| # taz.de -- Klimawandel und Waldsterben: It’s the ecology, stupid! | |
| > Wälder sind komplexe Ökosysteme, die sich ans Klima anpassen können. Die | |
| > Forstwirtschaft muss umdenken, wenn sie den Wald erhalten will. | |
| Bild: Da die Wälder ständig durchforstet werden, sind nur 4,5 Prozent der Bä… | |
| Von Waldsterben 2.0 sprechen die Umweltverbände in seltener Eintracht mit | |
| der Forstlobby. Doch was sich griffig anhört, verkleinert das Desaster im | |
| Wirtschaftswald. Das begann vor 200 Jahren und kollabiert nun in den ersten | |
| spürbaren Jahren der Erderwärmung. Die Hälfte der Wälder in Deutschland | |
| sind Kiefern- und Fichtenforste. In ihnen lebt der Geist des 19. | |
| Jahrhunderts, der die naturfeindliche Aufklärung mit den Grundüberzeugungen | |
| des Kapitalismus vereint. Bäume verkommen darin zu Produktionseinheiten, | |
| die auf einer arbeitsteilig bewirtschafteten Produktionsfläche Holz | |
| ansetzen sollen. „Vorrat aufbauen“ heißt das bei Förstern. | |
| Förster wählen mit der Säge aus, welche Bäume die angeblich besten | |
| Eigenschaften haben und deswegen mutmaßlich mal die stärksten Bäume werden. | |
| Alle drei bis fünf Jahre durchforsten sie den Wald, schneiden raus, was | |
| krumm wächst oder ihrer als „Zukunftsbaum“ auserwählten Pflanze zu nahe | |
| kommt. | |
| Dahinter steckt die forstwirtschaftliche Überzeugung, dass ein Baum dem | |
| anderen Baum das Wasser und die Nährstoffe im Boden nimmt. Und das Licht | |
| nimmt – Voraussetzung allen pflanzlichen Wachstums. Nach 200 Jahren | |
| derartig betriebener Forstwirtschaft sind 90 Prozent der Wälder in | |
| Deutschland in einem schlechten oder miserablen ökologischen Zustand, hat | |
| der ökologische Waldzustandsbericht ergeben. Da die Wälder ständig | |
| durchforstet werden, sind nur 4,5 Prozent der Bäume älter als 140 Jahre. | |
| Ein Großteil der Baumarten beginnt aber erst dann die für die biologische | |
| Vielfalt im Wald entscheidenden Qualitäten zu entwickeln. | |
| Förster übernehmen die Aufgabe, die die Natur im komplexen Ökosystem Wald | |
| einer Vielzahl von Organismen im Einklang mit dem Klima zugedacht hat. In | |
| Försters Waldsicht wachsen die von Menschenhand vereinzelten Bäume stärker | |
| heran. Sie glauben an den Baum als Einzelkämpfer, eine wissenschaftliche | |
| Überzeugung aus dem geistigen Humus des 19. Jahrhunderts. Heute wissen | |
| Ökologen, dass Bäume über ein Geflecht von Wurzeln Nährstoffe austauschen | |
| und sich gegenseitig stärken. | |
| Bäume wachsen daher besser, wenn sie mit anderen im Verbund stehen. | |
| Politisch und gesellschaftlich sind Ideologien von der Überlegenheit und | |
| der Zucht Einzelner überholt – die Forstwirtschaft muss diesen geistigen | |
| Schritt noch machen und die Grundvoraussetzungen des natürlichen Lebens | |
| anerkennen: Die Vielfalt und die Freiheit beim Wachsen stärken das | |
| Ökosystem. | |
| Natürliche Wälder bilden komplexe Ökosysteme, in denen Bakterien, Würmer, | |
| Spinnen, Käfer, Pilze, Vögel, Eidechsen, Frösche und Säugetiere vom Boden | |
| bis zur Baumkrone einen Lebensraum formen und nutzen. Je mehr | |
| Pflanzenarten, unterschiedliche Tiere, Pilze und Mikroorganismen | |
| zusammenleben, desto besser geht es dem Wald. Die biologische Vielfalt | |
| stärkt das Ökosystem Wald und schafft erst in einer Vielzahl von Prozessen | |
