# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Portugals prekäres Wunder | |
> Dem portugiesischen Wirtschaftswachstum geht vor der Wahl am 6. Oktober | |
> die Luft aus. Die Bevölkerung leidet unter Wohnungsnot und Niedriglöhnen. | |
Bild: Verschnaufpause für den Rollkoffer: Tourist am Praça do Comércio in Li… | |
Am Morgen des 4. Juni 2019 stehen vor dem gräulichen Gebäude des | |
Ministeriums für Infrastruktur und Wohnungen in Lissabon etwa 50 | |
Demonstranten. Es sind Aktivisten der Initiative „Stop Despejos!“ (Stoppt | |
Zwangsräumungen) und einige vom Rausschmiss bedrohte Familien. Gemeinsam | |
fordern sie „Wohnraum für alle“. | |
Ein paar Tage zuvor hatten zehn Polizisten die Wohnung der 83-jährigen | |
Maria Nazaré Jorge im Stadtzentrum Lissabons geräumt. „Sie hat 40 Jahre in | |
dieser Wohnung gelebt, für 200 Euro im Monat“, berichtet Sandra P. von Stop | |
Despejos. „Der Mietvertrag lief auf ihre Tante. Als diese vor Kurzem starb, | |
hat der Vermieter die Gelegenheit genutzt, sie an die Luft zu setzen. Denn | |
die Immobilienpreise im Zentrum gehen gerade durch die Decke.“ | |
2012 änderte die Mitte-rechts-Regierung von Pedro Passos Coelho | |
(2011–2015) das Mietrecht zugunsten der Eigentümer. Fortan konnten sie bei | |
Neuvermietungen eine höhere Miete verlangen und im Sanierungsfall die | |
Mieter leichter rauswerfen. Die Staatsschuldenkrise von 2008 hatte Portugal | |
die Luft abgeschnürt, so dass das Land 2011 in die Fänge der Troika geriet | |
– eines Bündnisses aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer | |
Zentralbank (EZB) und EU-Kommission. Als Gegenleistung für ihre | |
Finanzhilfen in Höhe von 78 Milliarden Euro verlangte die Troika eine | |
Deregulierung des Immobilienmarkts und die Ausweitung des Tourismus. | |
## Steuererleichterungen für zugezogene Rentner | |
Seitdem hat sich Lissabon bemüht, seine Attraktivität für Investoren zu | |
steigern. Seit 2012 stellt die Regierung etwa sogenannte Goldene Visa aus: | |
Aufenthaltstitel für Ausländer, die Immobilien im Wert von mehr als 500 000 | |
Euro erwerben. Innerhalb von sechs Jahren flossen so 4 Milliarden Euro in | |
den Sektor. Für europäische Rentner, die nach Portugal ziehen und dort eine | |
Wohnung kaufen, gibt es den Status eines „nicht dauerhaften Wohnsitzes“ | |
(residente não habitual, RNH), der mit erheblichen Steuererleichterungen | |
verbunden ist. | |
Der Geograf Luís Mendes ergänzt: „Seit 2014 gibt es ein Gesetz zur | |
Vermietung von Ferienwohnungen, etwa über Airbnb. Vermieter können 3000 | |
Euro im Monat verdienen, wenn sie an Touristen vermieten, während sie von | |
einem Portugiesen nur 300 Euro verlangen können.“ | |
Mendes engagiert sich bei „Morar em Lisboa“ (Wohnen in Lissabon), einer | |
Plattform von 40 Vereinen für das Recht auf Wohnen. „In manchen | |
Innenstadtvierteln wird über die Hälfte aller Wohnungen per Airbnb | |
vermietet. Gleichzeitig hat die Liberalisierung des Wohnungsmarkts dazu | |
geführt, dass jeden Tag zwischen einer und drei Familien zwangsgeräumt | |
werden. Selbst die Mittelklasse hat mittlerweile Schwierigkeiten, eine | |
Wohnung zu finden!“ | |
Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Ferienwohnungen um 3000 Prozent | |
gestiegen. Seit Ende 2018 führt Lissabon die Rangliste der europäischen | |
Städte mit den meisten Airbnb-Wohnungen pro Einwohner an, noch vor | |
Barcelona und Paris. „In vier Jahren hat die linke Regierung kaum etwas | |
