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# taz.de -- Paolo Pellegrin-Ausstellung in Hamburg: Die Welt als Krise und Vors…
> Das Hamburger Haus der Photographie zeigt die Bilder des Fotoreporters
> Paolo Pellegrin. Das Problem: Den Bildern fehlt eine zweite Bedeutung.
Bild: Blick auf die japanische Küste nach dem Erdbeben im März 2011
Hamburg taz | Eine junge Frau mit gelangweiltem Blick, Basecap, Sweatpants,
Smartphone im Bustier. Eine Berglandschaft, majestätisch und menschenleer.
Ein im Gebet versunkener Mann. Nirgendwo sieht Krise so ästhetisch aus wie
bei Paolo Pellegrin: Unschärfen, gekippte Horizonte, Spiel mit Schatten
lassen seine Bilder wie ikonographische Filmstills erscheinen.
Aber man sollte der Schönheit, die einen bei der Werkschau „Un’Antologia“
im Hamburger Haus der Photographie anspringt, nicht auf den Leim gehen –
das Mädchen gehört zu einer weitverzweigten Roma-Familie bosnischer
Herkunft, die seit Jahrzehnten bitterarm in Rom lebt. Die Berge zeigen eine
Region an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, eines der härtesten
Grenzregimes der Welt, in denen sich der globale Norden gegen den Süden
abschottet. Und der Betende ist ein ägyptischer Salafist, der nachts betet,
weil er glaubt, dass ihn das den Geistern seiner Vorfahren nahebringt.
Paolo Pellegrin, geboren 1964 in Rom, ist einer der aktuell bekanntesten
Fotojournalisten. Bekommen hat er unter anderem den Deutschen Fotobuchpreis
2008, den Robert Capa Gold Medal Awards 2007 und zehn World Press Photo
Awards. Wobei Kurator Ingo Taubhorn hier bewusst eine Differenzierung
vornimmt: Pellegrin ist für ihn weniger ein Journalist als ein
Fotoreporter, ihm geht es nicht um den schnellen Newswert, sondern um eine
langsame, tiefergehende Abbildung des Geschehens.
Zwar reist der Fotograf um die Welt, Gaza, Nigeria, Mexiko, aber was er in
den globalen Krisenherden fotografiert, sind nicht die Konflikte, sondern
die Nachwirkungen dieser Konflikte, das Misstrauen, das sich in die
Gesichter der Gefangenen im kambodschanischen Gefängnis eingeschrieben hat,
die Narben, die israelische Angriffe auf palästinensischen Körpern während
der Operation Gegossenes Blei hinterlassen haben. Oder die sich
verändernden Strukturen der Eisoberfläche in der Antarktis. Klimawandel,
Gazakrieg, Migration, es ist alles eins, eine Welt im Krisenmodus.
So kunstvoll die Bilder arrangiert sind, so sehr sie sich der einfachen
Konsumierbarkeit entziehen – auch Pellegrin kann nicht immer dem Problem
des Fotojournalismus entkommen, dass der Betrachter sieht, was er sehen
will. Die 2012/13 entstandene Fotoreportage aus der US-Industriestadt
Rochester etwa zeigt Kriminalität, Armut, zerfallende Infrastruktur; das
ist genau das, was man erwartet angesichts einer vom Strukturwandel
belasteten Kommune im Rust Belt der nordwestlichen USA, und wahrscheinlich
ist es auch weitgehend korrekt.
Es ist allerdings kein Hinterfragen der Seherwartung, es wird nicht einmal
angedeutet, dass es hinter den Bildern der verrottenden Industrie noch eine
zweite Bedeutung geben könnte. Ingo Taubhorn ordnet Pellegrin ein in eine
Reihe von Ausstellungen am Haus, bei Michael Wolf und Lauren Greenfield.
Aber wo deren künstlerische Standpunkte immer auch das eigene Medium in
seiner Künstlichkeit hinterfragten, scheint solch eine Ebene hier zu
fehlen: Pellegrin glaubt tatsächlich, die Welt durch seine subjektive
Kamera abzubilden. Im Grunde behauptet jede Aufnahme der Ausstellung eine
Wahrheit, die doch nur eine Bestätigung der eigenen Vorstellung darstellt.
Die tatsächlich spektakuläre Ausstellungsarchitektur im Haus der
Photographie bestärkt diese Tendenz ebenso wie sie sie problematisiert: In
einem äußeren Rundgang sieht man nach Themengruppen geordnete Aufnahmen,
Bilder, wie man sie von Pellegrin kennt, auf dunklem Hintergrund: ein
Triptychon dreier Gefangener in der kurdischen Stadt Kalar.
Karteikarten mit Kurzbiografien palästinensischer Opfer der israelischen
Angriffe auf den Gazastreifen. Gebirge und Wüsten an der mexikanischen
Nordgrenze, abwechselnd mit kleinformatigen Aufnahmen aus Tijuana,
Sexarbeit, Wrestling, Religion. Das ist so originell wie abwechslungsreich
gehängt und nutzt die riesigen Möglichkeiten der südlichen Deichtorhalle
aus. Fototapeten schaffen eine weitere Bildebene, der Verzicht auf
Bildunterschriften (die durch ein umfangreiches Begleitheft nachgeliefert
werden) sorgt für eine Konzentration auf das reine Foto. Eindrucksvoll.
Aber auch erwartbar.
Das Zentrum der Halle aber ist in strahlendem Weiß gehalten, in der Mitte
des Raumes erhebt sich ein Splitter, auf den ein Video projiziert wird,
flatternde Vogelschwärme, bedrohlich, kaum fassbar. Kurator Taubhorn
spricht hier von einem „Eisberg“, was stimmig ist: In diesem Raum sind
Bilder aus der Antarktis zu sehen, Bilder vom Whiteout – jenem Phänomen,
das bei schneebedecktem Boden und gedämpftem Sonnenlicht den Horizont
verschwinden lässt.
Hier verlässt die Ausstellung die souveräne Position des Fotoreporters,
wird selbst krisenanfällig, in einer überbordenden Präsentation von Fotos,
Skizzen, Flyern, Zeitungsausschnitten. Der „Eisberg“ ist ein Einblick in
einen Künstlerkopf, der die immer drängenderen Eindrücke kaum noch zu
verarbeiten weiß und der sich angesichts dieser Welt in Unordnung
verzweifelt eine künstliche Ordnung konstruiert. Und zwar in einer Reihung
von Postkarten, die kaum erträgliche Kriegsszenen zeigen: Ruinen, Wracks,
Waffen. Leichenteile.
Moralisch geht dieser zentrale Raum an Grenzen. Aber wenn die äußere Runde
eine Spielart der Fotoreportage zeigt, die in ihrer handwerklichen
Genauigkeit, in ihrer Originalität und ihrem altmeisterlich anmutenden
Spiel mit Formen künstlerische Strategien übernimmt, dann geht der
„Eisberg“ einen Schritt weiter. Er ist in dieser Vorstellung tatsächlich:
Kunst. Kunst, die schmerzhafter ist, als es die genaue, kluge, spektakuläre
Präsentation von Erwartbarem sein kann.
5 Nov 2019
## AUTOREN
Falk Schreiber
## TAGS
zeitgenössische Fotografie
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