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# taz.de -- Sarah Kuttners Roman „Kurt“: Trauer im uncoolen Brandenburg
> Nicht nur Frauen-Zeitschriften sollten dieses Buch loben: Sarah Kuttner
> hat einen klugen Roman über die moderne Patchworkfamilie geschrieben.
Bild: Folgt ihren Figuren mit leicht ironischem, aber niemals zynischem Interes…
Seite 136, da ist es dann so weit. Da taucht er auf, der „Papa, der die
Ost-taz“ liest. Denn, um das gleich aus dem Weg zu räumen: Sarah Kuttner
hat eine Verbindung zur taz. Als sie ein Kind war, baute ihr Vater Jürgen
Kuttner in den hyperventilierenden Monaten zwischen Mauerfall und
Wiedervereinigung die kurzlebige Ost-Ausgabe dieser Zeitung auf.
Es ist also auch bei „Kurt“, ihrem neuen Roman, so, wie es bei den drei
Romanen davor auch schon war: Die Geschichte ist gespickt mit
autobiografischen Details, die Protagonistin erinnert – von der Berliner
Kodderschnauze bis zum exquisiten Indie-affinen Musikgeschmack – sehr an
die Autorin, aber autobiografisch ist „Kurt“ trotzdem und sehr ausdrücklich
eben nicht gemeint.
Auch das Haus, das Romanheldin Lena mit ihrem Freund Kurt kauft und
renoviert, liegt zwar in derselben Stadt, nämlich in Oranienburg im Norden
Berlins, in der auch die Autorin ein Wochenendgrundstück besitzt. Aber Lena
und Kurt ziehen richtig raus in „dieses schöne, raue Brandenburg“, sie
wollen leben dort draußen im Speckgürtel, weil dort der sechsjährige Sohn
von Kurt aus einer früheren Beziehung, der auch Kurt heißt, mit seiner
Mutter lebt. Sie wollen sich einlassen auf eine Gegend, die man, wie Lena
feststellt, erst ebenso lieben lernen muss wie ihre Bewohner.
In diesem Land kreischen die Tischkreissägen und heulen die
Rasenkantentrimmer, dieses Land „tut nicht so, als wäre es etwas, was es
nicht ist. Brandenburg ist einfach nur da.“ Kuttner schreibt wissend, mit
freundlichem Blick und voller Detailfreude über eine Gegend, die der
Berliner gewöhnlich bloß durchquert auf seinem Weg in die viel schönere
Uckermark oder gleich an die Ostsee. Sie zählt die Friedhöfe im Stadtgebiet
nach, wandert über die pittoreske, nicht mehr befahrene Bahnbrücke über den
Oder-Havel-Kanal und erwähnt, dass „noch etwa dreihundert Bomben aus dem
Zweiten Weltkrieg“ auf Entschärfung warten.
## Gern mal „irre schlechtgelaunt“
Aber die Bewohner dieses Landes sind echte Brandenburger, brennen Schnaps
im Keller, trinken auf Grillpartys Sangria aus dem Tetra-Pak, verbringen
ihre Freizeit bei Pflanzen-Kölle und sind gern mal „irre schlechtgelaunt“.
Vor allem aber sind sie keine überzeichneten Originale, wie sie die aktuell
grassierenden Brandenburg-Krimis, die Romane von Bela B. oder demnächst
Manfred Maurenbrecher bevölkern. Kuttner dient Brandenburg nicht nur als
Hintergrundfolie für ein Panoptikum aus möglichst skurrilen Dorftrotteln,
sondern sie porträtiert dieses immer noch extrem uncoole Bundesland
durchaus realistisch und mit viel leutseliger Neugier.
In den ersten Kapiteln, in denen das Paar das Haus und die neuen Nachbarn
kennenlernt, die Umgebung erkundet und die spröde Schönheit des
Oberhavellandes beginnt schätzen zu lernen, ist der Ton leicht und heiter,
auch wenn die Protagonistin mit ihrer Rolle als Ersatzmutter zu kämpfen hat
und sich fragt, ob sie die Einzige ist, die es seltsam findet, wenn das
Kind einen Kackehaufen mitten in die Küche setzt. Kuttner gelingt da eine
sehr schöne, durchaus humorige, aber nicht gehässige Innensicht auf eine
moderne Patchworkfamilie und ihre strukturell angelegten emotionalen
Probleme, auf die ganzen Untiefen und Verunsicherungen, die auch und gerade
dann entstehen, wenn man sich seine Familie selbst aussucht. Wie
Zuständigkeiten und Gefühle, Verantwortlichkeiten und Liebe sich mal
ergänzen, mal in die Quere kommen, wie eine Liebe entsteht und wächst, das
wird in „Kurt“ mit leichter Hand, aber trotzdem einfühlsam erzählt.
Kuttner hat einmal beklagt, dass ihre Romane vom Feuilleton im besten Falle
ignoriert, in Frauenzeitschriften dafür gefeiert werden. Darin wird, das
ist zu fürchten, auch „Kurt“ nichts ändern, obwohl die Handlung eine
dramatische Wendung nimmt. Der Tod kommt leise, unspektakulär und vor allem
schuldlos. Aber als eine der Figuren stirbt, behält der Roman seine leichte
Gangart bei. Zum Glück. Denn hier zeigt sich die Autorin Kuttner ganz auf
der Höhe: Statt im Pathos zu versinken, folgt sie ihren Figuren in die
Trauer mit demselben mitfühlenden, leicht ironischen, aber niemals
zynischen Interesse, mit dem sie sie schon durch glücklichere Zeiten
begleitet hat.
Nun werden die Beziehungen neu sortiert, die Gefühle machen sich auf ins
Unbekannte und die Liebe, die vor allem, wird auf die Probe gestellt.
„Kurt“ beantwortet Fragen, ohne sie ausdrücklich zu stellen. Fragen wie:
Was macht so ein Verlust mit denen, die zurückbleiben? Wie verkomplizieren
sich eh schon unübersichtlichen Beziehungsgeflechte? Und die eine, alles
entscheidende Frage: Wie geht das eigentlich, Trauerarbeit?
Und, wie geht’s? Man kann zu Dusty Springfield tanzen und im Gewitterregen
weinen. So viel Pathos darf sein in „Kurt“. Aber noch wichtiger, wir sind
schließlich in Brandenburg, im knurrigen, pragmatischen Brandenburg: den
Garten immer ganz früh morgens wässern, wenn die Sonne noch nicht so
brennt.
23 Mar 2019
## AUTOREN
Thomas Winkler
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Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Brandenburg
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Lesestück Recherche und Reportage
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Gegenwartsliteratur
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Journalismus
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