gegen diese Finanzialisierung des Wohnungsmarkts unternommen“, sagt Mendes; | |
also dagegen, dass der Immobilienmarkt nach der Logik des Finanzmarkts | |
funktioniert. | |
Im November 2015 war der sozialistische Premierminister António Costa | |
mit seinem Kabinett angetreten, um den von der Troika vorgeschriebenen | |
strikten Sparkurs abzumildern. Seine Minderheitsregierung wird im Parlament | |
vom Linksblock (Bloco de Esquerda, BE), der Kommunistischen Partei (PCP) | |
und den Grünen gestützt, mit denen die Sozialisten jeweils separate | |
Tolerierungsabkommen geschlossen haben; diese Konstruktion wird in Portugal | |
auch Geringonça („Klapperkiste“) genannt. | |
Die Regierung wollte die Kaufkraft wieder stärken und zugleich die | |
Staatsschulden zurückschrauben. Dazu nahm sie Pensions- und Rentenkürzungen | |
zurück und hob den Mindestlohn Jahr für Jahr von 505 Euro bei Amtsantritt | |
auf aktuell 700 Euro an. [1][Auch die soziale Mindestsicherung wurde | |
ausgeweitet.] | |
## 2017 stellte die EU das Defizitverfahren ein | |
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Im Juni 2017 stellte die EU das 2009 | |
eingeleitete Defizitverfahren gegen Portugal ein. Die Arbeitslosenquote | |
sank von 12 Prozent Ende 2015 auf aktuell 6,3 Prozent, und während das | |
öffentliche Defizit 2015 noch 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) | |
betragen hatte, rechnet die Regierung für 2019 mit einer knappen Null – das | |
erste Mal seit der Einführung der Demokratie 1974. Das Wirtschaftswachstum | |
erreichte 2017 den Rekordwert von 2,8 Prozent, den höchsten seit 17 Jahren. | |
Von der New York Times über den Figaro Économie bis zur Financial Times, | |
sie alle feierten das „portugiesische Wirtschaftswunder“. Und die | |
europäische Linke applaudierte dem ungewöhnlichen Gespann unter Costa, das | |
es schaffte, dem neoliberalen Austeritätsdogma aus Brüssel eine Absage zu | |
erteilen. | |
Ihr Erfolg verschaffte den portugiesischen Sozialisten (PS) gute | |
Wahlergebnisse bei der letzten Europawahl. Der parlamentarische | |
Staatssekretär Duarte Cordeiro freut sich über das gute Abschneiden seiner | |
Partei. In seinem eleganten Büro im Parlamentsgebäude erklärt er uns: | |
„Wenige Monate vor den im Oktober anstehenden Parlamentswahlen liegen wir | |
in den Umfragen bei 33,4 Prozent. Im Europaparlament sitzen wir jetzt mit 9 | |
statt 8 Abgeordneten. Das ist ein Zeichen der breiten Unterstützung für die | |
aktuelle Politik der PS und der Parteien, die die Regierung unterstützen.“ | |
Dennoch: Mit einer Vielzahl der neoliberalen Einschnitte, die die | |
Vorgängerregierung unternommen hatte, haben sich die Sozialisten offenbar | |
ohne große Probleme arrangiert. „Bei den Goldenen Visa und dem Status des | |
nicht dauerhaften Wohnsitzes (RNH) haben wir noch nichts unternommen“, gibt | |
Cordeiro zu. „Aber wir werden darüber nachdenken, wahrscheinlich in der | |
nächsten Legislaturperiode.“ | |
## Steuervergünstigungen für Investoren | |
Kann man dem Glauben schenken? Im Januar 2019 führte Premierminister Costa | |
für Immobiliengesellschaften ein neues Modell nach dem Vorbild der Real | |
Estate Investment Trusts ein. Anleger können nun steuerbegünstigt in | |
Immobilien als Kapitalanlage investieren. Seit Juli 2019 bietet die | |
Regierung außerdem jedem Portugiesen, der während der Wirtschaftskrise | |
ausgewandert ist und jetzt zurückkehren möchte, einen | |
Einkommensteuernachlass von 50 Prozent an, ganz ähnlich dem RNH-Modell für | |
