# taz.de -- Solidarisches Grundeinkommen in Berlin: Die Nicht-Überwindung von … | |
> Das „Solidarische Grundeinkommen“ ist angelaufen. Erwerbsloseninitiativen | |
> halten die Idee des Regierenden Bürgermeisters für einen schlechten | |
> Scherz. | |
Bild: Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und seine Art, Hartz … | |
Vor einem der Eingänge zum Neuköllner Jobcenter in der Mainzer Straße steht | |
eine Frau und verteilt stillschweigend Werbeflyer eines Anwalts. Am anderen | |
Eingang in der Hermannstraße sprechen Mariam* und andere von der Gruppe | |
Solidarische Aktion Neukölln mit eigenen Flyern Jobcenter-Besucher an. Auf | |
einem Campingtisch, den sie mitgebracht haben, liegen Kaubonbons und noch | |
mehr Flyer, vom Bündnis Zwangsräumungen Verhindern oder von Deutsche Wohnen | |
und Co. Enteignen. Ihr eigener Flyer fragt in Knallgelb: „Das Jobcenter | |
nervt?“ | |
Zwar sind die Arbeitslosenzahlen in der Hauptstadt in den letzten zehn | |
Jahren gesunken: 2009 lebten in Berlin noch 236.669 Arbeitslose, 2018 waren | |
es 156.230. Das entspricht einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 14 auf | |
8,1 Prozent. | |
Doch für Mariam und ihre Gruppe hat jeder Einzelne von ihnen, der Hartz IV | |
bezieht, potentiell Ärger mit dem Jobcenter. „Weil das Geld zu spät kommt, | |
weil Sanktionen angedroht werden“, sagt Mariam. „Dabei brauchen die | |
Menschen das Geld zum Überleben.“ | |
Aber nicht nur die Solidarische Aktion Neukölln, auch die Sozialdemokraten | |
in Berlin und der Republik wollen Hartz IV hinter sich lassen. Zumindest | |
sagen sie das immer wieder. Letztere erhoffen sich davon, den Abstieg ihrer | |
Partei aufzuhalten, ihr soziales Profil zu schärfen. In Berlin hat der | |
Regierende Bürgermeister Michael Müller einmal sogar gesagt: [1][„Hartz IV | |
werden wir nicht von heute auf morgen abschaffen.] Aber man muss mal | |
irgendwo anfangen.“ | |
## Das Ende von Hartz IV? | |
Das Ende von Hartz IV möchte Müller konkret mit dem sogenannten | |
Solidarischen Grundeinkommen (SGE) einläuten. Laut Senatsverwaltung für | |
Integration, Arbeit und Soziales sollen in diesem Jahr 250, bis Ende 2020 | |
dann 1.000 Berliner eine gemeinwohlorientierte, | |
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung bei landeseigenen Unternehmen | |
oder bei freien Trägern aufnehmen. Entlohnt werden sollen sie nach Tarif, | |
mindestens nach Mindestlohn. Sie sollen in Schulen und Kitas bei der | |
Essensausgabe helfen, als Hausmeistergehilfen der landeseigenen | |
Wohnungsunternehmen oder als Mobilitätshelfer bei der BVG. | |
Die ersten beiden Verträge wurden im August bei der landeseigenen | |
Wohnungsbaugesellschaft WBM und bei der Inklusionshilfe Kopf, Hand + Fuß | |
abgeschlossen. Zielgruppe sind Menschen, die maximal drei Jahre arbeitslos | |
sind. Vergangene Woche hat die Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linke) | |
mitgeteilt, dass mehr als 200 Berliner Arbeitgeber Interesse angemeldet und | |
1.800 Stellen eingereicht haben. Das Projekt dauert fünf Jahre und kostet | |
das Land Berlin 200 Millionen Euro. Der Senat garantiert den | |
SGE-Arbeitnehmern, dass sie danach im öffentlichen Sektor weiterbeschäftigt | |
würden, falls sie nicht bei den landeseigenen Unternehmen bleiben könnten. | |
Anfang August hat das Pilotprojekt begonnen – und das im Vergleich zu den | |
vorangegangenen Debatten darum weitestgehend unbeachtet. Das mag daran | |
liegen, dass Müller zunächst auf bundesweite Verbreitung und einen größeren | |
