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# taz.de -- Brandenburg vor der Landtagswahl: Abseits im Oderbruch
> Golzow kurz vor Polen hat eine Eisdiele, einen Bäcker und sogar ein
> Filmmuseum: Die DDR-Doku „Die Kinder von Golzow“ machte das Dorf berühmt.
Bild: Downtown Golzow
Golzow im Oderbruch. Nur knapp elf Kilometer sind es bis zur polnischen
Grenze. Etwas über eine Stunde würde der Zug vom Berliner Ostkreuz hierher
brauchen. Wenn er denn in Golzow halten würde. Stattdessen landet man in
Küstrin-Kietz. Neun Kilometer sind es von hier bis zur benachbarten
814-Seelen-Gemeinde. Nur alle zwei Stunden hält der Zug auch mal an dem
eingleisigen und etwas abseits liegenden Bahnhof am Stadtrand von Golzow.
Eine Errungenschaft der Interessengemeinschaft Ostbahn, erklärt Frank
Schütz, ehrenamtlicher Bürgermeister von Golzow.
Anbindung und Mobilität sind ein Thema in dem Dorf. Dabei ist nicht nur der
Takt der Bahn ein Problem. Der Radweg an der nahe gelegenen Bundesstraße
sei zwar neu angelegt worden, so Schütz, aber es „gibt keinen Radweg bis
Golzow“. Dieser sei laut Schütz „problemlos möglich“ doch ohne Förderg…
sei er für die kleine Gemeinde schlicht nicht finanzierbar. Zumindest soll
bald der 40 bis 50 Jahre alte Radweg, der vom Bahnhof zum Dorfkern führt,
erneuert werden. Das Dorf, das durch die Langzeitdokumentation „Die Kinder
von Golzow“ Berühmtheit erlangte, ist wirklich schwer erreichbar. Natürlich
drängt sich da auch gleich wieder das Klischee von den abgehängten
Landstrichen im Osten der Republik auf.
Bürgermeister Frank Schütz stammt aus dem etwa sieben Kilometer entfernten
Manschnow. Nach „Ausflügen in die Welt“, wie er sagt, zog er vor 20 Jahren
nach Golzow. Vor gut fünf Jahren hat er das Amt des Bürgermeisters
übernommen „aus Interesse am Gestalten“. Eine Parteizugehörigkeit würde
dabei auf kommunaler Ebene keine Rolle spielen, so Schütz, vielmehr gehe es
einzig und allein um die Frage: „Ist es sinnvoll oder nicht“?
Zehn Mitglieder hat der Gemeinderat, die FDP ist mit drei Leuten stark
vertreten. Schütz selbst ist in der CDU.
Ein Herzensprojekt des Bürgermeisters wurde bereits 2016 fertig: eine von
ihm liebevoll „Gürteltier“ genannte Solarstromanlage. Eigentlich handelt es
sich dabei um einen kleinen Hügel vor dem Dorf, der zuvor eine Mülldeponie
war. Das Gelände hat die Gemeinde an ein Solarunternehmen verpachtet, das
darauf Fotovoltaikanlagen bauen ließ. Mit den blau-silbernen Schindeln, die
jetzt die längliche Erhöhung bedecken, sieht der Hügel tatsächlich ein
wenig aus wie ein Gürteltier.
## Die örtliche Eisdiele
Um 14 Uhr ist der Himmel kaum bewölkt, über 30 Grad zeigt das Thermometer.
Viel los ist in dem kleinen Dorf nicht. Gegenüber der örtlichen Eisdiele
hält Schütz ein Pläuschchen mit einem der alteingesessenen Einwohner. Klaus
Ulrich ist 83. Seit 49 Jahren wohnt er schon in Golzow. Vorher lebte er
„zwischen Aue und Zechin“. Gemeint ist damit der heutige Zusammenschluss
aus den Dörfern Friedrichsaue, Zechin und Buschdorf, die allesamt nur
wenige Kilometer nördlich von Golzow liegen.
Angefangen bei Ulrichs Haus, zum einzige Bäcker im Ort, über die Straße zum
Eiscafé, quer über die Kreuzung und den Dorfplatz zum Filmmuseum und
schließlich die Straße hinunter zur Grundschule: insgesamt ist dieser Weg
vielleicht 200 Meter lang. Diese „lokale Nähe“ sei etwas, was hier viele
schätzten, so Schütz. Bis auf einige Ausnahmen kenne hier jeder jeden.
