| # taz.de -- Videospiele der Zukunft: Die neuen Spielwelten | |
| > 2020 erscheinen die neue Xbox und die neue PlayStation. Eine Gelegenheit, | |
| > Games von Konventionen zu befreien, die sie einschränken. | |
| Bild: Bei „Concrete Genius“ wird die Spielewelt selbst gemalt. | |
| Im Anfang ist alles grau in dem Städtchen, das einst ein florierender Ort | |
| war. Doch dann nehmen die Spieler*innen das Gamepad in die Hand, schwingen | |
| es hin und her, malen auf diese Weise Blumen, Sterne, Bäume – und Monster, | |
| die sie dann zum Leben erwecken. Hilfreiche Wesen, die ihnen auf ihrer | |
| Reise helfen. Doch nichts davon passiert ohne die Bewegung des Gamepads. | |
| Ohne die Spieler*innen bleibt alles grau. | |
| Seit über 40 Jahren gibt es [1][Videospiele]. In dieser Zeit haben sich | |
| Konventionen gebildet, die kaum noch von Spielen durchbrochen werden. | |
| Offene Spielwelten (das heißt: keine Level), viele Waffen, Helden, | |
| Zwischensequenzen, Erfolge, Trophäen – und irgendwo dazwischen eine | |
| Geschichte. So sehen die meisten modernen Videospiele aus. Und oft scheint | |
| es, als hätten sie sich den Hollywood-Film so sehr zum Vorbild genommen, | |
| dass ihnen gerade das Element unwichtig geworden ist, das sie eigentlich | |
| von anderen Medien abhebt: das interaktive. | |
| Es sind dagegen oft die kleineren Spiele, die tatsächlich mit den Mitteln | |
| des Spiels erzählen. Die Welten erlebbar machen, wie es nur Videospiele | |
| können. Und gerade jetzt, kurz vor dem Beginn einer neuen | |
| Konsolen-Generation, sind diese Spiele wichtiger denn je. Denn sie können | |
| aufzeigen, welches Potenzial weiterhin in diesem Medium steckt. | |
| 2019 war etwa „Concrete Genie“ so ein Spiel. Hier steuern die | |
| Spieler*innen einen Jungen, der gemobbt wird. Er zieht sich zurück in seine | |
| eigene, gemalte Welt, in der er das wiedererlangt, was die Realität ihm | |
| genommen hat: seine spielerische Lebendigkeit. Durch ihn malen die | |
| Spieler*innen Hauswände an, erwecken freundliche Monster zum Leben, | |
| erkunden eine zerfallene Stadt. Und das alles auf eine Art, wie es nur ein | |
| Videospiel könnte: Denn jede Wand wird von jeder Spielerin anders angemalt. | |
| Die Monster sehen jedes Mal anders aus. Jede wird das Gamepad anders | |
| schwingen – und somit den Pinsel. | |
| ## Verwirrspiel mit unseren Erwartungen | |
| „Sayonara Wild Hearts“ lässt die Spieler*innen derweil von einem Genre zum | |
| nächsten springen. Hier gilt es, im Takt der Musik die richtigen Aktionen | |
| zu schaffen. Dabei vereint das Spiel Rennspiel, Kampfspiel und | |
| Rhythmusspiel. Mal fliegen die Spieler*innen durch die Luft, sammeln Punkte | |
| ein. Dann sitzen sie auf einem Motorrad und versuchen, Hindernissen | |
| auszuweichen. Und am Ende des Levels finden sie sich plötzlich im Zweikampf | |
| der nicht nur unglaublich stylisch inszeniert ist, sondern ebenso verlangt, | |
| dass weiterhin auf die Musik geachtet wird – jeder Schlag zum Takt des | |
| Liedes. „Sayonara Wild Hearts“ ist wie ein Fiebertraum, ein Verwirrspiel, | |
| in dem die Spieler*innen sich nie sicher sein können, was als Nächstes | |
| passiert. Es springt von Spielmechanik zu Spielmechanik, wandelt sich | |
| durchgehend. Und das alles, während ein fantastischer Soundtrack spielt. | |
| Ähnliche Verwirrung dürfte bei den Spieler*innen geherrscht haben, die | |
| [2][„Death Stranding“] gespielt haben, das Ende 2019 erschienen ist. | |
