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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Portugals prekäres Wunder
> Dem portugiesischen Wirtschaftswachstum geht vor der Wahl am 6. Oktober
> die Luft aus. Die Bevölkerung leidet unter Wohnungsnot und Niedriglöhnen.
Bild: Verschnaufpause für den Rollkoffer: Tourist am Praça do Comércio in Li…
Am Morgen des 4. Juni 2019 stehen vor dem gräulichen Gebäude des
Ministeriums für Infrastruktur und Wohnungen in Lissabon etwa 50
Demonstranten. Es sind Aktivisten der Initiative „Stop Despejos!“ (Stoppt
Zwangsräumungen) und einige vom Rausschmiss bedrohte Familien. Gemeinsam
fordern sie „Wohnraum für alle“.
Ein paar Tage zuvor hatten zehn Polizisten die Wohnung der 83-jährigen
Maria Nazaré Jorge im Stadtzentrum Lissabons geräumt. „Sie hat 40 Jahre in
dieser Wohnung gelebt, für 200 Euro im Monat“, berichtet Sandra P. von Stop
Despejos. „Der Mietvertrag lief auf ihre Tante. Als diese vor Kurzem starb,
hat der Vermieter die Gelegenheit genutzt, sie an die Luft zu setzen. Denn
die Immobilienpreise im Zentrum gehen gerade durch die Decke.“
2012 änderte die Mitte-rechts-Regierung von Pedro Passos Coelho
(2011–2015) das Mietrecht zugunsten der Eigentümer. Fortan konnten sie bei
Neuvermietungen eine höhere Miete verlangen und im Sanierungsfall die
Mieter leichter rauswerfen. Die Staatsschuldenkrise von 2008 hatte Portugal
die Luft abgeschnürt, so dass das Land 2011 in die Fänge der Troika geriet
– eines Bündnisses aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer
Zentralbank (EZB) und EU-Kommission. Als Gegenleistung für ihre
Finanzhilfen in Höhe von 78 Milliarden Euro verlangte die Troika eine
Deregulierung des Immobilienmarkts und die Ausweitung des Tourismus.
## Steuererleichterungen für zugezogene Rentner
Seitdem hat sich Lissabon bemüht, seine Attraktivität für Investoren zu
steigern. Seit 2012 stellt die Regierung etwa sogenannte Goldene Visa aus:
Aufenthaltstitel für Ausländer, die Immobilien im Wert von mehr als 500 000
Euro erwerben. Innerhalb von sechs Jahren flossen so 4 Milliarden Euro in
den Sektor. Für europäische Rentner, die nach Portugal ziehen und dort eine
Wohnung kaufen, gibt es den Status eines „nicht dauerhaften Wohnsitzes“
(residente não habitual, RNH), der mit erheblichen Steuererleichterungen
verbunden ist.
Der Geograf Luís Mendes ergänzt: „Seit 2014 gibt es ein Gesetz zur
Vermietung von Ferienwohnungen, etwa über Airbnb. Vermieter können 3000
Euro im Monat verdienen, wenn sie an Touristen vermieten, während sie von
einem Portugiesen nur 300 Euro verlangen können.“
Mendes engagiert sich bei „Morar em Lisboa“ (Wohnen in Lissabon), einer
Plattform von 40 Vereinen für das Recht auf Wohnen. „In manchen
Innenstadtvierteln wird über die Hälfte aller Wohnungen per Airbnb
vermietet. Gleichzeitig hat die Liberalisierung des Wohnungsmarkts dazu
geführt, dass jeden Tag zwischen einer und drei Familien zwangsgeräumt
werden. Selbst die Mittelklasse hat mittlerweile Schwierigkeiten, eine
Wohnung zu finden!“
Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Ferienwohnungen um 3000 Prozent
gestiegen. Seit Ende 2018 führt Lissabon die Rangliste der europäischen
Städte mit den meisten Airbnb-Wohnungen pro Einwohner an, noch vor
Barcelona und Paris. „In vier Jahren hat die linke Regierung kaum etwas
gegen diese Finanzialisierung des Wohnungsmarkts unternommen“, sagt Mendes;
also dagegen, dass der Immobilienmarkt nach der Logik des Finanzmarkts
funktioniert.
