diskurse, die in „ihren Spielen“ nichts zu suchen hätten. Viele | |
Gamer-Communitys haben Probleme mit toxischem Verhalten, dem Ausgrenzen | |
sogenannter Minderheiten. Sicherlich handelt es sich um eine Subkultur – | |
aber eine besonders laute. Es ist ein interessantes Gedankenspiel, ob nicht | |
das Medium selbst, also die Videospiele, der richtige Raum wären, um diese | |
Gamer-Identität zu dekonstruieren. | |
Wie so oft sind es die Indie-Entwickler*innen, die diese Ideen ins Spiel | |
bringen. Also jene Studios, die kein Millionenbudget im Rücken haben, keine | |
großen Firmen, die sich vor allem darum bemühen, die Spiele gut zu | |
verkaufen. So ist kürzlich etwa „Disco Elysium“ erschienen. Die größte | |
Herausforderung des Rollenspiels dürfte die Unmenge an zu lesendem Text | |
sein. Ebenso steuern die Spieler einen Polizisten, der Alkoholiker ist und | |
dessen Gehirn sich in langen Monologen – oder doch Dialogen? – mit ihm | |
unterhält. Sie begegnen unzähligen schrulligen Charakteren, mit denen sie | |
sich etwa über Kommunismus oder krude Rassentheorie austauschen. Und wenn | |
sie ihren Charakter aufleveln, wie es typisch in einem Rollenspiel ist, | |
sollten sie darauf achten, dass er keine selbstzerstörerischen | |
Eigenschaften entwickelt. Das kann ganz schön demütigend sein. Doch wird | |
das Spiel gerade als der Überraschungshit des Jahres gefeiert. | |
Bereits 2017 erschien „What Remains of Edith Finch“, in dem die | |
Spieler*innen in kurzen Episoden die letzten Stunden oder Tage des | |
Lebens von Familienangehörigen der Protagonistin durchleben. Es ist ein | |
schönes, aber auch verstörendes Spiel. Eines, das offen verhandelt, wie | |
wenig Macht die Spieler*innen haben. Egal womit eine Episode auch beginnen | |
mag, es ist immer klar, dass sie im Tod endet. Sei es mit dem Kind auf | |
einer Schaukel, das in einen Abgrund stürzt oder dem depressiven Jungen, | |
der in einer Fischfabrik arbeitet und schließlich selbst von den Maschinen | |
zermalmt wird. „What Remains of Edith Finch“ demütigt die Gamer, indem es | |
ihnen klarmacht, dass sie nicht gewinnen können. Es tut dies auf eine | |
geradezu poetische Art, es lässt das Videospiel zu einer Kunstform werden, | |
zu einem Erlebnis, das nur dieses Medium bieten kann. Aber doch gibt es den | |
Spieler*innen keine Übermacht.Im Gegenteil, es macht sie ganz klein. | |
Es ist eine Erzählart, die erst am Beginn ihrer Ausdifferenzierung steht: | |
Videospiele, die Zweifel säen, die Gamern in den Rücken fallen, statt sie | |
zu stärken. In erster Linie handelt es sich um eine Verhandlung von Potenz | |
und Impotenz. Es werden Räume eröffnet, die den Spieler*innen Unbehagen | |
bereiten können. Daraus können dann neue Spielmechaniken hervorgehen, die | |
außerhalb der Selbstermächtigung stehen und nicht nur Powerfantasien | |
reproduzieren. Die Demütigung der Gamer könnte aber auch einer Subkultur | |
guttun, deren gefühlte Superiorität auch auf die Narration der | |
Nichthinterfragbarkeit und Selbstsicherheit basiert. Denn in der | |
Konstruktion des Gamers treffen sich genau diese Diskurse – Superiorität | |
und Selbstsicherheit. | |
Wenn die Spieler*innen in „Death Stranding“ durch die Spielwelt laufen, mit | |
schwerer Ladung auf dem Rücken, können sie dem Protagonisten Sam Porter | |
Bridges bei Selbstgesprächen zuhören. Manchmal fragt er sich selbst und | |
damit auch die Spieler*innen, wie es ihm eigentlich geht: „How are you, | |
Sam?“ Das Schöne: Weder er noch die Spieler*innen wissen es wirklich. | |
11 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=W-hyFSivSmw | |
[2] /Sexismus-bei-Computerspielern/!5582240 | |
## AUTOREN | |
Matthias Kreienbrink | |
## TAGS | |
Games | |
Toxische Männlichkeit | |
Rollenspiele | |
Videospiele | |
Games | |
Computer | |
Videospiele | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nostalgie für digitale Rollenspiele: Zu viele Pixel verderben die Fantasie | |
Mit ihren komplexen Narrativen haben Rollenspiele wie „Final Fantasy“ die | |
Gamingwelt der 90er revolutioniert – ein nostalgischer Streifzug. | |
Videospiele der Zukunft: Die neuen Spielwelten | |
2020 erscheinen die neue Xbox und die neue PlayStation. Eine Gelegenheit, | |
Games von Konventionen zu befreien, die sie einschränken. | |
Spieleentwickler über Rechtsextremismus: „Weniger über Überwachung reden“ | |
Jörg Friedrich ist Entwickler eines antifaschistischen Videospiels. Er | |
sagt: Rechtsextremismus ist nichts Gaming-Spezifisches, sondern Teil der | |
Netzkultur. | |
Großes E-Sport-Event in Berlin: Spannender als Fußball | |
Tausende schauen Gamern in der Mercedes-Benz-Arena zu. An den Wänden hängen | |
Flammenwerfer – das ist spannend und bisher sehr männlich. | |
Videospielmesse E3 in Los Angeles: Hallelujah heißt hier Yeeeaaaaaah | |
Bei der E3 geht es um Games – und um die Konstruktion eines Konsumenten, | |
der alles abfeiert. Zum Glück ist da noch ein Hai mit Mission. |