Ausländer. | |
Zwischen 2010 und 2015, auf dem Höhepunkt der Austeritätspolitik, waren 500 | |
000 Menschen ausgewandert – 5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Ziel | |
dieser Maßnahme: Junge, gut verdienende Hochschulabsolventen sollen ihr | |
Geld in Portugal anlegen. Diejenigen hingegen, die in den Krisenjahren | |
nicht die Mittel hatten, das Land zu verlassen, gehen leer aus. | |
Für den Tag nach der Demonstration von Stop Despejos! hat Morar em Lisboa | |
eine Diskussionsveranstaltung organisiert. Es soll um die Maßnahmen der | |
Stadtverwaltung zur Begrenzung der Airbnb-Wohnungen gehen. In dem kleinen | |
gemütlichen Saal, zwei Schritte vom Fado-Museum am Fuße des | |
Alfama-Viertels, dem alten Stadtkern Lissabons, gelegen, werden sich bis | |
zum Einbruch der Nacht heftige Wortgefechte geliefert. Lurdes Pinheiro vom | |
lokalen Nachbarschaftsverein schäumt: „Die Alfama wird allmählich zum | |
Vergnügungspark. Alle städtebaulichen Maßnahmen der Verwaltung zielen nur | |
noch auf die Touristen. Das ist eine architektonische Barbarei, die unser | |
Kulturerbe zerstört!“ | |
Ein paar Gassen weiter steht der Palacio Santa Helena, ein Herrenhaus aus | |
dem 16. Jahrhundert, das die sozialistische Stadtregierung vor Kurzem an | |
Stone Capital, eine der größten Immobiliengesellschaften der Stadt, | |
verkauft hat. Die Brüder Arthur und Geoffroy Moreno aus Frankreich leiten | |
das Unternehmen, sie haben den Palacio inzwischen zu Luxusapartments | |
umgebaut. „Und auf der anderen Seite des Alfama-Hügels, in Graça, will | |
Stone Capital noch eine Luxusresidenz errichten“, weiß Ana Jara, | |
Architektin und oppositionelle Stadtverordnete von der PCP. | |
## Bauprojekte werden nicht mehr besprochen | |
Der sozialistische Bürgermeister Fernando Medina wurde bei den | |
Kommunalwahlen von 2017 im Amt bestätigt. Seitdem wurden große Bauprojekte | |
nicht mehr im Stadtrat besprochen, sondern direkt vom Baustadtrat | |
genehmigt. Dieses Amt hatte bis August 2018 Manuel Salgado inne. Zwölf | |
Jahre war er „der Architekt einer neoliberalen Stadtplanung, deren einziges | |
Ziel darin besteht, Lissabon in einen fruchtbaren Acker für | |
Finanzinvestoren zu verwandeln“, meint Jara. | |
„Noch bis vor fünf Jahren war ein Drittel der Häuser in Lissabon | |
abbruchreif oder stand leer, sie besaßen keinerlei gesellschaftlichen oder | |
wirtschaftlichen Wert mehr“, sagt Geograf Mendes. Nachdem der Wiederaufbau | |
der Stadt privaten Bauunternehmern übertragen wurde, wurden unter Salgados | |
Ägide große Projekte verwirklicht. | |
Im Norden der Stadt regen sich die Leute über den geplanten Torre | |
Portugália auf, einen 60 Meter hohen Turm mit Luxuswohnungen. In den | |
einfachen Vororten auf der anderen Tejo-Seite wird „Lisbon South Bay“ als | |
größtes Stadtsanierungsprojekt seit der Expo-Weltausstellung 1998 beworben. | |
Dort sollen ein Kongresszentrum, ein Jachthafen und Hotels entstehen. Die | |
Bauträger verkünden, das Vorhaben werde „Lissabons Status als | |
Anziehungspunkt für Tourismus und Investitionen stärken“ (Público, 14. Mai | |
2019). | |
Statt allen Portugiesen ein Recht auf Stadt und Wohnen zu gewähren, werden | |
Immobilienkäufer gehätschelt. Mit dieser Strategie will man in Lissabon der | |
Investitionsschwäche der Regierung Costa entgegenwirken. Denn seit dem | |
Machtantritt der Sozialisten war der Staat so knauserig wie nie seit 1974. | |
2018 war Portugal mit 1,97 Prozent des BIPs das Schlusslicht bei den | |