Im November 2015 war der sozialistische Premierminister António Costa
mit seinem Kabinett angetreten, um den von der Troika vorgeschriebenen
strikten Sparkurs abzumildern. Seine Minderheitsregierung wird im Parlament
vom Linksblock (Bloco de Esquerda, BE), der Kommunistischen Partei (PCP)
und den Grünen gestützt, mit denen die Sozialisten jeweils separate
Tolerierungsabkommen geschlossen haben; diese Konstruktion wird in Portugal
auch Geringonça („Klapperkiste“) genannt.
Die Regierung wollte die Kaufkraft wieder stärken und zugleich die
Staatsschulden zurückschrauben. Dazu nahm sie Pensions- und Rentenkürzungen
zurück und hob den Mindestlohn Jahr für Jahr von 505 Euro bei Amtsantritt
auf aktuell 700 Euro an. [1][Auch die soziale Mindestsicherung wurde
ausgeweitet.]
## 2017 stellte die EU das Defizitverfahren ein
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Im Juni 2017 stellte die EU das 2009
eingeleitete Defizitverfahren gegen Portugal ein. Die Arbeitslosenquote
sank von 12 Prozent Ende 2015 auf aktuell 6,3 Prozent, und während das
öffentliche Defizit 2015 noch 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
betragen hatte, rechnet die Regierung für 2019 mit einer knappen Null – das
erste Mal seit der Einführung der Demokratie 1974. Das Wirtschaftswachstum
erreichte 2017 den Rekordwert von 2,8 Prozent, den höchsten seit 17 Jahren.
Von der New York Times über den Figaro Économie bis zur Financial Times,
sie alle feierten das „portugiesische Wirtschaftswunder“. Und die
europäische Linke applaudierte dem ungewöhnlichen Gespann unter Costa, das
es schaffte, dem neoliberalen Austeritätsdogma aus Brüssel eine Absage zu
erteilen.
Ihr Erfolg verschaffte den portugiesischen Sozialisten (PS) gute
Wahlergebnisse bei der letzten Europawahl. Der parlamentarische
Staatssekretär Duarte Cordeiro freut sich über das gute Abschneiden seiner
Partei. In seinem eleganten Büro im Parlamentsgebäude erklärt er uns:
„Wenige Monate vor den im Oktober anstehenden Parlamentswahlen liegen wir
in den Umfragen bei 33,4 Prozent. Im Europaparlament sitzen wir jetzt mit 9
statt 8 Abgeordneten. Das ist ein Zeichen der breiten Unterstützung für die
aktuelle Politik der PS und der Parteien, die die Regierung unterstützen.“
Dennoch: Mit einer Vielzahl der neoliberalen Einschnitte, die die
Vorgängerregierung unternommen hatte, haben sich die Sozialisten offenbar
ohne große Probleme arrangiert. „Bei den Goldenen Visa und dem Status des
nicht dauerhaften Wohnsitzes (RNH) haben wir noch nichts unternommen“, gibt
Cordeiro zu. „Aber wir werden darüber nachdenken, wahrscheinlich in der
nächsten Legislaturperiode.“
## Steuervergünstigungen für Investoren
Kann man dem Glauben schenken? Im Januar 2019 führte Premierminister Costa
für Immobiliengesellschaften ein neues Modell nach dem Vorbild der Real
Estate Investment Trusts ein. Anleger können nun steuerbegünstigt in
Immobilien als Kapitalanlage investieren. Seit Juli 2019 bietet die
Regierung außerdem jedem Portugiesen, der während der Wirtschaftskrise
ausgewandert ist und jetzt zurückkehren möchte, einen
Einkommensteuernachlass von 50 Prozent an, ganz ähnlich dem RNH-Modell für
Ausländer.
