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# taz.de -- Essay Organspende: Der Mensch als Biomüll
> Die Lüge vom Hirntod ermöglicht es, sterbende Menschen wie Biomüll zu
> recyceln. Es geht um die Verwertung des Körpers.
Bild: Ein ein sterbender Mensch ist mehr als nur die Summe seiner Organe
Bei Anne Will profilierten sich im September 2018 der Kabarettist Eckart
von Hirschhausen und der SPD-Politiker Karl Lauterbach als Experten des
Todes. Die beiden Humanmediziner erklärten dem Publikum: „Wenn man nicht
für die Organspende in Frage kommt, dann wird einfach mit der Beatmung
aufgehört, und dann zersetzt sich der Körper durch Würmer oder durch Hitze
im Krematorium […]. Und der Flamme ist es doch egal, ob da die Hornhaut
noch dran ist oder die Niere noch dran ist“, so der Kabarettist, dessen
Aussage von dem Politiker noch bekräftigt wurde: „In dem Moment, wo ich das
Beatmungsgerät abschalte, fängt der Körper sofort an zu verfallen.“
Mit diesem Narrativ wird nicht nur suggeriert, es sei eine Eigenart von
[1][Hirntoten], dass nach Abbruch der lebensverlängernden Therapie und dem
darauf folgenden Eintritt ihres Todes die Verwesung beginne, sollten sie
zuvor keine Organe gespendet haben. Vielmehr erzeugt die eigentümliche
Vergegenwärtigung der Unheimlichkeit des Todes – die Fokussierung auf den
Fäulnisprozess eines toten Menschen – das mentale Passepartout für die
eigentliche Botschaft: „Organe müssen leider draußen bleiben“, lautet die
Legende eines prämierten Plakats aus einem Schülerwettbewerb der Deutschen
Stiftung Organspende. Es zeigt einen Sarg mit einem Stoppschild: Tote
werden nunmehr in den Status von recycelbarem Biomüll versetzt.
Diese instrumentelle Beziehung zu den Toten kündigt nicht nur Bräuche
unserer Bestattungskultur sowie die anthropologisch verankerte „heilige
Scheu“ vor dem Leichnam auf, sie verkehrt sie gar ins Gegenteil: in ein
aggressives Verhältnis, das aus Tötungsriten des Krieges bekannt ist, in
denen Leichen des Feindes zerstückelt werden. Zwar gänzlich anders
motiviert und dem hehren Ziel der Lebensrettung todkranker Menschen
verpflichtet, darf ein Hirntoter bei einer Multiorgan- und Gewebespende von
Kopf bis Fuß in einzelne Teile zerlegt werden – zunächst in bis zu acht
Organe und anschließend im Zuge der Gewebespende in weitere Fragmente
(Knochen, Sehnen, Knorpel, Blutgefäße).
Die von den ärztlichen Spezialisten Lauterbach und von Hirschhausen
propagierte Nützlichkeitsmentalität steht für ein historisch neues
Wahrnehmungsmuster von sterbenden und toten Patienten, das christliche
Nächstenliebe und Solidarität mit kalter Zweckrationalität zu verbinden
weiß. Im gleichen argumentativen Fahrwasser bewegen sich die britischen
Bioethiker Dominic Wilkinson und Julian Savulescu von der Universität
Oxford, wenn sie die Einführung der „Organspende-Euthanasie“ fordern, um
jährlich Tausenden von Menschen das Leben retten zu können.
Statt dass „[2][die Mehrzahl dieser Organe verrottet,]“ so die Autoren,
wäre eine reiche Organressourcenquelle von Menschen mit einer
aussichtslosen Erkrankung durch die Euthanasie im Rahmen eines
selbstbestimmten Sterbens zu erschließen. Mit diesem Vorschlag wollen sie
die Patientenautonomie durch die aktive Sterbehilfe stärken, den
chronischen Organmangel beheben und auch die Qualität der Organe
verbessern. So biete die transplantationsmedizinische Tötungsart weitaus
frischere Organe im Vergleich zur jetzigen Explantation von bereits im
Sterben begriffenen Patienten.
