| # taz.de -- Überfüllte Friedhöfe in Istanbul: Kein Platz für Tote | |
| > Istanbul wächst stetig. Schwieriger als eine Wohnung ist ein Platz für | |
| > ein Grab zu finden. Denn Gräber bleiben und Friedhöfe wachsen nicht | |
| > weiter. | |
| Bild: Alles voll? In Istanbul gibt es zu viele Tote für zu wenig Platz | |
| Istanbul taz | „Völlig perplex war ich. Damit hatte ich gar nicht | |
| gerechnet, es war zum verzweifeln“, erzählt Selim B. (Name von der | |
| Redaktion geändert) und schüttelt auch im Nachhinein noch den Kopf. „Die | |
| wollten mir einfach nicht helfen“, sagt er. | |
| Die, das sind die Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung von Karacaahmet, dem | |
| größten innerstädtischen Begräbnisplatz in Istanbul. Der [1][Friedhof | |
| l]iegt in Üsküdar, auf der asiatischen Seite der Stadt. Er ist nicht nur | |
| der größte, sondern auch der älteste muslimische Friedhof der Stadt, denn | |
| er wurde bereits vor 700 Jahren angelegt, noch bevor die Osmanen 1453 | |
| Konstantinopel eroberten. Der Friedhof ist nicht nur riesig, mit rund 300 | |
| Hektar fast ein Drittel größer als der Berliner Tiergarten, sondern auch | |
| voller verwunschener Plätze, wo im Schatten großer Bäume alte osmanische | |
| Grabstelen, oft schon etwas in Schieflage geraten, für die Ewigkeit | |
| dahindämmern. | |
| Hier, das war der größte Wunsch von Selims Großvater, wollte er begraben | |
| werden, und zwar an der Grabstelle, wo schon der Urgroßvater Selims | |
| beerdigt worden war. Nach dem Tod des Großvaters ging Selim zur | |
| Friedhofsverwaltung, um sich den Grabplatz der Familie zeigen zu lassen. | |
| Doch damit begann das Problem. In den neuen, mittlerweile digitalisierten | |
| Plänen des Friedhofes, tauchte der Urgroßvater nicht mehr auf. „Sie müssen | |
| das Grab finden und es muss einen lesbaren Grabstein haben, sonst können | |
| wir ihren Großvater hier nicht beerdigen“, wurde ihm gesagt. Warum? „Es | |
| gibt keinen Platz mehr in Karacaahmet“. | |
| ## Ein Grab für die Ewigkeit | |
| Anders als in Deutschland fällt ein Grabplatz nicht nach einer bestimmten | |
| Zeit an die Kommune zurück, die den Friedhof betreibt, [2][sondern bleibt | |
| auf ewig im Besitz der Familie.] Deshalb muss der Friedhof bei Bedarf | |
| erweitert werden, was in den Innenstadtbezirken Istanbuls meist nicht mehr | |
| möglich ist. Die historischen Friedhöfe am Goldenen Horn und entlang des | |
| Bosporus sind durch die Bevölkerungsexplosion in Istanbul längst von | |
| Straßen und Wohnblocks so eingekeilt, dass eine Erweiterung ausgeschlossen | |
| ist. | |
| Zincirlikuyu, der größte Friedhof auf der europäischen Seite, hoch über dem | |
| Bosporus in Levent, ist in den letzten zwanzig Jahren von den | |
| Wolkenkratzern des neuen Finanzdistrikts umstellt worden, die Friedhöfe in | |
| Eyüp und Edirnekapı, auf der historischen Halbinsel, nehmen schon lange | |
| keine Begräbnisse mehr vor, sondern sind Teil des historischen Ensembles, | |
| oder, wie in Eyüp, Teil eines muslimischen Wallfahrtsorts. | |
| Das gilt auch für die allermeisten christlichen und jüdischen Friedhöfe. | |
| Bis zum Ersten Weltkrieg betrug die nicht-muslimische Bevölkerung mehr als | |
| ein Drittel der Bewohner der Stadt. Die Vernichtung, Vertreibung und | |
| Umsiedlung des größten Teils der Christen hat dazu geführt, dass heute in | |
| Istanbul nur noch 5.000 griechisch-orthodoxe Christen und rund 60.000 | |
| Armenier leben. Was geblieben ist, sind ihre Friedhöfe. Vom Verkehr umtost, | |
| von Mauern verdeckt, halten sie die Erinnerung an ein anderes, früheres | |
| Istanbul wach. Doch diese [3][innerstädtischen Friedhöfe werden bereits von | |
| der Immobilienbranche ins Auge gefasst.] | |
| In Kuzguncuk, auf der asiatischen Seite der Stadt am Bosporus, liegt der | |