Stellenumfang gehofft hatte und darin enttäuscht wurde – weil sein Projekt | |
mit dem „Teilhabechancengesetz“ von Bundesarbeitsminister und Müllers | |
Parteikollege Hubertus Heil kollidiert ist. | |
Letzteres gilt seit Jahresbeginn. Vom SGE unterscheidet es sich zunächst im | |
Umfang: für 50.000 Arbeitsplätze – und hier auch in der privaten Wirtschaft | |
– gibt der Bund in fünf Jahren Lohnkostenzuschüsse im Umfang von vier | |
Milliarden Euro aus. Während Heils Vorstoß sich vor allem an Menschen | |
richtet, die sechs oder mehr Jahre arbeitslos sind, zielt Müllers SGE auf | |
Menschen ab, die mindestens ein Jahr und maximal drei Jahre arbeitslos | |
gemeldet sind. In Berlin existieren nun beide Programme parallel. | |
## Kein bedingungsloses Grundeinkommen | |
Dass Müller mit dem Namen seines Programms einen falschen Eindruck erweckt, | |
ist ein weiterer Unterschied zu Heils Programm. Denn anders als | |
„Solidarisches Einkommen“ suggeriert, handelt es sich um kein | |
bedingungsloses Grundeinkommen, sondern um eine Art öffentliche | |
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die keineswegs innovativ ist, sondern ähnliche | |
Vorgänger hat. Als „Etikettenschwindel“ bezeichnet die Berliner CDU Mülle… | |
Pilotprojekt, wenn auch aus anderen Gründen als Erwerbsloseninitiativen. | |
Mariam von der Solidarischen Aktion Neukölln findet, dass Müllers Programm | |
ein „Scherz“ sei. Das Solidarische Grundeinkommen sei weder solidarisch, | |
noch ein Grundeinkommen, sondern eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, „weil es | |
Jobs sind, die Leute machen, um dafür Geld zu bekommen“. Müllers Programm | |
sei alles andere als eine „bedingungslose Existenzsicherung für alle“. Die | |
Arbeitnehmer würden gar zu Bittstellern gemacht – obwohl sie ja „nicht | |
netterweise etwas vom Staat bekommen, ohne dafür etwas zu leisten“. | |
Deswegen werden sie und ihre Gruppe auch weiterhin zwei Mal im Monat vor | |
dem Jobcenter stehen und Betroffene ansprechen. Neben diesen spontanen | |
Begegnungen treffen sich die Mitglieder zwei Mal im Monat in der | |
Friedelstraße zum sogenannten „Anlaufspunkt“. Hier kommen Menschen hin, die | |
Probleme mit dem Jobcenter haben und die Struktur der Solidarischen Aktion | |
kennenlernen wollen. An zwei weiteren Tagen im Monat gibt es einen | |
„Bürotag“, an dem Konkretes besprochen und organisiert wird: | |
Antwortschreiben oder Begleitungen zum Jobcenter. | |
„Niemand soll mit seinen Problemen alleine sein“, fasst Sebastian*, ein | |
anderes Mitglied, das Prinzip der Gruppe zusammen. Sie hat sich vor über | |
einem Jahr aus Personen gegründet, die selbst sozialen Stress hatten, | |
Konflikte mit Jobcenter, Vermietern oder bei der Arbeit. Das Kollektiv | |
versteht sich als eines der gegenseitigen Unterstützung und des | |
Wissensaustauschs, das offen ist für neue Menschen – aber nicht als | |
klassische Beratungsstelle. „Wir sind keine Experten, aber gemeinsam haben | |
wir viel Wissen“, sagt Sebastian. | |
## Ursachen und Auswirkungen von Erwerbslosigkeit | |
An dem Montagvormittag vor dem Jobcenter Neukölln kommt ein Mann, der sich | |
als Momo vorstellt. Er erzählt, dass er beim Jobcenter ein Darlehen | |
beantragt habe, um Familienmitgliedern Flugtickets zu kaufen, die sich auf | |
der Flucht aus dem kriegsgeschüttelten Jemen befinden. Nachdem deren Visa | |
zu verstreichen drohten, habe er privat Schulden aufgenommen, um die | |
Tickets zu bezahlen. Jetzt wolle das Jobcenter das Darlehen aber nicht mehr | |