öffentlichen Investitionen in der Eurozone.1 | |
## Keine Verbesserung der Lebensbedingungen | |
Der Grund dafür ist die Obsession der Regierung, die im Maastricht-Vertrag | |
festgeschriebene Haushaltsstabilität einzuhalten. Der Wirtschaftsaufschwung | |
wurde deshalb nicht vorrangig zur Verbesserung der Lebensbedingungen der | |
Portugiesen genutzt, sondern zum Ausgleich des Haushaltsdefizits und der | |
Schulden, die auf 120 Prozent des BIPs geschätzt werden. | |
„Ein großer Teil der PS legt Wert auf gute Beziehungen zu den Banken und | |
den europäischen Institutionen, um als Musterschüler Europas dazustehen“, | |
sagt José Gusmão, Europaabgeordneter und Verhandlungsführer des | |
Linksblocks. „Ihr Ziel ist die Rückzahlung der Schulden, damit wir die von | |
Brüssel festgelegte Obergrenze erreichen: 60 Prozent des BIPs. Doch wenn | |
wir den heutigen Tilgungsrhythmus beibehalten – was utopisch ist –, müssten | |
wir in den nächsten zwei Jahrzehnten auf alle öffentliche Investitionen | |
verzichten.“ Zwischen der PS und seinen Partnern auf der Linken sorgt der | |
Tilgungsplan für die Staatsschulden für die größten | |
Meinungsverschiedenheiten. | |
Für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin ist Finanzminister Màrio Centeno | |
zuständig, ein in Harvard ausgebildeter, liberaler Ökonomen, der seit | |
Januar 2018 auch Vorsitzender der Eurogruppe ist.2 Anstatt in öffentliche | |
Infrastruktur und Daseinsvorsorge zu investieren, füllte Centeno kürzlich | |
die Kassen der Novo Banco3, die sich während der Krise mit riskanten | |
Finanzspekulationen verzockt hatte, mit 1,9 Milliarden Euro Steuergeldern. | |
Linke und Kommunisten waren erzürnt. | |
Die Universitäten stehen kurz vor dem Kollaps, im Gesundheitssystem fehlt | |
es an Geld und Personal. Die staatliche Verwaltung des Schienennetzes gibt | |
an, 60 Prozent der Strecken seien in „schlechtem“ oder „mittelmäßigem“ | |
Zustand. Sozialwohnungen machen nur 2 Prozent des gesamten Wohnungsbestands | |
aus. | |
## Kaum öffentliche Investitionen im Wohnsektor | |
„Derzeit wird im Parlament zwar über ein neues Rahmengesetz für Wohnungen | |
diskutiert, aber wir wissen schon ungefähr, wie das ausgehen wird“, seufzt | |
Rita Silva vom Verein Habita. „Trotz einiger positiver Maßnahmen gibt es | |
keinerlei politischen Willen zu öffentlichen Investitionen im | |
Wohnungssektor. Und António Costa hat schon vorab verkündet, dass dieses | |
Gesetz die Liberalisierung des Immobilienmarkts nicht infrage stellen | |
darf.“ | |
„Durch die politische Strategie, die Brüsseler Forderungen zu erfüllen, | |
bleibt das Land gefesselt“, analysiert der Wirtschaftswissenschaftler José | |
Reis von der Universität Coimbra. „Es gab einen zähen Kampf um die Anhebung | |
der unteren Einkommen bei gleichzeitiger Einhaltung der | |
EU-Haushaltsvorschriften. Trotzdem ist das allgemeine Lohnniveau immer noch | |
niedriger als vor der Finanzkrise. Warum? Weil sich das Wachstum unter | |
anderem prekärer und schlecht bezahlter Arbeit verdankt.“ | |
Hinter dem spektakulären Rückgang der Arbeitslosigkeit verbirgt sich in der | |
Tat die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Studien zufolge bekommen heute | |
die Hälfte der neu angestellten Arbeitnehmer nur befristete Verträge. Die | |
Zahl der prekär Beschäftigten ist mit 73 000 auf dem höchsten Stand seit | |
Ankunft der Troika im Jahr 2011. Die Hälfte aller Überstunden wurde 2018 | |