Ulrich ist gelernter Landwirtschaftsschlosser und lebt in einem Haus, das
seine Frau geerbt hat. In naher Zukunft soll in die Bäckerei nebenan noch
ein Tante-Emma-Laden einziehen; das wünscht sich zumindest Bürgermeister
Schütz. Ulrich selbst glaubt nicht, dass so ein Laden in Golzow
funktionieren kann. Auch wenn sich wirklich jemand als Betreiber finden
lassen sollte, sieht er es langfristig doch skeptisch: „Der will ja auch
seinen Tausender verdienen“, argumentiert er. „Was nicht läuft und sich
nicht rechnet, macht zu“, kommentiert Ulrich die allgemeine Situation in
dem Dorf.
Der nächste Edeka sei in Manchnow. Für ein wenig mehr Auswahl könne man
allerdings auch nach Seelow fahren, so Ulrich, das würde aber auf direktem
Weg 20 Minuten mit dem Auto dauern. Nicht einmal eine Apotheke gibt es im
Dorf: „Die ist jetzt ein Wohnhaus“, sagt Ulrich und zeigt auf ein weiß
gestrichenes Gebäude auf der anderen Straßenseite. „Einen Arzt haben wir ja
wieder gekriegt“, fügt er noch hinzu.
„Wenn ich was wollte, dann würde ich nach Westdeutschland gehen!“, sagt
Ulrich mit einem verschmitzten Grinsen. Viele hätten das bereits gemacht.
Auch seine beiden Töchter würden nicht mehr in Golzow leben: „Die große
Tochter wohnt jetzt in Chemnitz. Die Kleine wohnt in Augsburg.“
Immerhin vier und noch eine halbe gastronomische Einrichtung gebe es in
Golzow, so Schütz. Als „halbe“ zählt er die „Sportlerklause“ des ans�…
Sportvereins. Ansonsten gibt es noch ein Gasthaus, einen türkischen Imbiss,
eine Kellergaststätte und das Eiscafé gegenüber von Ulrichs Haus. Ein paar
Leute sitzen auf der überdachten Terrasse am „Eis Alex“. Drinnen bedient
Alexander Schreiber gerade ein Ehepaar mit einer kleinen Tochter: Die
Wenzels.
## Das Dorf schrumpft
Martin Wenzel ist Gas-Wasser-Installateur. Er wohnt bereits seit 35 Jahren
im Oderbruch, seine Frau Vera erst seit vier. Beide sind sich einig, dass
es in Golzow viel schöner sei als in irgendeiner großen Stadt. „Wenn man
groß Geld machen will, muss man halt in der Stadt bleiben“, sagt sie. „Die
Natur hier macht alles wieder wett“, ergänzt er, während er sein Eis isst.
Mit einem breiten Grinsen fügt sie schließlich noch hinzu: „Es gibt hier
immer einen Parkplatz.“ Das sei natürlich nur Nebensache, der Hauptgrund
für Vera Wenzel, nach Golzow zu ziehen, sei vor allem die Schule gewesen.
In der Stadt gebe es immer vier Klassen pro Jahrgang, hier nur eine und die
Kinder fühlten sich dort auch sehr wohl.
Aber [1][das Dorf schrumpft]. Beim Zensus 2011 zählte das statistische
Bundesamt 899 Einwohner, heute sind es nur noch 814. Es fehlten
Arbeitskräfte „in der Industrie, in der Gastronomie, im Handwerk“, weiß
Schütz. Das Amt versuche, mit kommunalen Wohnungen gezielt Familien
anzulocken. Für Kinder bis zu 16 Jahren würden Mieter für das „Kinderzimmer
die Kaltmiete dazubekommen“, erklärt Schütz. Die Fläche des Kinderzimmers
fließt also nicht in die Berechnung der Miethöhe mit ein.
Alexander Schreiber, der von den Wenzels nur „Alex“ genannt wird, sieht
Golzow als seine Heimat. Viel reden, will er nicht. Zu sehr scheint er in
seiner Arbeit im Eiscafé aufzugehen. Neben den Erzählungen der Wenzels über
die Freiheit und die Natur im Dorf und die gute Schule fällt ihm dennoch
etwas ein, was er gerne hätte: „Eine Bäckerei mit anderen Öffnungszeiten�…
sagt Schreiber. „Und eine Sparkasse oder einen Geldautomaten“, ergänzt er
schließlich noch.
Nicht nur strukturell hat das Dorf mit Problemen zu kämpfen, auch das
Ansehen bei Leuten von der „Insel Berlin“ wie Schütz sie nennt, hat einige
Macken. Hier gebe es eben keine S-Bahn im FünfminutentTakt, deswegen müsste
er sich von Freunden aus Berlin häufig anhören, dass alles viel einfacher
wäre, wenn er in die Stadt kommen würde.
Schütz sagt, er werde mit vielen Vorurteilen gegen das Dorfleben
konfrontiert, und er beteuert, dass man hier keine
„Hinterwäldler-Strukturen“ habe, wie seiner Meinung nach häufig
vermutet werde. Das sei der „städtische Blick, der verkennt, wie wichtig
Umland ist“, so Schütz.