auszahlen. Momo packt einen vollgehefteten Ordner aus seinem Rucksack und | |
sucht die Schreiben dazu raus. Er und die Solidarische Aktion haben sich | |
vor dem Jobcenter kennengelernt, jetzt kommt Momo auch zu den Treffen in | |
die Friedelstraße. Zwischen zehn und 15 Menschen treffen sich bei den | |
Terminen der Solidarischen Aktion derzeit. | |
Auch die Erwerbsloseninitiative Basta aus dem Wedding versteht ihre Arbeit | |
als Basisarbeit, das heißt: Die Beratungen, die sie drei Mal wöchentlich in | |
verschiedenen Sprachen anbietet, versteht sie nicht als reinen Service. | |
Vielmehr sollen die Beratungsgespräche einen Impuls dafür geben, sich zu | |
organisieren, gemeinsam aktiv zu werden. | |
Claudia Kratsch, 59 Jahre alt, selbst erwerbslos, erzählt im Ladenraum von | |
Basta in der Schererstraße, dass sich mittlerweile mehrere hundert Menschen | |
im Kontaktpool der Initiative befänden. Davon seien knapp 50 aktiv, etwa | |
bei Begleitungen zum Jobcenter oder auch bei Konfrontationen mit | |
Vermietern. Jährlich, so die Initiative, berät Basta über 1.000 Personen | |
und setzt Rechtsansprüche in der Höhe von 100.000 Euro gegen das Jobcenter | |
durch. | |
Die Menschen, erzählt Kratsch, kommen nicht nur aus dem Wedding, sondern | |
aus der ganzen Stadt. Arbeitslosigkeit versteht sie als systemimmanent: In | |
einem ihrer Texte schreibt die Initiative, dass die Existenz von | |
Arbeitslosen „Noch-Arbeitende“ unter Druck setzen solle – als permanente | |
und drohende Erinnerung daran, dass letztere jederzeit ersetzbar sind. | |
Ihnen gehe es deshalb darum, „die Ursachen und Auswirkungen von | |
Erwerbslosigkeit politisch zu erarbeiten“, so die Initiative. | |
## Spiel mit der Hoffnung von Armen | |
So erhofft sich Basta auch wenig von Projekten wie dem von Müller. „Die SPD | |
versucht einen Begriff zu kapern, der für viele arme Leute mit Hoffnung | |
verbunden ist: das Bedingungslose Grundeinkommen“, sagt Kratsch. Auch sie | |
spricht von „altem Wein in neuen Schläuchen“, von einer Neuauflage der | |
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. „Weil wir derartige Vorschläge kennen, | |
diskutieren wir bei Basta wenig über solche Neuauflagen.“ | |
Das Ende von Hartz IV bleibt beim Regierenden Bürgermeister Michael Müller | |
also erst mal Rhetorik. Sebastian und seine Solidarische Aktion Neukölln | |
wollen diesem mit öffentlich wirksamen Aktionen näherkommen. Sebastian war | |
früher beim Bündnis Zwangsräumungen verhindern aktiv. | |
Er erinnert sich daran, wie unbekannt das Wort Gentrifizierung vor Jahren | |
noch war. Heute ist es das Stadtthema schlechthin. „Weil es mittlerweile | |
auch die Mittelschicht und die Journalisten betrifft, die Artikel darüber | |
schreiben.“ Wer selbst nicht betroffen sei, dem falle die Empathie zwar | |
schwer, so Sebastian. Trotzdem versucht die Gruppe weiter auf das Jobcenter | |
und seine Betroffenen aufmerksam zu machen. 2015 hatten Zwangsräumung | |
verhindern und Basta dem Jobcenter Neukölln mit einer Aktion vor Ort | |
[2][den „Goldenen Knüppel“ verliehen], um dessen repressive Praxis zu | |
problematisieren. Für die Solidarische Aktion, die gerade neue Aktionen | |
plant, dient das als eine Inspiration. | |
*Die Namen wurden von der Redaktion geändert | |
10 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Diskussion-ueber-Hartz-IV/!5533349 | |
[2] http://berlin.zwangsraeumungverhindern.org/2015/04/24/goldener-knueppel-fue… | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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