nicht vergütet. In erster Linie sind junge Menschen betroffen, von denen 65 | |
Prozent befristet beschäftigt sind, 6 Prozent mehr als vor zehn Jahren. | |
„Im Arbeitsrecht sind wir kaum vorangekommen, wir haben eher Rückschritte | |
gemacht“, analysiert Linkenpolitiker Gusmão. „Mit Unterstützung der | |
Konservativen und der Arbeitgeber hat die Regierung prekäre Arbeitsverträge | |
mit sehr kurzer Laufzeit, die früher nur in der Tourismusbranche zulässig | |
waren, auch für andere Bereiche legalisiert. Kurzum: Das, was die | |
Geringonça-Koalition durch die Aufwertung der Einkommen erreicht hat, wurde | |
durch die Prekarisierung der Beschäftigten wieder zunichte gemacht.“ | |
## Die Industriehäfen als wichtiger Wirtschaftsfaktor | |
Zwischen 2009 und 2018 wuchs der Exportanteil am BIP von 27 auf 43 Prozent, | |
ein beachtlicher Anstieg. Die portugiesischen Industriehäfen sind zu einem | |
wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Ihre Wettbewerbsfähigkeit beruht | |
jedoch auf Flexibilisierung und Lohnkürzungen. „Zum Jahreswechsel 2013 ließ | |
die Regierung ein Gesetz zur Liberalisierung des Hafengeschäfts | |
verabschieden, das unsere Arbeitsbedingungen verwässern sollte“, berichtet | |
António Mariano, Vorsitzender der Gewerkschaft der Hafenarbeiter und der | |
Logistikbranche (Sindicato dos Estivadores e da Actividade Logística, | |
SEAL). „Daraufhin wurden zahlreiche Subunternehmen angeheuert.“ | |
Im August 2018 rief SEAL zu einem Solidaritätsstreik mit den Arbeitern von | |
Setúbal auf, wo 90 Prozent der Beschäftigten mit Tagesverträgen abgespeist | |
werden. „Diese prekär Beschäftigten haben weder Anrecht auf Urlaub noch auf | |
Kranken- oder Unfallversicherung. Manche werden zweimal pro Tag angeheuert, | |
damit sie 16 Stunden hintereinander arbeiten können“, erzählt Mariano. | |
Setúbal liegt etwa 50 Kilometer südlich von Lissabon und ist der zentrale | |
Exporthafen für AutoEuropa, eine Fabrik des Volkswagen-Konzerns, die | |
jährlich über 100 000 Fahrzeuge produziert. Auch für das Exportgeschäft von | |
The Navigator Company, den portugiesischen Giganten der Papierindustrie, | |
ist der Hafen von Setúbal zentral. | |
„Angesichts unserer Aktionen gegen diese extreme Prekarisierung hat sich | |
die Costa-Regierung damit rausgeredet, das sei eine rein | |
privatwirtschaftliche Angelegenheit“, berichtet der SEAL-Vorsitzende. „Aber | |
als wir am 22. November den Hafen lahmgelegt haben, schickte der Staat die | |
Polizei, um die Streikposten auszuschalten, damit ein Frachtschiff mit den | |
Fahrzeugen von AutoEuropa beladen werden konnte.“ | |
Ende 2018 erreichte SEAL mit ihrem Arbeitskampf ein Abkommen, das einen | |
Tarifvertrag für die Beschäftigten in Setúbal vorsah. „Trotzdem blieb das | |
Gesetz von 2013 in Kraft, obwohl wir die Ministerin für | |
Meeresangelegenheiten und die Parlamentsausschüsse, die sich mit | |
Arbeitsrecht befassen, immer wieder angerufen haben. Heute sind zwischen 25 | |
und 50 Prozent aller Beschäftigten im Hafengewerbe unterbezahlte | |
Tagelöhner“, fährt Mariano fort. „Aber die Hafenarbeiter sind nicht die | |
Einzigen, die von dieser Prekarisierungswelle betroffen sind. Der Staat | |
will die Produktivität steigern, indem er die Verhandlungsmacht der | |
Arbeitnehmer bricht.“ | |
## 2017 gab es bei Waldbränden 66 Tote | |
200 Kilometer nördlich von Lissabon, mitten im Herzen Portugals, liegt die | |
Ortschaft Pedrógão Grande in der Mittagshitze. Man erreicht sie nur über | |