## 45 Jahre Filmchronik
Zentral in Golzow und direkt neben dem Haus von Klaus Ulrich und der
Eisdiele befindet sich der Dorfplatz. Eigentlich nichts weiter als eine
Kreuzung mit ein wenig Grünanlage drum herum. Ursprünglich stand hier eine
kreuzförmige Kirche. Daran erinnern mittlerweile aber nur noch die
Schwarz-Weiß-Fotografien, die man auch bei Eis Alex finden kann. 1945 wurde
die Kirche bereits gesprengt. Die Vergangenheit von Golzow ist in dem Dorf
mehr als nur eine einfache Erinnerung. Es ist ein großer Teil der
Identität: Welche Gemeinde sonst kann von sich behaupten, eine Filmchronik
über 45 Jahre Dorfgeschichte zu besitzen?
Das Filmmuseum Golzow: Wie vieles im Ort liegt es direkt neben der
Kreuzung, neben der einstigen Kirche. Auch hier begrüßen einen, wie im Eis
Alex, Schwarz-Weiß-Fotos des ehemaligen Stadtkerns. [2][„Die Kinder von
Golzow“] ist eine Dokumentarfilmreihe von unglaublichen Ausmaßen, und diese
ist der Grund, warum der Name des kleinen Dorfes auch außerhalb des
Oderbruchs ein Begriff ist. Fast 43 Stunden Filmmaterial über das Leben von
Schulkindern, die zu DDR-Bürgern wurden, schließlich die Wende miterlebten
und dann versuchten, sich im neuen System zurechtzufinden. Eine
Dokumentation, die letztlich auch die Ähnlichkeiten zwischen den Systemen
Ost und West erzählen will.
Das Gebäude, in dem sich die Ausstellung des Filmmaterials befindet, war
früher mal eine Sonderschule. Nun beherbergt es neben dem Museum auch noch
das Gemeindezentrum. Die einzige nicht ehrenamtlich arbeitende Person hier
ist Simone Griegen. Ihre offizielle Bezeichnung ist „Kulturkoordinatorin“,
aber sie selbst lässt durchblicken, dass ihre eigentliche Arbeit weit mehr
beinhalte, als der Name suggeriere. So zum Beispiel die Verwaltung der
Oderbruch-Halle: ein Veranstaltungsort, der 700 Personen Platz bietet, also
quasi beinahe dem gesamten Dorf. Neben ihrem Hinweis auf das Museum und die
Event-Halle bringt aber auch Griegen ein bereits bekanntes Problem zur
Sprache. „Es fehlt ein Einkaufsladen“, sagt sie, zumindest „wenn man nicht
extra fahren möchte“-
Was es allerdings in der ehemaligen Sonderschule gibt, ist eine Bibliothek.
Gleich neben dem Gemeindezentrum beziehungsweise dem Filmmuseum und demnach
nur ungefähr hundert Meter entfernt von Bäcker und Eis Alex, liegt die
Grundschule Golzow. Einmal die Woche hätten die Kinder Lesezeit, so
Griegen. Dann wandern sie von der Schule zum Museum in den hintersten Raum
des Gebäudes in die Bibliothek. Jedes Mal würden sie dann an den
Infotafeln und Exponaten des Museums vorbeigehen und dabei immer auch
etwas von der Geschichte Golzows mitnehmen, ergänzt Schütz, der seinen
Arbeitsplatz ebenfalls im Gemeindezentrum hat.
Es gebe ein strukturelles Problem in der Landespolitik, die dazu neige,
„alle Probleme mit Geld zuzuschütten“, so Schütz. Dort herrschten einige
„falsche Ideen“ und es fehle „die Stimme der Dörfer“, redet sich der
Bürgermeister beinahe in Rage. Als Beispiele nennt er den Kohleausstieg,
und Dieselfahrverbote. Auch die Abschaffung der Straßenausbaubeiträge
spricht er an: Dies sei im Kern eine gute Idee, aber es würde nicht viel
bringen, „wenn sie uns das Geld auf der anderen Seite wieder aus der Tasche
ziehen.“ Warum viele in Golzow allerdings die AfD wählen, könne er nicht
verstehen. Über 23 Prozent hatte die [3][AfD bei den Europawahlen] in
Golzow geholt.
Vielleicht ist die AfD auch nur die Antwort auf einige offene Fragen in
Golzow. Zum Beispiel auf die, warum man zwei Stunden warten muss, um einen
Zug nach Berlin zu bekommen.
22 Aug 2019
## LINKS
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## AUTOREN
Tobias Kannler
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Brandenburg
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