# taz.de -- Portugal atmet wieder | |
> Nach Jahren der Rezession sorgt die linke Regierung für zarte Zuversicht | |
Bild: Warten auf Gäste | |
von Gwenaëlle Lenoir und Marie-Line Darcy | |
Am Ufer des Tejo, nicht weit vom bei Touristen beliebten Platz des Handels, | |
dröhnt aus einem Lautsprecher„Os Vampiros“ des Liedermachers Zeca Afonso. | |
Der 1987 verstorbene Sänger ist ein nationaler Held: Am 24. April 1974 | |
spielte ein katholischer Radiosender eines seiner Lieder, das zum Signal | |
für den Beginn der „Nelkenrevolution“ wurde. Das 1962 entstandene „Os | |
Vampiros“ diente bis 2014 als Soundtrack bei allen großen Demonstrationen | |
gegen die Sparpolitik. | |
Drei Jahre später singen nur wenige Dutzend Stimmen den Refrain mit: „Sie | |
essen alles, sie essen alles. Und lassen nichts übrig.“ Die vor dem | |
Finanzministerium aufmarschierten Demonstranten fordern das Ende prekärer | |
Arbeitsverhältnisse. Die meisten sind im Gesundheitsektor oder als Lehrer | |
und Forscher beschäftigt und gehören zur Bewegung der „Unflexiblen | |
Prekären“ oder zum Gewerkschaftsverband CGTP-IN (Allgemeiner | |
Zusammenschluss der Portugiesischen Arbeiter – Nationaler | |
Gewerkschaftsbund). Die Regierung beziffert die Zahl der Staatsbediensteten | |
in prekären Arbeitsverhältnissen auf rund 100 000. An diesem Abend sind nur | |
eine Handvoll gekommen. | |
„Hat die allgemeine Mobilisierung nachgelassen?“, fragen wir José Maria | |
Costa, den sozialistischen Bürgermeister von Viana do Castelo. Die 80 | |
000-Einwohner-Stadt liegt im Norden Portugals und ist für ihre Werften und | |
ihre Surfstrände bekannt. „Heute geht es dem ganzen Land besser“, antwortet | |
Costa lächelnd, „wir sind wieder optimistisch, wir haben die seelische | |
Depression überwunden.“ Gewerkschafter Fernando Gomes, ein 54-jähriger | |
Busfahrer aus Lissabon, bestätigt: „Wir können wieder atmen, alle spüren | |
den Aufschwung.“ | |
Im März 2011 stand Portugal – zusammen mit Spanien und Griechenland – als | |
schwarzes Schaf der Eurozone da. Ein Haushaltsdefizit in Höhe von 7,4 | |
Prozent des BIPs knebelte das Land, Portugal musste für seine | |
Staatsanleihen mehr als 7 Prozent Zinsen zahlen, die Ratingagenturen | |
stuften seine Kreditwürdigkeit herab. Am Ende blieb nichts anderes übrig, | |
als Finanzhilfen in Höhe von 78 Milliarden Euro zu beantragen. | |
Damit unterwarf sich Lissabon dem Diktat der EU-Kommission, der | |
Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds. Die von | |
dieser Troika verordneten harten Sparauflagen wurden durch die von 2011 bis | |
2015 regierende rechte Koalition aus Sozialdemokraten (PSD) und | |
Portugiesischer Volkspartei (CDS-PP oder CDS) sogar noch verschärft. | |
Heute schauen die meisten europäischen Länder überrascht und etwas neidisch | |
auf die portugiesischen Wirtschaftsdaten. Nach mehreren Rezessionsjahren | |
stieg das Wirtschaftswachstum seit 2014 stetig an und wird 2017 zwischen | |
2,0 und 2,5 Prozent erreichen. Die Arbeitslosigkeit, die auf dem Höhepunkt | |
der Krise 2013 bei 16,2 Prozent lag, ist im August 2017 auf 8,9 Prozent | |
gesunken und damit unter den Durchschnitt der Eurozone von (9,1 Prozent). | |
Auch beim Haushaltsdefizit macht man große Schritte: 2016 ist dieses bei | |
beneidenswerten 2 Prozent des BIPs angekommen, gegenüber 4,4 Prozent 2015. | |
Damit hält sich Portugal an den Rahmen von 3 Prozent, den der Stabilitäts- | |
und Wachstumspakt der Euroländer vorsieht. Bis 2020 will die | |
portugiesische Regierung einen ausgeglichenen Haushalt erreicht haben. | |