| die Dienstleistungen, von denen auch menschliches Leben abhängt. | |
| Bäume reinigen die Luft von Schadstoffen, humusreiche Waldböden speichern | |
| Wasser und schützen vor Überschwemmungen. Gut arbeitende Waldökosysteme | |
| haben sich an das Klima und den Boden angepasst. Sie kommen klar mit Dürre, | |
| Sturm, Eisregen. [1][Borkenkäfer oder vertrocknete Bäume] sind in der Natur | |
| keine Katastrophe, denn natürliche Waldökosysteme verarbeiten derartige | |
| Störungen und leben neu auf. Wenn ein Baum umknickt, wachsen auf seinem | |
| verfaulenden Stamm unzählige neue. | |
| ## Nachhaltigkeit reicht nicht | |
| Ökologische Wälder mit dicken, alten Bäumen speichern in Stämmen, Totholz | |
| und im Boden enorme Mengen Kohlenstoff. Wissenschaftler wie Pierre Ibisch | |
| von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde haben | |
| ausgerechnet, dass alte Wälder mehr CO2 speichern als junge Wälder mit | |
| dünnen Bäumen. Nur alte Wälder mit einer großen Biomasse [2][sind deswegen | |
| im Klimawandel relevant]. Doch alte Wälder zu erhalten oder Bäume altern zu | |
| lassen passt nicht in das wirtschaftliche Konzept der Forstwirtschaft. | |
| Ein Großteil der Forstbesitzer will keine ökologischen Wälder in 200 | |
| Jahren, die sich an die Auswirkungen des Klimawandels angepasst haben. Die | |
| Forstlobby will Subventionen für Aufforstungen mit schnell wachsenden | |
| Nadelbäumen aus Nordamerika und vom heißen Mittelmeer. Amerikanische | |
| Baumarten wie Küstentanne oder Douglasie wachsen hierzulande, bringen | |
| jedoch nichts für die biologische Vielfalt, unterstützen also auch nicht | |
| den Wald in seiner natürlichen Fähigkeit zur Anpassung an den Klimawandel. | |
| Die Förster haben vor 300 Jahren einen großen waldbaulichen | |
| Erkenntnisschritt gemacht und die Nachhaltigkeit erfunden. Deutschland war | |
| damals entwaldet. Der Berghauptmann Hans Carl von Carlowitz ersann die | |
| nachhaltige Holzwirtschaft, es sollte immer nur so viel Holz geschlagen | |
| werden, wie Bäume nachwachsen. Nachhaltigkeit reicht nicht, wie der Wald | |
| deutlich zeigt. | |
| Die gesamte Forstwirtschaft muss umdenken, wenn sie Wald schaffen und | |
| erhalten will. Waldbesitzer und Förster müssen mit der Natur arbeiten und | |
| die ökologischen Zusammenhänge respektieren, um im Einklang mit natürlichen | |
| Gesetzmäßigkeiten einen dann auch wirtschaftlich nutzbaren Wald zu | |
| schaffen. It’s the ecology, stupid! Die Ökologie stützt die Ökonomie. | |
| Was muss also passieren? Nichts. Nicht sägen, nicht durchforsten, keine | |
| Forstwege anlegen, nicht mit Maschinen in den Wald fahren. Förster und | |
| Waldbesitzer müssen die Wälder 30, 40 Jahre in Ruhe lassen und sehen, wie | |
| sich die Natur an die neuen Verhältnisse anpasst. Und dann nochmal 50 Jahre | |
| weitersehen. [3][Für das ökologisch sinnvolle Nichtstun] müssen die | |
| Waldbesitzer entschädigt werden, denn sie schaffen die Ökosysteme, die | |
| menschliches Leben in Zeiten der Erderwärmung ermöglichen werden. | |
| Das wäre ein starkes politisches Zeichen: Subventionen für die biologische | |
| Vielfalt im Ökosystem Wald. Mit anderen Worten: Der Staat investiert | |
| endlich in den Klimaschutz. | |
| 13 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Fokken | |
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