Zwischen 2010 und 2015, auf dem Höhepunkt der Austeritätspolitik, waren 500
000 Menschen ausgewandert – 5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Ziel
dieser Maßnahme: Junge, gut verdienende Hochschulabsolventen sollen ihr
Geld in Portugal anlegen. Diejenigen hingegen, die in den Krisenjahren
nicht die Mittel hatten, das Land zu verlassen, gehen leer aus.
Für den Tag nach der Demonstration von Stop Despejos! hat Morar em Lisboa
eine Diskussionsveranstaltung organisiert. Es soll um die Maßnahmen der
Stadtverwaltung zur Begrenzung der Airbnb-Wohnungen gehen. In dem kleinen
gemütlichen Saal, zwei Schritte vom Fado-Museum am Fuße des
Alfama-Viertels, dem alten Stadtkern Lissabons, gelegen, werden sich bis
zum Einbruch der Nacht heftige Wortgefechte geliefert. Lurdes Pinheiro vom
lokalen Nachbarschaftsverein schäumt: „Die Alfama wird allmählich zum
Vergnügungspark. Alle städtebaulichen Maßnahmen der Verwaltung zielen nur
noch auf die Touristen. Das ist eine architektonische Barbarei, die unser
Kulturerbe zerstört!“
Ein paar Gassen weiter steht der Palacio Santa Helena, ein Herrenhaus aus
dem 16. Jahrhundert, das die sozialistische Stadtregierung vor Kurzem an
Stone Capital, eine der größten Immobiliengesellschaften der Stadt,
verkauft hat. Die Brüder Arthur und Geoffroy Moreno aus Frankreich leiten
das Unternehmen, sie haben den Palacio inzwischen zu Luxusapartments
umgebaut. „Und auf der anderen Seite des Alfama-Hügels, in Graça, will
Stone Capital noch eine Luxusresidenz errichten“, weiß Ana Jara,
Architektin und oppositionelle Stadtverordnete von der PCP.
## Bauprojekte werden nicht mehr besprochen
Der sozialistische Bürgermeister Fernando Medina wurde bei den
Kommunalwahlen von 2017 im Amt bestätigt. Seitdem wurden große Bauprojekte
nicht mehr im Stadtrat besprochen, sondern direkt vom Baustadtrat
genehmigt. Dieses Amt hatte bis August 2018 Manuel Salgado inne. Zwölf
Jahre war er „der Architekt einer neoliberalen Stadtplanung, deren einziges
Ziel darin besteht, Lissabon in einen fruchtbaren Acker für
Finanzinvestoren zu verwandeln“, meint Jara.
„Noch bis vor fünf Jahren war ein Drittel der Häuser in Lissabon
abbruchreif oder stand leer, sie besaßen keinerlei gesellschaftlichen oder
wirtschaftlichen Wert mehr“, sagt Geograf Mendes. Nachdem der Wiederaufbau
der Stadt privaten Bauunternehmern übertragen wurde, wurden unter Salgados
Ägide große Projekte verwirklicht.
Im Norden der Stadt regen sich die Leute über den geplanten Torre
Portugália auf, einen 60 Meter hohen Turm mit Luxuswohnungen. In den
einfachen Vororten auf der anderen Tejo-Seite wird „Lisbon South Bay“ als
größtes Stadtsanierungsprojekt seit der Expo-Weltausstellung 1998 beworben.
Dort sollen ein Kongresszentrum, ein Jachthafen und Hotels entstehen. Die
Bauträger verkünden, das Vorhaben werde „Lissabons Status als
Anziehungspunkt für Tourismus und Investitionen stärken“ (Público, 14. Mai
2019).
Statt allen Portugiesen ein Recht auf Stadt und Wohnen zu gewähren, werden
Immobilienkäufer gehätschelt. Mit dieser Strategie will man in Lissabon der
Investitionsschwäche der Regierung Costa entgegenwirken. Denn seit dem
Machtantritt der Sozialisten war der Staat so knauserig wie nie seit 1974.
