| # taz.de -- Die Ausstellung „Continente Sicilia“: Versteinerte Gesichter | |
| > Der Fotograf Franco Zecchin war Zeuge des Mafiakrieges. Seine Ausstellung | |
| > in Palermo konfrontiert die Stadt mit ihren bleiernen Jahren. | |
| Bild: Ausschnitt aus: Franco Zecchin, Catoio, Quartiere Kalsa, Palermo 1981 | |
| Am Anfang steht ein Kuss. Der Fotograf Franco Zecchin hat ihn 1978 an einem | |
| Sonntag vor einer Kirche am Stadtrand von Palermo beobachtet. Dass ein Mann | |
| einen anderen Mann auf die Wange küsst, ist in Sizilien ein | |
| weitverbreiteter Brauch, aber auch ein Ritual der Cosa Nostra, Ausdruck | |
| eines Einverständnisses, das keiner formalen Vereinbarung bedarf. Die | |
| Identität der zwielichtigen Herren ist offen, aber wie sie sich gerieren, | |
| erscheinen sie als Exponenten einer Gesellschaft, die nicht eindeutig auf | |
| Distanz zur Mafia geht und wenig Skrupel hat, sich mit ihr zu arrangieren. | |
| Gleich das erste Bild der Ausstellung „Continente Sicilia“, die das Centro | |
| Internazionale di Fotografia in Palermo von Franco Zecchin zeigt, führt in | |
| jene Grauzone, in der, begünstigt von korrupten Politikern und Behörden, | |
| die Grenzen der Legalität verschoben und missachtet werden. Von 1974 bis | |
| 1993 hat der 1953 in Mailand geborene Zecchin an der Seite von Letizia | |
| Battaglia für die linke Tageszeitung L’Ora in Palermo gearbeitet: Während | |
| der „anni di piombo“, der bleiernen Jahre, in denen die Corleoneser den | |
| etablierten Clans die Vorherrschaft streitig machten und sich an die Spitze | |
| der Cosa Nostra kämpften. | |
| Allein in Palermo wurden 1982 hundert Morde begangen, 1986 begann der | |
| Maxi-Prozess, der 474 Verdächtige vor Gericht brachte und mit einem | |
| Rachefeldzug gegen den Staat beantwortet wurde, der 1992 in den Attentaten | |
| auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino gipfelte. | |
| Fotojournalismus für L’Ora, die als erste Zeitung über die Mafia zu | |
| berichten wagte und, bis sie 1992 eingestellt wurde, mit einer Auflage von | |
| höchstens zwanzigtausend Exemplaren das intellektuell tonangebende Blatt | |
| war, umfasste die ganze Lebenswirklichkeit der größten Mittelmeerinsel: Die | |
| soziale Situation in den Städten und auf dem Land, armselige Wohnlöcher und | |
| Schwarzbau-Ruinen, debattierende Politiker, spielende Kinder und dekadente | |
| Aristokraten, Karneval, Feste und die Prozessionen der Karwoche, archaische | |
| Traditionen und Reformbestrebungen. | |
| ## Die erste Zeitung, die über die Mafia zu berichten wagte | |
| Wie beherrschend die Frevel der Mafia waren, belegt die Auswahl der knapp | |
| einhundert Bilder in Schwarz-Weiß. Oft waren die Reporter von L’Ora, die | |
| den Polizeifunk abhörten, als Erste am Tatort: Die Morde an Politikern, | |
| Richtern und Staatsanwälten, an Geschäftsleuten wie auch an Bossen, Rivalen | |
| und Abtrünnigen, die in ihren Autos von Kugeln durchsiebt wurden, | |
| Bombenexplosionen, die Hausfassaden aufsprengten und Straßen in | |
| Schlachtfelder verwandelten, stürzten die Bürger in lähmendes Entsetzen. | |
| Auch nach dem „Massaker von Capaci“, das Falcone, seine Frau und drei | |
| Leibwächter auslöschte und einen Krater in die Autobahn riss, war Zecchin | |
| zur Stelle, und der Horror des Anschlags auf Borsellino klingt in dem Foto | |
