# taz.de -- Lit Cologne in Köln: Witzige Liebeserklärungen | |
> Bei der Lit Cologne lasen Sarah Kuttner, Robert Habeck und Ferdinand von | |
> Schirach. Doch Nachwuchsautoren mit Lernschwierigkeiten stachen sie aus. | |
Bild: Es braucht mehr Emotion, mehr Drama, fand Sarah Kuttner beim Schreiben ih… | |
Am letzten Tag wird man dann ständig gefragt, welche Veranstaltung die | |
beste gewesen sei. Und so einfach lässt sich das nicht sagen. Mal war bei | |
der Lit Cologne viel Witz, mal großer Ernst, mal Monotonie, mal Spannung, | |
und es kommt ja auch immer drauf an, wie die eigene Stimmung so ist. | |
Hängen geblieben als besonders, besonders schön ist jedenfalls der | |
Remix-Abend vom vergangenen Montag. Die Comedia in der Kölner Südstadt ist | |
ausverkauft, deutlich jünger das Publikum als sonst. Was da gelesen wird, | |
stammt aus der Feder junger Nachwuchsautoren mit Lernschwierigkeiten. Viele | |
Wochenenden saßen sie zusammen beim Textworkshop und remixten aus mehr oder | |
weniger bekannten Textstellen der Weltliteratur eigene Geschichten. In | |
Zusammenarbeit mit mittendrin e. V. und dem Poetry-Slammer Florian Cieslik | |
entstanden so kurze, oft wunderbar wundersame Texte, vorgelesen von | |
Schauspieler Benno Führmann und Schauspielerin Carina Kühne, die selbst mit | |
Down-Syndrom geboren wurde. Die Idee des Abends: Vielfalt lebendig auf die | |
Bühne bringen. | |
Aus Schillers Gedicht „Der Handschuh“ wurden Miniaturen aus dem Zoo, über | |
kindliche Mutproben und heldenhafte Rettungsaktionen. Aus einer Szene aus | |
David Mitchells Roman „Cloud Atlas“ wurden kleine Meisterwerke, | |
Liebeserklärungen an Köln, den Dom, die Südstadt, die sich kein | |
Stadtmarketing besser hätte ausdenken können. Dramatisch und witzig, | |
ehrlich und verspielt ist der Abend, der nicht nur die Vielfalt feiert, | |
sondern auch ganz neue Perspektiven eröffnet. | |
## Europas größtes Festival | |
Die Lit Cologne gilt als Europas größtes Literaturfestival. Nach 12 Tagen | |
ging sie am Wochenende zu Ende, erneut mit 95 Prozent Auslastung und | |
111.000 Besuchern bei rund 200 Lesungen, Themenabenden, politischen | |
Diskussionen. Gelesen wurde in Kirchen, der Bahnhofsmission, mal mehr, mal | |
weniger tristen Hallen, Konzertsälen, Theatern, auf einem Literaturschiff. | |
Dank relativer Kompaktheit der Millionenstadt alles doch recht gut zu | |
erreichen. | |
Nach „Remix“ etwa geht es auf dem Fahrrad nur zwei Kilometer die Ringe | |
entlang gen Norden, zur Volksbühne, wo Sarah Kuttner ihren neuen Roman | |
vorstellt. In „Kurt“ geht es um eine Patchworkfamilie, die samt Kind ins | |
Berliner Umland zieht. Beim Schreiben merkte Kuttner, es braucht mehr | |
Emotion, mehr Drama, „also musste jemand sterben, und es konnte ja keine | |
der Hauptfiguren sein“. Sie lässt den kleinen Kurt also vom Klettergerüst | |
fallen. Genickbruch. Man wird etwas sauer auf Kuttner, weil sie das Kind | |
tötet. Das Publikum zögert mit dem Applaus, als Kuttner die entsprechende | |
Stelle liest. Immerhin habe sie sich selbst schlecht dabei gefühlt, sagt | |
sie. Letztlich sei der Tod auch nur Auslöser für die folgende Geschichte um | |
die dann gar nicht mehr so patchworkige Familie. | |
## von Schirach im Husteninferno | |
Der nächste Abend ist ein Husteninferno. Im Zehn-Sekunden-Takt röchelt | |