ein Gewirr kleiner Straßen, die durch eine weite, öde Landschaft führen. Im | |
Juni 2017 wurden hier bei riesigen Waldbränden 30 000 Hektar Forst | |
vernichtet, ein Fläche so groß wie München. 66 Menschen kamen dabei ums | |
Leben. Die meisten starben auf der Flucht vor den Flammen, weil die | |
Behörden es versäumt hatten, rechtzeitig die Hauptstraße zu sperren. | |
Dieser tödlichste Waldbrand in der Geschichte Portugals sorgte landesweit | |
für Empörung. Bei der Suche nach den Ursachen wurde häufig auf den Mangel | |
an Personal und Ausrüstung verwiesen. Die meist freiwilligen Feuerwehren | |
sind schlecht ausgebildet, und das Kommunikationssystem der Hilfskräfte | |
(Siresp), eine Public-private-Partnership, gilt schon seit einem Jahrzehnt | |
als nicht funktionstüchtig. | |
Die Costa-Regierung geriet heftig unter Beschuss. Infolge der Sparmaßnahmen | |
und fehlender öffentlicher Investitionen hatte sie die Forstbehörden | |
abgeschafft, die Feuerbekämpfung aus der Luft privatisiert und den Haushalt | |
des zuständigen Ministeriums gekürzt. Zwischen 2006 und 2016 wurde die Zahl | |
der Förster um fast ein Drittel reduziert: absoluter Wahnsinn in einem | |
Land, das zu 32 Prozent mit Wald bedeckt ist, von dem jedes Jahr im Schnitt | |
100 000 Hektar in Flammen stehen. | |
Der intensive Eukalyptusanbau stand ebenfalls in der Kritik. Dieser | |
ursprünglich in Australien beheimatete Baum laugt nicht nur die Böden aus | |
und verringert die Artenvielfalt vor Ort, sondern er ist auch besonders | |
leicht brennbar. Trotzdem bauen ihn viele kleine Waldbesitzer seit 20 | |
Jahren gern an, weil er keinerlei Pflege braucht und sehr schnell wächst. | |
Sie können ihre Bäume dann als Rohstoff an die Papierindustrie verkaufen, | |
vor allem an The Navigator Company. | |
## Höchste Eukalyptusdichte der Welt | |
„Ein Viertel der Wälder Portugals besteht heute aus Eukalyptus, es ist die | |
häufigste Baumart im ganzen Land“, kritisiert die Liga für Naturschutz | |
(LPN). „Portugal hat die höchste Eukalyptusdichte der Welt. Der Baum, den | |
der Staat einmal als unser ‚grünes Öl‘ bezeichnet hat, gilt als | |
Wirtschaftsmotor.“ | |
The Navigator Company ist mit 3 Prozent der Ausfuhren das drittgrößte | |
Exportunternehmen Portugals. „Zwischen 2002 und 2004 hat die Regierung von | |
José Manuel Barroso mit der Firma verhandelt, um deren wirtschaftliche | |
Entwicklung zu beschleunigen“, berichtet Nádia Piazza, die bei den Bränden | |
im Juni 2017 ihren fünfjährigen Sohn verlor und heute Vorsitzende des | |
Vereins der Brandopfer von Pedrógão Grande ist.4 | |
„Seitdem haben die Behörden den kleinen Waldbesitzern praktisch ohne jede | |
Prüfung Genehmigungen zum Eukalyptusanbau erteilt. Die Forstpolitik war auf | |
kurzfristige Gewinne ausgerichtet, und daher hat sich der Baum in den | |
ärmsten ländlichen Gebieten sehr schnell verbreitet.“ Zum Leidwesen der | |
Umweltschutzvereine liberalisierte die Regierung von Pedro Passos Coelho | |
obendrein den Eukalyptusanbau auch auf Parzellen von weniger als 2 Hektar, | |
die über 80 Prozent der portugiesischen Waldflächen ausmachen. Damit wurde | |
Portugal zu „Eukalyptugal“, wie die Umweltschützer sagen. | |
„Pedrógão Grande ist eine der ärmsten Gemeinden im Land. Ein Drittel unser | |
2500 Einwohner ist älter als 65 Jahre und bekommt weniger als 300 Euro | |
Rente im Monat“, berichtet der sozialistische Bürgermeister Valdemar | |
Alves.5 „Wer auf seiner kleinen Parzelle ein paar Eukalyptusbäume | |
