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# taz.de -- Ausländer in der DDR: Ohne Mauer nicht grenzenlos
> Nicht einfach rauskönnen und die Angst vor dem Rauswurf: Migranten in der
> DDR nach dem Mauerfall am 9. November 1989.
Bild: Flucht geglückt: drei Vietnamesen schauen in Berlin 1990 noch mal zurüc…
Es war vermutlich der 11. November 1989, aber auf den Tag will sich Long
Nguyen (Name geändert), damals vietnamesischer Student in Berlin, nicht
genau festlegen. Er hatte in seinem Zimmer im Studentenwohnheim ausgiebig
gefrühstückt und dabei mit einem Kommilitonen und Bewohner eines
Nachbarzimmers ein Referat vorbereitet. Nach ein paar Stunden wollte der
Kommilitone, ein Student aus Nordkorea, in sein Zimmer zurück. Es war leer.
Während die beiden Studenten gefrühstückt und gelernt hatten, hatte die
nordkoreanische Botschaft gemeinsam mit einer DDR-Behörde alle
nordkoreanischen Studenten abholen lassen und sie nach Fernost
zurückgeschickt. Die DDR ohne Mauer war vermutlich kein Land mehr, in dem
Pjöngjang seine zukünftige Elite ausgebildet haben wollte. Wissenschaftlich
aufbereitet sei der Vorgang allerdings nicht, sagt der auf DDR-Migration
spezialisierte Historiker Patrice Poutrus der taz.
Was aus dem Nordkoreaner geworden ist, weiß Long Nguyen nicht. „Irgendwann
war er weg. Ich habe ihn aus den Augen verloren.“ Aber für ihn war das
Erlebnis schicksalhaft: „Seitdem hatte ich Angst, dass wir Vietnamesen auch
zurück müssen“, sagt er.
## Gut ein Prozent
Die 380.000 sowjetischen Soldaten nicht mitgerechnet, die nicht zur
DDR-Wohnbevölkerung gezählt wurden, lebten Ende 1989 insgesamt 192.000
Ausländer in der DDR – gut 1 Prozent der Bevölkerung. 90.000 von ihnen
waren Vertragsarbeiter, von denen wiederum 60.000 aus Vietnam kamen, die
anderen aus Angola, Mosambik und Kuba. Hinzu kamen nach amtlicher Statistik
40.000 EhepartnerInnen von DDR-Bürgern, die überwiegend aus Osteuropa
stammten, 13.000 nichtdeutsche Studenten, darüber hinaus Arbeitspendler aus
Polen und Ungarn und politische Emigranten beispielsweise aus Chile,
Griechenland, Spanien, der Türkei und dem Iran sowie Künstler wie der
serbischstämmige Schauspieler Gojko Mitić.
Während sich viele DDR-Bürger nach dem 9. November über die Reisefreiheit
und politische Veränderungen freuten, sahen viele Zuwanderer in der DDR sie
mit Ängsten. Mit Ängsten vor einer erzwungenen Rückkehr und dem Verlust des
Arbeits- und Studienplatzes. Und das nicht unbegründet.
Reisefreiheit gab es für den Studenten Long Nguyen auch erst einmal nicht:
Bis zur Währungsunion im Sommer 1990 standen die Grenztruppen an den
Grenzübergangsstellen in Berlin. Sie ließen zwar DDR-Bürger durch, nicht
aber ausländische Studenten und Vertragsarbeiter. Natürlich gab es
Situationen, wo sie mit den Kontrollen überfordert war. Während der
Silvesterfeier am Brandenburger Tor 1989/90 und mit der Demonstration am 1.
Mai 1990 schlüpften auch viele in der DDR lebende Migranten unbemerkt in
den Westteil Berlins, und an einigen neu eröffneten Grenzübergängen waren
die Grenztruppen mit den Kontrollen personell überfordert. Einige Migranten
beantragten im Westteil Berlins Asyl, andere kehrten ein paar Tage später
wieder zurück. Und als Long Nguyen im August 1990 nach Österreich fahren
wollte, erlebte er erneut die Grenzen seiner Reisefreiheit. Österreich gab
ihm kein Visum.