Was das Wirtschaftswachstum betrifft, so setzt Lissabon vor allem auf drei | |
Sektoren: auf den Export von industriellen Zuliefergütern und Autozubehör, | |
auf traditionelle Branchen wie die Textilindustrie und auf den Tourismus. | |
Die Zahl der ausländischen Besucher nimmt ständig zu. 2016 waren es 11,4 | |
Millionen, in dem Jahr entfiel ein Viertel der neu geschaffenen | |
Arbeitsplätze auf diese Branche. An Wochenenden hört man in Lissabon in der | |
Metro mehr Französisch, Englisch und Deutsch als Portugiesisch. In der | |
Hauptstadt gibt es keine Straße ohne Baugerüste, überall werden alte Häuser | |
saniert. Die Lissabonner schimpfen über die Anbieter von Ferienwohnungen, | |
die ganze Gebäude vermieten, und über die Touristen-Tuk-Tuks, die die | |
Straßen der Altstadt verstopfen. | |
Die vorbildliche Haushaltsdisziplin hat Früchte getragen: Mitte Juni hat | |
Brüssel das 2009 beschlossene Defizitverfahren (Excessive Deficit | |
Procedure, EDF) gegen Portugal beendet. Nicht immer waren die EU-Kommission | |
und die Eurozonen-Partner gegenüber Lissabon so wohlwollend. Im Herbst 2015 | |
reagierten Brüssel und Berlin verschreckt, als in Lissabon eine ganz neue | |
Allianz zustande kam: eine Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei, | |
die vom Linksblock, der Kommunistischen Partei und den Grünen unterstützt | |
wird. Die Roadmap des neuen Ministerpräsidenten António Costa, ehemals | |
Bürgermeister von Lissabon, waren für EU-Verhältnisse mindestens | |
eigenwillig: Seine Regierung wollte die Verpflichtungen gegenüber der | |
EU-Kommission einhalten und vor allem das Haushaltsdefizit zurückführen, | |
zugleich aber auch die Kaufkraft der durch vier Jahre Austerität zermürbten | |
Bevölkerung stärken. | |
„Einige europäische Partner hatten Zweifel“, meint zurückblickend Pedro | |
Nuno Santos, Staatssekretär für Parlamentsangelegenheiten. Auch der Ökonom | |
José Gusmão, Mitglied des Politbüros des Linksblocks, weiß zu berichten: | |
„Es war sehr schwierig, über den ersten Haushalt zu verhandeln, zumal nach | |
dem Amtsantritt von António Costa nicht viel Zeit dafür blieb.“ | |
Die Ermahnungen und der Druck gingen auch nach dem ersten Haushaltsentwurf | |
der neuen Regierung weiter. Im Juni 2016 mahnte der deutsche Finanzminister | |
Schäuble, Portugal werde einen neuen Bailout-Kredit brauchen, „wenn es | |
seine Verpflichtungen nicht einhält“. Kurz darauf drohte Valdis | |
Dombrovskis, Vizepräsident der EU-Kommission, man könnte Portugal wegen | |
Überschreitung der Defizitgrenze gewisse Gelder aus dem Strukturfonds | |
vorenthalten.[1]Der Drohung folgten allerdings keine Taten, weil es | |
Widerstand in der Kommission gab. | |
## Mehr Arbeit, mehr Tourismus,etwas mehr Geld | |
Viele nennen António Costa einen „geschickten“ Politiker. Bislang ist es | |
ihm gelungen, sowohl die mit Brüssel geschlossenen Vereinbarungen | |
einzuhalten als auch seine linken Verbündeten zu bedienen, die das Sparen | |
endlich beenden wollen. | |
Unter dem Regiment der Troika und der Rechtsregierung der PSD-CDS waren die | |
Realeinkommen der Portugiesen ständig geschrumpft. Der Mindestlohn war von | |
2011 bis 2014 auf 485 Euro brutto eingefroren (bei 14 Monatslöhnen), fiel | |
aber netto wegen der Sozialabgaben geringer aus. Die Renten und die | |
Beamtengehälter wurden ebenfalls gekürzt, das 13. und 14. Monatsgehalt | |
gestrichen. Die Höhe und Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld wurden | |
reduziert, und durch die Dämpfung der Progression erhöhte sich die | |
Steuerbelastung niedriger Einkommen. All das und die Kürzungen im | |