2018 war Portugal mit 1,97 Prozent des BIPs das Schlusslicht bei den
öffentlichen Investitionen in der Eurozone.1
## Keine Verbesserung der Lebensbedingungen
Der Grund dafür ist die Obsession der Regierung, die im Maastricht-Vertrag
festgeschriebene Haushaltsstabilität einzuhalten. Der Wirtschaftsaufschwung
wurde deshalb nicht vorrangig zur Verbesserung der Lebensbedingungen der
Portugiesen genutzt, sondern zum Ausgleich des Haushaltsdefizits und der
Schulden, die auf 120 Prozent des BIPs geschätzt werden.
„Ein großer Teil der PS legt Wert auf gute Beziehungen zu den Banken und
den europäischen Institutionen, um als Musterschüler Europas dazustehen“,
sagt José Gusmão, Europaabgeordneter und Verhandlungsführer des
Linksblocks. „Ihr Ziel ist die Rückzahlung der Schulden, damit wir die von
Brüssel festgelegte Obergrenze erreichen: 60 Prozent des BIPs. Doch wenn
wir den heutigen Tilgungsrhythmus beibehalten – was utopisch ist –, müssten
wir in den nächsten zwei Jahrzehnten auf alle öffentliche Investitionen
verzichten.“ Zwischen der PS und seinen Partnern auf der Linken sorgt der
Tilgungsplan für die Staatsschulden für die größten
Meinungsverschiedenheiten.
Für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin ist Finanzminister Màrio Centeno
zuständig, ein in Harvard ausgebildeter, liberaler Ökonomen, der seit
Januar 2018 auch Vorsitzender der Eurogruppe ist.2 Anstatt in öffentliche
Infrastruktur und Daseinsvorsorge zu investieren, füllte Centeno kürzlich
die Kassen der Novo Banco3, die sich während der Krise mit riskanten
Finanzspekulationen verzockt hatte, mit 1,9 Milliarden Euro Steuergeldern.
Linke und Kommunisten waren erzürnt.
Die Universitäten stehen kurz vor dem Kollaps, im Gesundheitssystem fehlt
es an Geld und Personal. Die staatliche Verwaltung des Schienennetzes gibt
an, 60 Prozent der Strecken seien in „schlechtem“ oder „mittelmäßigem“
Zustand. Sozialwohnungen machen nur 2 Prozent des gesamten Wohnungsbestands
aus.
## Kaum öffentliche Investitionen im Wohnsektor
„Derzeit wird im Parlament zwar über ein neues Rahmengesetz für Wohnungen
diskutiert, aber wir wissen schon ungefähr, wie das ausgehen wird“, seufzt
Rita Silva vom Verein Habita. „Trotz einiger positiver Maßnahmen gibt es
keinerlei politischen Willen zu öffentlichen Investitionen im
Wohnungssektor. Und António Costa hat schon vorab verkündet, dass dieses
Gesetz die Liberalisierung des Immobilienmarkts nicht infrage stellen
darf.“
„Durch die politische Strategie, die Brüsseler Forderungen zu erfüllen,
bleibt das Land gefesselt“, analysiert der Wirtschaftswissenschaftler José
Reis von der Universität Coimbra. „Es gab einen zähen Kampf um die Anhebung
der unteren Einkommen bei gleichzeitiger Einhaltung der
EU-Haushaltsvorschriften. Trotzdem ist das allgemeine Lohnniveau immer noch
niedriger als vor der Finanzkrise. Warum? Weil sich das Wachstum unter
anderem prekärer und schlecht bezahlter Arbeit verdankt.“
Hinter dem spektakulären Rückgang der Arbeitslosigkeit verbirgt sich in der
Tat die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Studien zufolge bekommen heute
die Hälfte der neu angestellten Arbeitnehmer nur befristete Verträge. Die
Zahl der prekär Beschäftigten ist mit 73 000 auf dem höchsten Stand seit
Ankunft der Troika im Jahr 2011. Die Hälfte aller Überstunden wurde 2018
nicht vergütet. In erster Linie sind junge Menschen betroffen, von denen 65
Prozent befristet beschäftigt sind, 6 Prozent mehr als vor zehn Jahren.