| einer Blut spuckenden Katze nach, die schreiend in einem Meer von Splittern | |
| und Scherben steht. | |
| Verbrechen von bestialischer Brutalität und schockierender Grausamkeit. | |
| Zecchin nähert sich ihnen geradezu diskret, mit einem offenen, nüchternen | |
| Blick, der harte Kontraste setzt, überraschende Ausschnitte wählt und | |
| ungewöhnliche Perspektiven einnimmt, sich Sentimentalität wie | |
| Skandalisierung verbietet. | |
| Die versteinerten Gesichter der Umstehenden erzählen von Ohnmacht und | |
| Trauer, die Angeklagten im Gerichtssaal protzen mit Hochmut und Verachtung. | |
| Die Beerdigungen geraten zu stummen Demonstrationen: Als Piersanti | |
| Mattarella, der Präsident der Region Sizilien (und Bruder des heutigen | |
| Staatspräsidenten), 1980 zu Grabe getragen wird, bekundet der | |
| Menschenauflauf ein Zusammenstehen der Rechtschaffenen gegen den Terror. | |
| ## Diskreter, aber offener, nüchterner Blick | |
| Zecchin ist mehr als „nur“ Chronist, immer wieder gelingen ihm | |
| Kompositionen von symbolischer Kraft. Das Foto vom Mord an dem Gärtner | |
| Benedetto Grado 1983 ist ein herausragendes Beispiel: Hinter dem von einem | |
| Laken bedeckten Leichnam, aus dem Blut fließt, tragen drei Frauen schon | |
| schwarz, rechts sitzt die Witwe des Opfers, links kniet die eine und | |
| dazwischen steht die andere Tochter, deren Gesicht die Pfütze im | |
| Vordergrund spiegelt. Doch nicht in Wasser erscheint ihr Porträt, sondern | |
| in Blut. | |
| Auf den Titel „Continente Sicilia“ hat Zecchin ein Briefkasten der Post | |
| gebracht, der ihm in Messina auffiel: Über dem einen Schlitz stand | |
| „Continente“, über dem anderen „Sicilia“. Eine Opposition, die der Fot… | |
| auch als Apposition lesen lässt: Sizilien, ein Kontinent für sich. Trotz | |
| der vielen Gewaltszenen entsteht kein einseitig negatives Bild, denn die | |
| Insel wird auch als Ort des Widerstands gegen die Mafia, in dem die | |
| L’Ora-Fotografen mit Ausstellungen auf öffentlichen Plätzen eine aktive, | |
| wegweisende Rolle spielten, der Antipsychiatrie und des freien Theaters, | |
| der Studentenproteste und Demonstrationen gegen amerikanische | |
| Marschflugkörper in Comiso gezeigt. | |
| Die Schau konfrontiert die Stadtgesellschaft mit einer Vergangenheit, die | |
| lange verdrängt wurde und jetzt, gerade auch die nächste Generation, zur | |
| Auseinandersetzung herausfordert: Der historische Abstand lässt den | |
| kulturellen Aufschwung hervortreten, den Palermo seit gut einem Jahrzehnt | |
| erlebt. | |
| Franco Zecchin ist 1994 nach Paris gezogen. Mit Josef Koudelka, den er als | |
| seinen Mentor ansieht und auf Sizilien oft begleitet hat, war er in ganz | |
| Europa unterwegs. Seit 2006 lebt er in Marseille, wo er an der École des | |
| hautes études en sciences sociales unterrichtet. | |
| Auf die Entwicklung angesprochen, die Palermo genommen hat, erinnert er | |
| daran, dass es damals keine Bar und kein Restaurant gewagt hätte, Tische | |
| ins Freie zu stellen, wie das heute überall in der Stadt geschehe, | |
| Anschauung dafür, wie sehr das öffentliche Leben an Vielfalt, Sicherheit | |
| und Leichtigkeit gewonnen habe. Verschwunden sei die Mafia nicht. Aber | |
| nicht mehr so sicht- und fotografierbar. | |
| 10 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Rossmann | |
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