Wilkinson und Savulescu verstehen ihre ethische Rechtfertigung der
Organbeschaffung als Ergänzung der Ausführungen von dem Bioethiker Robert
D. Truog (Harvard Center for Bioethics) und Franklin G. Miller (National
Institutes of Health). Seit 2008 erklären sie, die Hirntoddefinition sei
biologisch nicht aufrecht zu erhalten.[1] Ihre Conclusio lautet: „Hirntote
sind nicht wirklich tot“ Aus dieser Neubewertung der
transplantationsmedizinischen Praxis leiten sie ein medizinisches
Tötungsrecht ab und sprechen von einem [3][justified killing], einem
gerechtfertigten Töten, um das Leben anderer Patienten zu retten.
Diese Enttabuisierung der Tötung für verpflanzungstherapeutische Zwecke ist
plausibel, wenn wir uns ein Bild von „Hirntoten“ zu machen versuchen: Die
Hirntodvereinbarung teilt einen Patienten auf in eine „tote Person“ mit
einem „noch überlebenden übrigen Körper“.
Eine solche Zweiteilung von sterbenden Menschen ist seit der Einführung der
Hirntoddefinition von 1968 umstritten. So kann das Gehirn nicht als ein
autonom lebendiges Wesen, sondern nur als „Organ eines Lebewesens“
verstanden werden, wie der Psychiater Thomas Fuchs erklärt. Zudem ist der
Begriff „Person“ der Philosophie entlehnt und mit medizinischen Methoden
nicht beweisbar.
## Das Herz von Hirntoten schlägt
Als Philosoph forderte Hans Jonas anlässlich der Hirntodvereinbarung von
1968 eine „maximale 'Todesdefinition“. Alles andere hieße, sich „ein Wis…
anmaßen, das wir […] nicht haben können“. Die Hirntoddefinition hingegen
fixiert den Tod eines Menschen auf ein einziges Organ und einen einzigen
Zeitpunkt. Damit wird der prozesshafte Charakter des Sterbens im
biologischen Sinne, aber auch als soziales Ereignis verleugnet. Das Herz
von Hirntoten schlägt, ihre Lungen atmen mit technischer Hilfe, sie
verdauen, scheiden aus, wehren Infektionen ab. Bis zum Herztod werden sie
medizinisch betreut, genährt und gepflegt.
Da Hirntote als Wesen mit einem lebendigen Körper definiert sind und das
dubiose Erscheinungsbild einer „lebenden Leiche“ abgeben, wird das
Tötungstabu berührt, wenn die Wahrnehmung eines Organspenders als Leiche
nicht gelingt, wie Anästhesisten, Pflegepersonal und Angehörige häufiger
berichten.
Vergegenwärtigen wir uns das Prozedere einer Explantation: Vom Brust- bis
zum Schambein wird der Spender mit Schneideinstrumenten geöffnet. Bevor die
Organe herausgeschnitten werden, durchspült man sie mit einer Nähr- und
Kühllösung, um ihre Verwesung zu unterbinden. Wenn die eiskalte Flüssigkeit
in den Patienten dringt, kann er mit Schwitzen, Hautrötungen, dem Anstieg
von Blutdruck und Herzfrequenz reagieren. „Um diese“, sonst als Indiz für
eine Schmerzempfindung geltenden „Reaktionen zu mildern“, so räumen
Transplantationsmediziner ein, „werden bei einer Organentnahme oft in
geringen Dosen Schmerzmittel (Opioide) und muskelentspannende Pharmaka
gegeben.“ Laut offiziellen Angaben sind bis zu 75 Prozent aller Hirntoten
in der Lage, auf die Explantation unter anderem mit Hochziehen der Schulter
oder Spreizen der Finger zu reagieren. Nach der Organgewinnung und der
Verwandlung des Patienten in eine Leiche kann die nicht unter dem
Handelsverbot stehende Gewebeentnahme beginnen.
