# taz.de -- ZDF-Krimireihe „Schuld“: Das Problem mit Schirach | |
> Im ZDF startet die neue Staffel der Serie „Schuld“ nach Ferdinand von | |
> Schirach. Der Autor gilt als Genie – aber was, wenn er bloß Voyeurismus | |
> bedient? | |
Bild: Larissa Leibhold (Elisa Schlott) wird in der Krimiserie Opfer einer Gewal… | |
Manche Menschen werden in ihrem Leben zu Opfern. Wie zum Beispiel die | |
15-jährige Larissa Leibhold. Ein Nachbar vergewaltigt sie, Leibhold wird | |
schwanger, neun Monate später gebärt sie ihr Kind auf der Toilette, | |
verliert es genau da. Ein Gericht klagt sie später wegen Kindstötung an. | |
Oder Sheryl. Unbekannte überfallen sie beim Joggen im Park, vergewaltigen | |
und töten sie. | |
Larissa Leibhold und Sheryl sind keine echten Personen. Sie sind Figuren in | |
der neuen Staffel [1][von „Schuld“], einer Krimiserie nach dem | |
gleichnamigen Erzählband von Bestsellerautor Ferdinand von Schirach. Die | |
Staffel startet am Freitag im ZDF. | |
Schirach, einst selbst Strafverteidiger, ist heute Mainstream-Autor. Seine | |
Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, millionenfach verkauft und | |
im Ausland [2][auf die Bühne gebracht]. Und obwohl seine Bücher letztlich | |
Krimis sind, wie sie zu Tausenden in den Buchhandlungen liegen, umgibt den | |
Namen „Schirach“ immer ein Hauch von Hochkultur. | |
## Eine simple Formel | |
Was aber, wenn Schirach einfach Voyeurismus bedient, das Leid anderer zur | |
einfachen Unterhaltung nutzt, und niemand es bemerkt? | |
Er selbst wird das nicht so sehen. Schirach inszeniert sich gerne als | |
Kritiker, als einer, der nicht nur Blutgeschichten erzählt, sondern in | |
seinen Büchern Fragen aufwirft über Moral und Schuld. Das ist richtig, | |
Schirachs Geschichten gehen mehr in die Tiefe, zeugen von mehr Kenntnis des | |
Rechtssystems, von einem Willen, dem Verbrechen wirklich nahezukommen, es | |
nicht nur in grausligen Bestsellerfarben zu zeichnen. Und doch ist da ein | |
zentrales Problem. Das Problem ist Schirachs Blick. | |
Entscheidend ist die Frage, aus welcher Position heraus Kunst entsteht. In | |
einer aktuellen ZDF-Dokumentation über ihn heißt es, Schirach schaue lieber | |
zu, am Rande. Denn da entstünden seine Geschichten über Abgründe, die | |
Ambivalenz und die Würde des Menschen. Das klingt einleuchtend, aber bei | |
näherer Betrachtung offenbart sich die Formel Schirachs als erschreckend | |
simpel. | |
## Frauen sind immer nur Opfer | |
Aus einer privilegierten Position – unbeteiligter, weißer, alter Mann am | |
Rande des Geschehens – entsteht nichts weiter als die Abbildung vom Leid | |
anderer. Ein Werk, das sich an Schicksalen bedient, sie sich für den Ruhm, | |
für die Unterhaltung eines möglichst breiten Publikums zunutze macht. Denn | |
bekannt ist, dass die Geschichten Schirachs nie nur reine Fiktion sind, er | |
will sie so oder ähnlich in seiner Karriere als Anwalt erlebt haben. | |
Diese Abbildung der Abbildung ist noch lange keine Kritik. Nichts daran ist | |
subversiv. | |
Tatsächlich sind es oft Frauen, deren Schicksal es in „Schuld“ werden muss, | |
Opfer von Gewalt und Verbrechen zu sein – und zwar einfach, weil sie Frauen | |
sind. Es ist dieselbe einfache Rechnung, die sich durch einen Großteil der | |
Krimiliteratur zieht: Du bist eine Frau, du bist ein Opfer. Schirach ist da | |
in guter Gesellschaft in der männlich dominierten Branche. Autorinnen sind | |
beim Krimi schlichtweg unterrepräsentiert. | |
## Autoren dominieren die Literatur | |
Die Schriftstellerin Nina George hat in Zusammenarbeit mit dem Institut für | |
Medienforschung an der Universität Rostock eine Untersuchung zum Thema | |
„Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“ veröffentlicht. | |
George selbst hat lange Zeit renommierte Krimis unter einem männlichen | |
Pseudonym veröffentlicht, denn sie wusste: Wer als Frau Krimiromane | |
schreibt, wird vom Markt kaum beachtet. „Frauen schreiben fürs Herz, Männer | |
fürs Hirn“, heißt es noch viel zu oft. | |
Auch das Ergebnis der Pilotstudie bestätigt das. „Autoren und Kritiker | |
dominieren den literarischen Rezensionsbetrieb“, heißt es darin. 75 Prozent | |
mehr Autoren als Autorinnen werden im literarischen Betrieb vorgestellt, 82 | |
Prozent der Männer rezensieren am liebsten auch männliche Autoren im Genre | |
Krimi. Also: Männer rezensieren Männer rezensieren Männer. Abbildung der | |
Abbildung der Abbildung. Im Fazit heißt es: „Genres wie Sachbuch und | |
Kriminalliteratur werden von Autoren wie Kritikern vereinnahmt.“ | |
Nicht Ferdinand von Schirach muss dieses Problem lösen. Aber er ist eben | |
auf unübersehbare Art auch Teil davon. Männliche Autoren wie Schirach | |
produzieren Bücher, die viel zu oft vom sogenannten male gaze bestimmt | |
werden, dem männlichen Blick auf die Wirklichkeit, auch auf die von Frauen. | |
## Selbstreflexion allein reicht nicht | |
Der Begriff male gaze stammt aus der Filmtheorie. Sucht man diesen male | |
gaze bei Schirach, stößt man schnell auf Larissa Leibhold und Sheryl, die | |
beiden zentralen Frauenfiguren in der neuen Staffel „Schuld“ – deren | |
einzige Funktion in der Geschichte ist, Opfer zu sein. Dieser male gaze | |
mischt sich auf toxische Weise mit einem ausgeprägten Voyeurismus. | |
Dass Schirachs Krimiserie so erfolgreich ist, zeigt uns, wie unkritisch in | |
der Kulturproduktion mit dem Leid anderer, mit Gewalterfahrungen von Frauen | |
umgegangen wird. | |
Es braucht, auch in der Literatur und im Film, mehr Selbstreflexion. Es | |
braucht einen Schirach, der anerkennt, welche Verantwortung er hat – als | |
Ex-Strafverteidiger und als Autor. Und es braucht dringend mehr Frauen. | |
Mehr echte, die schreiben und gelesen werden. Und mehr Frauenfiguren, die | |
mehr sind als Opfer. | |
13 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
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