„Im Arbeitsrecht sind wir kaum vorangekommen, wir haben eher Rückschritte
gemacht“, analysiert Linkenpolitiker Gusmão. „Mit Unterstützung der
Konservativen und der Arbeitgeber hat die Regierung prekäre Arbeitsverträge
mit sehr kurzer Laufzeit, die früher nur in der Tourismusbranche zulässig
waren, auch für andere Bereiche legalisiert. Kurzum: Das, was die
Geringonça-Koalition durch die Aufwertung der Einkommen erreicht hat, wurde
durch die Prekarisierung der Beschäftigten wieder zunichte gemacht.“
## Die Industriehäfen als wichtiger Wirtschaftsfaktor
Zwischen 2009 und 2018 wuchs der Exportanteil am BIP von 27 auf 43 Prozent,
ein beachtlicher Anstieg. Die portugiesischen Industriehäfen sind zu einem
wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Ihre Wettbewerbsfähigkeit beruht
jedoch auf Flexibilisierung und Lohnkürzungen. „Zum Jahreswechsel 2013 ließ
die Regierung ein Gesetz zur Liberalisierung des Hafengeschäfts
verabschieden, das unsere Arbeitsbedingungen verwässern sollte“, berichtet
António Mariano, Vorsitzender der Gewerkschaft der Hafenarbeiter und der
Logistikbranche (Sindicato dos Estivadores e da Actividade Logística,
SEAL). „Daraufhin wurden zahlreiche Subunternehmen angeheuert.“
Im August 2018 rief SEAL zu einem Solidaritätsstreik mit den Arbeitern von
Setúbal auf, wo 90 Prozent der Beschäftigten mit Tagesverträgen abgespeist
werden. „Diese prekär Beschäftigten haben weder Anrecht auf Urlaub noch auf
Kranken- oder Unfallversicherung. Manche werden zweimal pro Tag angeheuert,
damit sie 16 Stunden hintereinander arbeiten können“, erzählt Mariano.
Setúbal liegt etwa 50 Kilometer südlich von Lissabon und ist der zentrale
Exporthafen für AutoEuropa, eine Fabrik des Volkswagen-Konzerns, die
jährlich über 100 000 Fahrzeuge produziert. Auch für das Exportgeschäft von
The Navigator Company, den portugiesischen Giganten der Papierindustrie,
ist der Hafen von Setúbal zentral.
„Angesichts unserer Aktionen gegen diese extreme Prekarisierung hat sich
die Costa-Regierung damit rausgeredet, das sei eine rein
privatwirtschaftliche Angelegenheit“, berichtet der SEAL-Vorsitzende. „Aber
als wir am 22. November den Hafen lahmgelegt haben, schickte der Staat die
Polizei, um die Streikposten auszuschalten, damit ein Frachtschiff mit den
Fahrzeugen von AutoEuropa beladen werden konnte.“
Ende 2018 erreichte SEAL mit ihrem Arbeitskampf ein Abkommen, das einen
Tarifvertrag für die Beschäftigten in Setúbal vorsah. „Trotzdem blieb das
Gesetz von 2013 in Kraft, obwohl wir die Ministerin für
Meeresangelegenheiten und die Parlamentsausschüsse, die sich mit
Arbeitsrecht befassen, immer wieder angerufen haben. Heute sind zwischen 25
und 50 Prozent aller Beschäftigten im Hafengewerbe unterbezahlte
Tagelöhner“, fährt Mariano fort. „Aber die Hafenarbeiter sind nicht die
Einzigen, die von dieser Prekarisierungswelle betroffen sind. Der Staat
will die Produktivität steigern, indem er die Verhandlungsmacht der
Arbeitnehmer bricht.“
## 2017 gab es bei Waldbränden 66 Tote
200 Kilometer nördlich von Lissabon, mitten im Herzen Portugals, liegt die
Ortschaft Pedrógão Grande in der Mittagshitze. Man erreicht sie nur über
ein Gewirr kleiner Straßen, die durch eine weite, öde Landschaft führen. Im
Juni 2017 wurden hier bei riesigen Waldbränden 30 000 Hektar Forst
vernichtet, ein Fläche so groß wie München. 66 Menschen kamen dabei ums
Leben. Die meisten starben auf der Flucht vor den Flammen, weil die
Behörden es versäumt hatten, rechtzeitig die Hauptstraße zu sperren.