anpflanzt, kann sich damit über Wasser halten.“ Die Einwohnerzahl von | |
Pedrógão Grande ist im Verlauf der letzten 50 Jahre um die Hälfte gesunken. | |
„Die jungen Leute gehen nach Lissabon, um Arbeit zu suchen“, klagt der | |
Bürgermeister. „Die Landflucht führt dazu, dass Felder und Wälder nicht | |
mehr gepflegt werden, was die Ausbreitung von Bränden erleichtert.“ | |
## Einseitige regionale Aufforstungsprogramme | |
Die Landschaft rund um das Dorf besteht heute aus kahlen, grauen Hügeln bis | |
zum Horizont, hier und da schießen hohe Eukalyptussprösslinge aus dem | |
Boden. „Die Waldbrände fördern die Vermehrung und invasive Ausdehnung | |
dieser Art“, erläutert die LPN. Angesichts der Tragödie vom Juni 2017 und | |
der gestiegenen Waldbrandgefahr hat die Regierung für mehr Personal vor Ort | |
und mehr Löschflugzeuge gesorgt und das Siresp-Netz für 7 Millionen Euro | |
zurückgekauft. | |
An die Spitze der Anfang 2019 neu geschaffenen Agentur für die integrierte | |
Bewältigung von Waldbränden (Agif) berief der Premierminister jedoch | |
ausgerechnet Tiago Martins de Oliveira, vormals Manager bei The Navigator | |
Company. Die in diesem Jahr in Kraft getretenen regionalen | |
Aufforstungsprogramme setzen alle auf Eukalyptus – das betrifft 95 Prozent | |
der Waldflächen. „In den neuen Programmen erkennt man keinerlei Bemühungen, | |
die aktuelle Situation zu verändern, alles läuft nach dem Motto ‚Business | |
as usual‘ “, fasst die LPN zusammen. | |
Seit letztem Jahr gibt es erste Signale, dass Portugals Wirtschaftswunder | |
die Luft ausgeht. Nach sieben Jahren ununterbrochenen Wachstums ist die | |
Zahl der Touristen 2018 nur noch um 3,8 Prozent gestiegen, 2017 betrug der | |
Zuwachs noch 9,1 Prozent. Im Juni warnte die Banco de Portugal vor der | |
Möglichkeit eines „brutalen Einbruchs“ der Spekulationen auf dem | |
Immobilienmarkt. Während das Wirtschaftswachstum 2017 noch 2,8 Prozent | |
betragen hatte, verlangsamte es sich 2018 auf 2,1 Prozent. Für das Jahr | |
2019 werden nur 1,7 Prozent vorausgesagt. | |
Hat die Regierung von António Costa mit ihrem Versuch, Sozialpolitik und | |
Haushaltsdisziplin zu verbinden, statt eines Wirtschaftswunders eine Fata | |
Morgana geschaffen? „Die Geringonça-Koalition war ein politisches | |
Experiment, ein neuer Versuch von links“, meint der Ökonom José Reis. „Ab… | |
vor den Wahlen im Oktober stellt sich die Frage: Kann es so weitergehen?“ | |
--- | |
1 „Veille économique et financière n° 30“, Generaldirektion des | |
französischen Schatzamts, Paris, 3. Mai 2019. | |
2 Monatliches Treffen der Finanzminister der Eurozone. | |
3 Novo Banco ist die drittgrößte Bank des Landes, sie entstand 2014 durch | |
die Rettung und Aufspaltung der Banco Espirito Santo und wurde vom | |
portugiesischen Staat bereits damals mit einer Finanzspritze von 4,4 | |
Milliarden Euro unterstützt. | |
4 Piazza wurde 2018 in eine Arbeitsgruppe der rechtskonservativen CDS-PP | |
(Demokratisches und Soziales Zentrum – Volkspartei) eingeladen, die das | |
Wahlprogramm der Partei erarbeiten sollte. | |
5 Alves steht derzeit wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung bei den | |
Waldbränden im Juni 2017 und wegen des Verdachts auf Unterschlagung von | |
Geldern aus dem Wiederaufbaufonds vor Gericht. | |
Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
5 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5459156 | |
## AUTOREN | |
Mickaël Correia | |
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