Gesundheits- und Bildungswesen und bei staatlichen Versorgungsunternehmen | |
summierte sich für die Portugiesen zu einem gewaltigen sozialen Kahlschlag. | |
Am Sitz der Gewerkschaft der Bus- und Straßenbahnfahrer von Lissabon, der | |
Associação Sindical do Pessoal de Tráfego da Carris (ASPTC), hat man an die | |
fünf Jahre nach 2010 nur schlechte Erinnerungen. Der 41-jährige João Pisco | |
erklärt: „Schon unter der Regierung Sócrates[2]betrugen die | |
Überstundenzuschläge nur noch 25 statt 50 Prozent. Als dann die Troika | |
auftauchte, sank unser Mindestlohn von 1100 Euro auf 900 Euro. Vom Staat | |
bekam die Carris kein Geld, sie musste sich bei den Banken verschulden.“ | |
Deshalb musste das Unternehmen überall kürzen: bei Gehältern, eingesetzten | |
Bussen und sonstigen Betriebskosten. Zugleich wurden die Fahrpreise erhöht. | |
„Das Angebot wurde schlechter, weil immer weniger Busse eingesetzt wurden. | |
Und die Fahrzeuge wurden nicht mehr repariert oder nur, indem man alte | |
Busse ausschlachtete!“ | |
Der Amtsantritt von António Costa wurde von allen Gewerkschaftern begrüßt. | |
Die Carris, von der Rechtsregierung zur Privatisierung vorgesehen, ging in | |
den Besitz der Stadt über. Die Beschäftigten bezogen wieder 14 | |
Monatsgehälter und Überstundenaufschläge von 50 Prozent. Im Januar 2016 hob | |
die Regierung den Beförderungsstopp auf. „Das Unternehmen hat wieder neue | |
Leute eingestellt“, berichtet Piscos Kollege Victor Santos, im letzten Jahr | |
waren es 70, in diesem Jahr 100. Die Zahl der Fahrgäste steigt, weil wieder | |
mehr Leute zur Arbeit fahren. „Aber wir haben immer noch zu wenig Busse. | |
Und ich verdiene 200 Euro weniger im Monat als 2011.“ | |
Nicht alle Sparmaßnahmen konnten innerhalb von zwei Jahren rückgängig | |
gemacht werden. Auch die Kaufkraft nimmt nur langsam zu. Die Regierung | |
Costa betreibt eine Politik der kleinen Schritte, aber in rascherer Folge | |
als geplant, weil ihre Verbündeten von der PCP und dem Linksblock sie | |
vorwärtstreiben. Die Sozialisten hatten sich verpflichtet, den Mindestlohn | |
wieder auf 600 Euro brutto pro Monat anzuheben. Nach Ablauf der halben | |
Amtszeit beträgt er 557 Euro brutto. Die Renten und Gehälter der | |
Staatsbediensteten haben wieder das frühere Niveau erreicht. Die Regierung | |
hat außerdem einige Steuererhöhungen zurückgenommen, insbesondere die | |
höhere Mehrwertsteuer auf bestimmte Waren und Dienstleistungen, etwa für | |
Strom und Gas, für verschiedene Lebensmittel und für die Gastronomie. | |
João Viera Lopes, der Präsident des Arbeitgeberverbands für Handel und | |
Dienstleistungen (CCP), ist zufrieden: „Dank der kleinen Erhöhungen beim | |
Mindestlohn und bei den Renten sehen wir, dass der Konsum wieder anzieht. | |
Die Leute verdienen 20, 30 Euro mehr im Monat, die sie für Lebensmittel, | |
Restaurantbesuche und Kleidung ausgeben.“ Der CCP hat als einziger | |
Arbeitgeberverband die Regierung Costa nicht von vornherein kritisiert. Der | |
Grund ist klar: 97 Prozent der Firmen im Bereich Handel und | |
Dienstleistungen sind sehr klein, deshalb wurden sie von der Austerität mit | |
voller Wucht getroffen. Auf dem Höhepunkt der Krise schlossen jeden Tag 100 | |
Geschäfte. „Die Technokraten von der Troika traten sehr dogmatisch auf“, | |
erzählt Lopes. „Sie verstanden nicht, dass ihre Maßnahmen das Land in eine | |
sehr schwere Rezession stürzen mussten. Es war, als redeten wir gegen eine | |
Wand.“ | |
Die Politik der Troika, von der damaligen PSD-CDS-Regierung noch | |
verschärft, trieb viele Portugiesen ins Ausland. Aber anders als bei der | |