Dieser tödlichste Waldbrand in der Geschichte Portugals sorgte landesweit
für Empörung. Bei der Suche nach den Ursachen wurde häufig auf den Mangel
an Personal und Ausrüstung verwiesen. Die meist freiwilligen Feuerwehren
sind schlecht ausgebildet, und das Kommunikationssystem der Hilfskräfte
(Siresp), eine Public-private-Partnership, gilt schon seit einem Jahrzehnt
als nicht funktionstüchtig.
Die Costa-Regierung geriet heftig unter Beschuss. Infolge der Sparmaßnahmen
und fehlender öffentlicher Investitionen hatte sie die Forstbehörden
abgeschafft, die Feuerbekämpfung aus der Luft privatisiert und den Haushalt
des zuständigen Ministeriums gekürzt. Zwischen 2006 und 2016 wurde die Zahl
der Förster um fast ein Drittel reduziert: absoluter Wahnsinn in einem
Land, das zu 32 Prozent mit Wald bedeckt ist, von dem jedes Jahr im Schnitt
100 000 Hektar in Flammen stehen.
Der intensive Eukalyptusanbau stand ebenfalls in der Kritik. Dieser
ursprünglich in Australien beheimatete Baum laugt nicht nur die Böden aus
und verringert die Artenvielfalt vor Ort, sondern er ist auch besonders
leicht brennbar. Trotzdem bauen ihn viele kleine Waldbesitzer seit 20
Jahren gern an, weil er keinerlei Pflege braucht und sehr schnell wächst.
Sie können ihre Bäume dann als Rohstoff an die Papierindustrie verkaufen,
vor allem an The Navigator Company.
## Höchste Eukalyptusdichte der Welt
„Ein Viertel der Wälder Portugals besteht heute aus Eukalyptus, es ist die
häufigste Baumart im ganzen Land“, kritisiert die Liga für Naturschutz
(LPN). „Portugal hat die höchste Eukalyptusdichte der Welt. Der Baum, den
der Staat einmal als unser ‚grünes Öl‘ bezeichnet hat, gilt als
Wirtschaftsmotor.“
The Navigator Company ist mit 3 Prozent der Ausfuhren das drittgrößte
Exportunternehmen Portugals. „Zwischen 2002 und 2004 hat die Regierung von
José Manuel Barroso mit der Firma verhandelt, um deren wirtschaftliche
Entwicklung zu beschleunigen“, berichtet Nádia Piazza, die bei den Bränden
im Juni 2017 ihren fünfjährigen Sohn verlor und heute Vorsitzende des
Vereins der Brandopfer von Pedrógão Grande ist.4
„Seitdem haben die Behörden den kleinen Waldbesitzern praktisch ohne jede
Prüfung Genehmigungen zum Eukalyptusanbau erteilt. Die Forstpolitik war auf
kurzfristige Gewinne ausgerichtet, und daher hat sich der Baum in den
ärmsten ländlichen Gebieten sehr schnell verbreitet.“ Zum Leidwesen der
Umweltschutzvereine liberalisierte die Regierung von Pedro Passos Coelho
obendrein den Eukalyptusanbau auch auf Parzellen von weniger als 2 Hektar,
die über 80 Prozent der portugiesischen Waldflächen ausmachen. Damit wurde
Portugal zu „Eukalyptugal“, wie die Umweltschützer sagen.
„Pedrógão Grande ist eine der ärmsten Gemeinden im Land. Ein Drittel unser
2500 Einwohner ist älter als 65 Jahre und bekommt weniger als 300 Euro
Rente im Monat“, berichtet der sozialistische Bürgermeister Valdemar
Alves.5 „Wer auf seiner kleinen Parzelle ein paar Eukalyptusbäume
anpflanzt, kann sich damit über Wasser halten.“ Die Einwohnerzahl von
Pedrógão Grande ist im Verlauf der letzten 50 Jahre um die Hälfte gesunken.