Wenn von DDR-Migranten und der Wendezeit die Rede ist, geht es oft um
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, um die Pogrome von Hoyerswerda 1991 und
Rostock-Lichtenhagen 1992. Rassistische Einstellungen schwelten zu
DDR-Zeiten oft unter der Decke, selten traten sie offen zutage. Das änderte
sich jetzt.
Als die Autorin dieses Artikels Anfang 1990 am Palast der Republik
vorbeilief, eskalierte davor eine Diskussion zwischen einem Chilenen, der
in der DDR im Exil lebte, und mehreren deutschen Männern. „Du hast hier gar
nichts zu melden. Die Kommunisten haben dich ins Land geholt. Jetzt haben
die Kommunisten abgedankt und du musst gehen“, waren einige Wortfetzen, die
dem Chilenen an den Kopf geschleudert wurden, bevor er die Treppe
heruntergeschubst wurde.
Ein paar Tage später hatte ich mich in eine Warteschlange um einen
Staubsauger eingereiht. Staubsauger waren Mangelware. Es entbrannte eine
Debatte, ob die hinter mir in der Reihe stehende Russin auch einen Anspruch
auf ein so seltenes Gut hätte. Einige Wartende meinten, die könne sich
ihren Staubsauger doch in Moskau kaufen oder teuer im Westen gegen
Westgeld. Andere verteidigten ihren Anspruch. Die völlig verunsicherte Frau
bekam schließlich den Staubsauger.
## Ängste vor einer Ausreise
Auch wenn die fremdenfeindlichen und rassistischen Angriffe, die viele
Zuwanderer völlig unvorbereitet trafen, Ängste auslösten, die Ängste vor
einer erzwungenen Ausreise in ihr Herkunftsland waren oft noch
existentieller. Für mosambikanische Vertragsarbeiter bedeutete das die
Reise in den Bürgerkrieg, die Einberufung in das Militär. Ihre
vietnamesischen Kollegen kehrten in ein Land zurück, das so arm war, dass
man an einer einfachen Infektion sterben konnte, weil es kaum Antibiotika
gab. Der Wirtschaftsaufschwung setzte erst später ein.
Dennoch reisten gut zwei Drittel aus. Oft organisierten die Betriebe die
Heimfahrten und suggerierten ihren ehemaligen Arbeitern, dass sie ohnehin
kein Aufenthaltsrecht hätten. Immerhin gab es 3.000 DDR-Mark
Rückkehrprämie. Kubanische Vertragsarbeiter wurden 1989/90 von Havanna
zurückgeholt, ebenso wie die nordkoreanischen Studenten im November 1989.
## Keine Mietverträge
Wer hier blieb – das waren nach Kenntnissen von Historikern etwa 16.000
vietnamesische, 2.800 mosambikanische und einige hundert angolanische
Vertragsarbeiter – gehörte oft zu den Ersten, die ihre Jobs verloren. Auch
Betriebsräte sahen es in der Wendezeit oft als sozial verträglich an, dass
die ins Land geholten Vertragsarbeiter zuerst entlassen wurden. Doch für
die war das ein noch schwerwiegenderer Einschnitt als für DDR-Bürger. Für
ihre Plätze im Wohnheim hatten sie keine Mietverträge, das Wohnen war Teil
des Arbeitsvertrages. So verloren sie mit dem Job oft auch das Obdach.
Im Einigungsvertrag wurde lediglich denjenigen Ausländern, die 1990 bereits
acht Jahre in der DDR gelebt hatten, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht
zuerkannt. Das waren die wenigsten, von den Vertragsarbeitern fast niemand.
Für sie folgten Jahre unsicherer Existenz mit kleinen Läden auf
Wochenmärkten und Tante-Emma-Läden. Erst 1997 konnte sich die
Innenministerkonferenz zu einem unbefristeten Aufenthaltsrecht für
DDR-Zuwanderer durchringen.
26 Oct 2019
## AUTOREN
Marina Mai
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30 Jahre friedliche Revolution
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