großen Auswanderungswelle in den 1960er Jahren gingen vor allem | |
hochqualifizierte junge Leute. Laut Raquel Varela, Professorin in Lissabon | |
und auf die Geschichte der Arbeit spezialisiert, haben eine halbe Million | |
Menschen das Land verlassen, das sind 10 Prozent der erwerbsfähigen | |
Bevölkerung, darunter viele junge Leute mit Hochschulabschluss. Die | |
Regierung habe sie regelrecht dazu gedrängt. „In einer schwierigen sozialen | |
Situation ist Auswanderung ein Ventil“, aber inzwischen sei klar, dass es | |
ein großes Problem ist. | |
„Für ein Land ohne kräftigen demografischen Zuwachs ist Auswanderung eine | |
Gefahr“, sagt der Ökonom Professor João Duque. Ähnlich sieht es Artur | |
Soutinho: „Wir finden nicht genug qualifizierte Arbeitskräfte“, klagt der | |
Chef von More Textile, einem florierenden exportorientierten Hersteller von | |
Heimtextilien in Guimarães. Trotzdem sind der Professor wie der Unternehmer | |
Verfechter der Austeritätspolitik. Sie erkennen nicht, dass ihre heutigen | |
Sorgen womöglich etwas mit den Gehaltskürzungen und dem Gesetz aus dem Jahr | |
2012 über flexiblere Arbeitsbedingungen zu tun haben. | |
Die Verbündeten der Sozialistischen Partei einschließlich der Gewerkschaft | |
CGTP-IN werden langsam unruhig. Domingo Costa ist kommunistischer | |
Abgeordneter von Vila Nova de Famalicão, einer Region mit weit | |
unterdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit. Und dennoch, klagt er, werden | |
neue Arbeitskräfte nur befristet oder über Zeitarbeitsfirmen eingestellt: | |
„Die Krise dient als Begründung für alles: für Entlassungen, für die | |
Kürzung von Stundenlöhnen. Aber wenn es wieder aufwärts geht, kehrt man | |
nicht zu den alten Verhältnissen zurück.“ | |
Auch bei anderen gewerkschaftlichen Themen, etwa in Sachen Tarifverträge | |
oder in Fragen der prekären Arbeitsverhältnisse, gibt es keinen | |
Fortschritt. Man hat lediglich eine Anhebung des Mindestlohns und die | |
Zusage einer Besserstellung von prekär Beschäftigten im Staatsdienst | |
erreicht. „Die aktuelle Regierung findet sogar“, klagt Costa, „dass die | |
Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse eine sehr gute Sache war, und hat | |
nicht vor, daran etwas zu ändern.“ | |
Der Ministerpräsident sieht sich heute mit Forderungen nach mehr und | |
rascherer Umverteilung konfrontiert. Noch werden sie nur leise geäußert, | |
aber das könnte sich ändern. Gusmão erklärt für den Linksblock: „Wir wol… | |
öffentliche Investitionen in Bereiche, in denen wir ein Handelsdefizit | |
haben, etwa bei Energie oder Lebensmitteln. Wenn der Konsum anzieht, | |
wachsen auch die Importe, und das verschärft wiederum unser | |
Außenhandelsdefizit.“ | |
Damit benennt er einen neuralgischen Punkt der Regierungspolitik: Die | |
Maßnahmen zur Stabilisierung der Kaufkraft wurden überwiegend durch | |
Kürzungen bei öffentlichen Investitionen finanziert, die 2016 um 30 | |
Prozent eingebrochen sind. Heute liegen sie auf dem niedrigsten Niveau der | |
letzten 70 Jahre. | |
1↑ Der Vorwurf basierte allerdings auf Zahlen des Haushaltsjahrs 2015, also | |
vor der Regierungsübernahme durch die Sozialisten. | |
2↑ José Sócrates war Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei | |
Portugals und von März 2005 bis Juni 2011 Ministerpräsident. | |
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer | |
Gwenaëlle Lenoir und Marie-Line Darcy sind Journalistinnen. | |
9 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Gwenaëlle Lenoir | |
Marie-Line Darcy | |
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