„Die jungen Leute gehen nach Lissabon, um Arbeit zu suchen“, klagt der
Bürgermeister. „Die Landflucht führt dazu, dass Felder und Wälder nicht
mehr gepflegt werden, was die Ausbreitung von Bränden erleichtert.“
## Einseitige regionale Aufforstungsprogramme
Die Landschaft rund um das Dorf besteht heute aus kahlen, grauen Hügeln bis
zum Horizont, hier und da schießen hohe Eukalyptussprösslinge aus dem
Boden. „Die Waldbrände fördern die Vermehrung und invasive Ausdehnung
dieser Art“, erläutert die LPN. Angesichts der Tragödie vom Juni 2017 und
der gestiegenen Waldbrandgefahr hat die Regierung für mehr Personal vor Ort
und mehr Löschflugzeuge gesorgt und das Siresp-Netz für 7 Millionen Euro
zurückgekauft.
An die Spitze der Anfang 2019 neu geschaffenen Agentur für die integrierte
Bewältigung von Waldbränden (Agif) berief der Premierminister jedoch
ausgerechnet Tiago Martins de Oliveira, vormals Manager bei The Navigator
Company. Die in diesem Jahr in Kraft getretenen regionalen
Aufforstungsprogramme setzen alle auf Eukalyptus – das betrifft 95 Prozent
der Waldflächen. „In den neuen Programmen erkennt man keinerlei Bemühungen,
die aktuelle Situation zu verändern, alles läuft nach dem Motto ‚Business
as usual‘ “, fasst die LPN zusammen.
Seit letztem Jahr gibt es erste Signale, dass Portugals Wirtschaftswunder
die Luft ausgeht. Nach sieben Jahren ununterbrochenen Wachstums ist die
Zahl der Touristen 2018 nur noch um 3,8 Prozent gestiegen, 2017 betrug der
Zuwachs noch 9,1 Prozent. Im Juni warnte die Banco de Portugal vor der
Möglichkeit eines „brutalen Einbruchs“ der Spekulationen auf dem
Immobilienmarkt. Während das Wirtschaftswachstum 2017 noch 2,8 Prozent
betragen hatte, verlangsamte es sich 2018 auf 2,1 Prozent. Für das Jahr
2019 werden nur 1,7 Prozent vorausgesagt.
Hat die Regierung von António Costa mit ihrem Versuch, Sozialpolitik und
Haushaltsdisziplin zu verbinden, statt eines Wirtschaftswunders eine Fata
Morgana geschaffen? „Die Geringonça-Koalition war ein politisches
Experiment, ein neuer Versuch von links“, meint der Ökonom José Reis. „Ab…
vor den Wahlen im Oktober stellt sich die Frage: Kann es so weitergehen?“
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1 „Veille économique et financière n° 30“, Generaldirektion des
französischen Schatzamts, Paris, 3. Mai 2019.
2 Monatliches Treffen der Finanzminister der Eurozone.
3 Novo Banco ist die drittgrößte Bank des Landes, sie entstand 2014 durch
die Rettung und Aufspaltung der Banco Espirito Santo und wurde vom
portugiesischen Staat bereits damals mit einer Finanzspritze von 4,4
Milliarden Euro unterstützt.
4 Piazza wurde 2018 in eine Arbeitsgruppe der rechtskonservativen CDS-PP
(Demokratisches und Soziales Zentrum – Volkspartei) eingeladen, die das
Wahlprogramm der Partei erarbeiten sollte.
5 Alves steht derzeit wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung bei den
Waldbränden im Juni 2017 und wegen des Verdachts auf Unterschlagung von
Geldern aus dem Wiederaufbaufonds vor Gericht.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
5 Oct 2019
## LINKS
[1] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5459156
## AUTOREN
Mickaël Correia
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