Die Operationslogik einer Explantation verdeutlicht, dass die
Transplantationsmedizin die Grundsätze der medizinischen Ethik, der
Palliativmedizin und der Pietät missachten muss. So ist keine einzige
medizinische Handlung am Wohl des Spenders orientiert. Dass er ab der
Hirntodfeststellung bis zu seinem Herztod genährt, gepflegt und
anästhesiologisch betreut wird, dient einem einzigen Zweck: der Verwertung
seines Körpers. Auch die transplantationsmedizinische Rhetorik offenbart
diese fremdnützige Beziehung zu Organspendern: In der Kommunikation der
Transplantationsbeauftragten mit der Stiftung Eurotransplant verwandeln
sich die Spender in „Organangebote“ und verschwinden in „Effizienzraten“
oder einem „Spenderpool“.
Diese entmenschlichende Sprache offenbart den verwertungsorientierten Blick
auf einen hirnsterbenden Patienten ebenso, wenn er als „Herz-Lungen-Paket“
oder „lebender Zellbestandteil“ gekennzeichnet wird. Solche Begriffe
erzeugen eine Mentalität, die einen sterbenden Menschen als Material zu
verdinglichen erlaubt. Organspender sind sozial Ausgestoßene, denn ihnen
bleibt eine palliativmedizinische Betreuung sowie eine Sterbebegleitung
durch Angehörige und Freunde verwehrt. Die Rede von der Organspende erweist
sich als ideologisches Konstrukt, das seit 1979 von der
Transplantationsmedizin unter Mithilfe der christlichen Kirchen, der Medien
und des Staates durch permanente Werbekampagnen in öffentlichen Räumen der
Bundesrepublik Deutschland aufgebaut worden ist.
Lassen wir die Maske der christlichen Nächstenliebe und Solidarität fallen,
dann entpuppt sich die Organgewinnung als Opferung eines sterbenden
Menschen – jedoch nicht im Sinne eines sakralen Opfers, das auf einer
Wechselbeziehung von Gabe und Tausch beruht. Vielmehr steht diese moderne
Form des Opfers in seiner Entwertung als Herz-Lungen-Paket unter dem Gebot
der Nützlichkeit und entspricht dem neoliberalen Zeitgeist – der
Ökonomisierung des Sozialen. Das mit der Vermarktung des Menschlichen sich
verbindende Ideal des Individualismus erweist sich, wie Peter Sloterdijk
einmal gesagt hat, als [4][„Überflüssigmachung sozialer Beziehungen“.] Sie
trifft auf eine besondere Weise die Sterbenden und die Toten: Im Status der
Nutzlosen soll ihre Zweckdienlichkeit für das Überleben anderer durch die
geplante Einführung der [5][Widerspruchslösung] zur staatlich erzwungenen
Pflicht werden.
Ihre gesellschaftliche Attraktivität bezieht die Transplantationsmedizin
aus dem Geist der konsumistischen Revolution (Zygmunt Bauman) seit den
1980er Jahren. Sie hat die Verwandlung des Individuums in eine Ware
vorangetrieben und produziert ein endloses Kontinuum von Müll. Der daraus
hervorgegangene Aufstieg der Abfallrecyclingindustrie entspricht der
medizinischen Wiederverwertung des menschlichen Leibes. Dieser Praxis
liegt die Vorstellung von einem konsumistischen Individuum mit einem aus
recycelbaren Organen bestehenden, mechanistischen Körper zugrunde – einem
Körper, der durch sogenannte Kadaverspenden endlos reparabel zu sein
scheint und trotz seiner radikalen Todesabhängigkeit das
Unsterblichkeitsphantasma unserer Kultur nährt.
2 Dec 2018
## LINKS
[1] /Widerspruchsloesung-fuer-Organspender/!5536320
[2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3267048/
[3] https://philpapers.org/rec/MILRTE
[4] https://misik.at/2009/05/peter_sloterdijk_im_interview_nur_verlierer_kooper…
[5] /Entscheidungen-ueber-Organspende/!5545832
## AUTOREN
Anna Bergmann
## TAGS
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