| Zunächst mag es bloß wie die Anhäufung bekannter Strategien und Strukturen | |
| von Videospielen wirken. Die Spieler*innen stapfen durch eine trostlose | |
| offene Spielewelt. Sie werden immer wieder durch filmische | |
| Zwischensequenzen aus dem Spiel gerissen. Erleben eine Geschichte, die vor | |
| allem dann erzählt wird, wenn das Spiel gerade pausiert. Und natürlich geht | |
| es um die Rettung der Welt, die heimgesucht wurde von schrecklichen | |
| Kreaturen. | |
| Doch unter der Oberfläche des Herkömmlichen macht „Death Stranding“ doch | |
| etwas Besonderes: Es demütigt die Spieler*innen, lässt sie Pakete | |
| ausliefern, wobei ihre größte Aufgabe ist, beim Laufen nicht zu stürzen. | |
| Wollen sie weiterkommen, müssen sie sich dem beugen, was das Spiel von | |
| ihnen will: noch mehr Waren ausliefern. Sie sind keine Held*innen, nicht | |
| der Nabel der Welt. Vielmehr könnte ihre Aufgabe auch automatisiert durch | |
| Liefer-Roboter erledigt werden. Damit geht das Spiel einen womöglich | |
| wegweisenden Schritt. Den Spieler*innen die Allmacht nehmen – das ist schon | |
| fast unerhört. | |
| Zuletzt hat sich dann noch „What Remains of Edith Finch“ zurück ins | |
| Spielejahr geschlichen, als Portierung für die Nintendo Switch. Erstmals | |
| erschienen ist es 2017. Und noch heute zeigt dieses Spiel, wie Geschichten | |
| durch Videospiele erzählt werden können – indem man sie erfahrbar macht. | |
| Etwa wenn sich der Bildschirm zweiteilt und die Spieler*innen auf der einen | |
| Seite einen Jungen in einer Fischfabrik steuern; Fisch nach Fisch wird der | |
| Kopf abgeschlagen. Auf der anderen Seite jedoch steuern sie denselben | |
| Jungen durch seine Traumwelt; prunkvolle Königreiche, das Leben schillert. | |
| Das Zwiegespaltene, die Flucht aus der Monotonie – das alles wird auf die | |
| Spieler*innen verlegt, sie spüren sie am eigenen Körper, indem sie | |
| versuchen, dieses Leben und die Flucht aus ihm zu steuern. | |
| ## Rechenpower für Innovation | |
| Diese Spiele bieten Erfahrungen, wie sie nur Videospiele bieten können. Sie | |
| geben Hinweise, welches Potenzial das Medium noch ausschöpfen könnte. Ende | |
| 2020 werden die neue Xbox und PlayStation erscheinen – und verbesserte | |
| Grafiken ermöglichen. Mehr Rechenstärke, mehr Streaming-Möglichkeiten. | |
| Alles etwas besser. Das könnte auch die Gelegenheit sein, Videospiele von | |
| den Konventionen zu befreien, die sie gegenwärtig einschränken. Anstatt die | |
| Rechenpower nutzen, um Waffen noch realistischer aussehen zu lassen, könnte | |
| man das Interaktive im Spiel stärken. | |
| Eines der ersten Games für die neue Xbox wird wohl ein zweiter Teil von | |
| [3][„Hellblade: Senua’s Sacrifice“] sein, ein Spiel, das der Protagonistin | |
| starke Selbstzweifel einschreibt – und damit auch den Spieler*innen. Es | |
| geht um die Stimmen im Kopf von Senua, um ihre Depression. Reale psychische | |
| Probleme werden in ein fantastisches Setting übertragen. Die größte | |
| Herausforderung für die Spieler*innen waren dabei nicht die vielen Monster, | |
| sondern die Stimmen im Kopf. Und genau da liegt auch das wahre Potenzial | |
| von Videospielen, das die Entwickler*innen in diesem Jahr wiederentdecken | |
| sollten. Es liegt in den Köpfen der Spieler*innen. Und da, wo sie die | |
| Spielwelten selbst verändern. | |
| 3 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Matthias Kreienbrink | |
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