jemand im WDR-Funkhaus. Der Eingangstext, den Ferdinand von Schirach | |
vorliest, ist sicherlich gut, handelt von seiner Kindheit, seiner Jugend, | |
aber das Hirn verfolgt den Publikumshusten. Man fragt sich, 1. ob Husten | |
ansteckt – „Oh, wenn sie hustet, huste ich jetzt auch mal“ –, ob 2. die | |
Luft hier besonders trocken ist und ob 3. nicht einfach alle mal auf den | |
Applaus warten könnten mit ihrem Husten. | |
Ein Wunder, wie von Schirach sich bei diesem Lärm konzentrieren kann. Davon | |
abgesehen ist es ein angenehm unprätentiöser Abend. Schirach gewohnt sanft | |
und klug, die Texte kurzweilig und anregend. Sein neues Buch „Kaffee und | |
Zigaretten“, nach eigener Aussage das „Einzige, was mir beim Schreiben | |
hilft“, hat keinen roten Faden. Es sind Beobachtungen, Episoden, | |
Begegnungen, Miniaturen, die thematisch so weit gestreut sind wie die | |
Interessen von Schirachs: Boxen, AfD, Strafrecht, Biografisches, Oldtimer – | |
und die Würde des Menschen. | |
Zehn Minuten läuft man dann zum Rhein, das Literaturschiff noch fest | |
vertäut, Hunderte Fangirls und Fanboys im mittleren Alter warten schon auf | |
Grünen-Chef Robert Habeck, der in „Wer wir sein könnten“ dem Zusammenhang | |
von Sprache und Politik nachspürt. | |
## Habeck hatte schon bessere Auftritte | |
Das Schiff fährt unter der Deutzer Brücke gen Süden, als Habeck die | |
Bundespolitik zwischen Sommer 2017 und Sommer 2018 analysiert und wenig | |
später dafür plädiert, von rechts besetzte Begriffe wie Heimat, | |
Patriotismus, Deutschland zurückzuerobern. Irgendwie springt kein Funke | |
über, außer auf die ohnehin schon vom Habeck’schen Feuer angesteckten Fans. | |
Lang redet Habeck, auch mal gut, aber vor allem lang. Er verzettelt sich, | |
verläuft sich in Sprachbildern. Die Gebärdendolmetscherinnen kommen kaum | |
dazu, sich abzulösen, weil sie dafür eine kurze Sprechpause brauchen. | |
Er hatte schon bessere Auftritte. Als das Schiff eine elegante | |
180-Grad-Wende auf dem Rhein hinlegt, kann Habeck den größten Lacher für | |
sich verbuchen: „Ich will Streit und Auseinandersetzung. Es wäre ein | |
Albtraum, wenn alle die Grünen wählen würden – die Mehrheit würde mir sch… | |
reichen.“ Moderatorin Ferdos Forudastan kontert: „Bescheidenheit, dein Name | |
ist Habeck“, und fasst den Abend damit ganz gut zusammen. | |
Einen Tag später stellt an gleicher Stelle der schottische Autor John Niven | |
sein neues Buch „Kill ’em all“ vor. Als das Schiff im Sonnenuntergang den | |
Dom passiert, brüllt er etwa 30 Variationen von „Fuck“ ins Mikro, als er | |
daraus liest – nichts für einen Kindergeburtstag, aber unterhaltsamer und | |
eindrucksvoller als Habeck allemal. Am Donnerstag verliebt man sich dann | |
noch kurz in Frankreichs Literaturstar Édouard Louis, den eloquenten jungen | |
Mann, der viel Kluges sagt über soziale Schichten, Gewalt, Homophobie und | |
Scham, und bemerkt nebenbei, dass nach 60 Minuten erst zwei Mal gehustet | |
wurde. | |
Nächstes Jahr dann Jubiläum, 20 Jahre Lit Cologne. Es soll noch größer | |
werden, noch prominenter, natürlich noch besser. Habeck ist bestimmt auch | |
wieder da. | |
1 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Paul Wrusch | |
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