| einstmals größte jüdische Begräbnisplatz Istanbuls. Die meisten Juden kamen | |
| auf Einladung des Sultans zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf der Flucht aus | |
| Spanien nach Istanbul. Anders als Armenier und Griechen wurden sie auch in | |
| den Turbulenzen während und nach dem Untergang des Osmanischen Reiches | |
| weitgehend in Ruhe gelassen. Doch ein wachsender Antisemitismus vertreibt | |
| sie seit Jahren aus der Stadt. Viele, die nach der Gründung Israels noch | |
| geblieben waren, gehen jetzt. Das einstmals große Areal des jüdischen | |
| Friedhofs in Kuzguncuk wird nur noch zu einem kleinen Teil genutzt, der | |
| andere Teil ist aufgelassen und soll zur Bebauung freigegeben werden. | |
| ## Ein teures Unterfangen | |
| Denn die Stadt wächst weiter, gerade in der Innenstadt sind Wohnungen | |
| begehrt, aber die innerstädtischen Friedhöfe wachsen nicht mehr mit. Wer | |
| dennoch unbedingt am Bosporus beerdigt werden will, muss rechtzeitig dafür | |
| Geld zurücklegen. Auf dem Friedhof oberhalb von Bebek, einem Prominentenort | |
| direkt am Bosporus, muss man den Wert eines Kleinwagens hinblättern, um | |
| einen Platz zu bekommen. Auch in Ortaköy und in anderen Bosporusorten ist | |
| es nicht viel besser. Erst weiter außerhalb, fast schon am Schwarzen Meer, | |
| wird es preiswerter. | |
| Am meisten Platz ist in den neu gebauten Satellitenstädten – also | |
| Ansiedlungen in unmittelbarer Nähe Istanbuls – im Westen und Osten der | |
| Stadt. In Esenyurt, in Sultangazi und in dem noch ländlichen Gebiet rund um | |
| den neuen [4][Flughafen in Arnavutköy], wurden neue Friedhöfe angelegt, die | |
| Platz haben, allerdings ist der Weg dorthin lang und den Plätzen fehlt die | |
| über Jahrhunderte gewachsene Struktur der innerstädtischen Friedhöfe. Da es | |
| aus religiösen Gründen in muslimischen Ländern keine Feuerbestattung gibt | |
| und damit die platzsparenden Urnenbegräbnisse nicht in Frage kommen, wird | |
| sich an der Friedhofsnot in Istanbul nichts mehr ändern. | |
| Der Ausweg der Stadtverwaltung besteht darin, die Menschen, die in den | |
| letzten 40 Jahren zu Millionen aus der ganzen Türkei nach Istanbul | |
| eingewandert sind, wenigstens im Tod wieder an den Platz ihrer Geburt | |
| zurückzuführen. Die Stadt bietet Angehörigen an, ihre Toten kostenlos an | |
| jeden Ort in der Türkei zu transportieren, aus denen sie einmal | |
| ausgewandert sind, und selbst die Kosten für die Fahrt der trauernden | |
| Familie übernimmt die Stadt. Rund 220.000 Verstorbene wurden so in den | |
| letzten zehn Jahren nach dem Tod wieder an den Ort ihrer Geburt | |
| zurückgebracht. | |
| Übrigens gibt es auch einen deutschen Friedhof in Istanbul, und zwar | |
| wunderbar gelegen, auf einem bewaldeten Hügel über dem Bosporus. Der | |
| Friedhof gehört zum Gelände der Sommerresidenz des deutschen Botschafters | |
| in Tarabya, und auch hier hat man als heutiger Zeitgenosse keine Chance | |
| mehr. Neben ehemaligen Botschaftern und Generälen liegen dort die deutschen | |
| Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die im osmanischen Reich kämpfen | |
| mussten. | |
| Selim B. hat es am Ende doch noch geschafft. Zwei Tage lang hatte er | |
| intensiv gesucht, zahlreiche Namen auf Grabsteinen gelesen, und war durch | |
| den Schatten der Bäume von Blumen bewachsenem Grab zu Grab gegangen. | |
| Tatsächlich fand er nach stundenlangem mühevollen Suchen ein verwildertes | |
| Grab, auf dessen Stein der Name des Urgroßvaters noch lesbar war. Selims | |
| Großvater hat also Glück gehabt und als Toter noch seinen Platz in Istanbul | |
| gefunden. Nun kann er in Frieden ruhen – in seinem Grab auf dem Friedhof | |
| Karacaahmet. | |
| 8 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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