# taz.de -- Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung: Die Zukunft liegt im Ost… | |
> Vor den Wahlen wird viel über die Probleme Ostdeutschlands gesprochen. Um | |
> etwas zu verändern, müssen wir auch über das Potenzial des Ostens reden. | |
Bild: Erneuerbare Energien und fliegende Autos? In welche Zukunft schaut der Os… | |
Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung und kurz vor den Landtagswahlen in | |
Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird Ostdeutschland eine düstere Zukunft | |
prognostiziert. Abwanderung, Arbeitslosigkeit und AfD sind die | |
dominierenden Angstthemen. Vom neuen Strukturwandel ist der Osten stärker | |
betroffen als der Westen. 11 der 19 Regionen, denen das Institut der | |
deutschen Wirtschaft in einer neuen Studie massive Zukunftsprobleme | |
vorausgesagt hat, liegen in den neuen Bundesländern. In vielen dieser | |
Regionen ist die AfD inzwischen stärkste Partei. Lässt sich die negative | |
Abwärtsspirale stoppen? | |
Zu den zentralen Ursachen des im Osten verbreiteten Gefühls, zu den | |
Verlierern des Wandels zu gehören, zählt die demografische Katastrophe nach | |
1990: eine historisch einmalige Abwanderung von Fachkräften. Insgesamt | |
verließen fast 4 Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung, den | |
Osten, um sich im Westen eine sichere Zukunft aufzubauen. | |
Jetzt dreht sich der Trend: Zum ersten Mal gibt es einen positiven Saldo | |
von Zuzügen aus dem Westen in den Osten. Gewinner des demografischen Trends | |
sind bislang nur die „Schwarmstädte“ Leipzig, Dresden, Chemnitz, Erfurt, | |
Jena und Potsdam und ihr Umland. Entlegene Regionen und der ländliche Raum | |
gehören zu den Verlierern. [1][Profiteur der Entwicklung ist die AfD]: Je | |
strukturschwächer die Region, desto stärker sind die Rechtspopulisten. | |
Nicht nur im Osten, aber vor allem dort. | |
Der britische Entwicklungsökonom Paul Collier beschreibt in seinem neuen | |
Buch „Sozialer Kapitalismus“ die zunehmende Kluft zwischen Städten und | |
abgehängten ländlichen Regionen als die gefährlichste Entwicklung und warnt | |
in der Einleitung zur deutschen Ausgabe vor tiefer werdenden Gräben | |
zwischen Ost- und Westdeutschland. | |
## Ihre Lebenswelten entfremden sich | |
Einen Grund sieht er darin, dass beide, urbane Kosmopoliten und lokale | |
Sesshafte, immer weniger in Kontakt kommen. Ihre Lebenswelten entfremden | |
sich zunehmend voneinander. Die urbane Elite fühlt sich den weniger | |
Gebildeten und Einwohnern in ländlichen Regionen gegenüber moralisch | |
überlegen. Für die Sesshaften hat sich das Versprechen von Demokratie und | |
Marktwirtschaft – ein steigender Lebensstandard für alle – nicht erfüllt. | |
Sie erwarten, dass es ihren Kindern in Zukunft schlechter gehen wird. | |
Zum Symbol für den Verlust des Niedergangs wird der Kohleausstieg. Der | |
Abbau von Kohle gilt in den Regionen als Garant für Wohlstand und Zukunft. | |
Der Ausstieg aus der Kohle kann zur zweiten Chance für den Osten werden, | |
wenn er zum Einstieg in eine neue und nachhaltige Standortpolitik wird. | |
Aus den alten Braunkohlerevieren müssen Zukunftsregionen werden. Es geht um | |
die Themen Mobilität, erneuerbare Energien, Kreislaufwirtschaft, Ernährung, | |
nachhaltiger Tourismus und künstliche Intelligenz. Der Osten kann zur | |
ersten klimaneutralen Region der Welt werden. | |
Für den Strukturwandel braucht es nicht nur Geld, sondern auch einen | |
Kulturwandel. Neue Technologien, Forschungseinrichtungen, Start-ups und | |
Unternehmen und die Ansiedlung von mehr staatlichen Behörden sind nötig, | |
aber nicht hinreichend. Nachhaltige und neue Wertschöpfung entsteht vor | |
allem aus der Vernetzung und Kooperation von kreativen und innovativen | |
Unternehmen, Kommunen und den Bürgern vor Ort. Es geht um exzellente | |
Bildung, auch auf dem Land, internationale Kulturevents und Partnerschaften | |
mit dem Ausland. | |
Die Regionen brauchen mehr Zuwanderung. Die Mehrheit der ostdeutschen | |
Unternehmen ist im ländlichen Raum ansässig und [2][sucht händeringend nach | |
Arbeitskräften]. Diese werden nur dann kommen, wenn sie an eine sichere | |
Zukunft glauben, angefangen bei Kinderbetreuung und Bildung über schnelles | |
Internet und einen funktionierenden Nahverkehr bis zur ärztlichen | |
Versorgung. Entscheidend dabei ist das Engagement der Bürger vor Ort: | |
Pflegenetzwerke, Bürgerbusse, Vereine und Kulturangebote. | |
## Ideenpolitik statt Identitätspolitik? | |
In diesem Jahr läuft der „Solidarpakt II“ aus. In den letzten 30 Jahren | |
sind mehr als 250 Milliarden Euro in die neuen Bundesländer geflossen. Für | |
Ökonomen und Politiker ist das „Projekt Deutsche Einheit“ ein | |
wirtschaftlicher Erfolg. Materiell hat der Osten aufgeholt. Statt um | |
Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung geht es heute um | |
Fachkräftemangel und Zuwanderung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier | |
hat sich jetzt für einen „Solidarpakt der Wertschätzung“ und mehr | |
Verständnis des Westens für die Umbrüche im Osten ausgesprochen. Die | |
frühere Chefin der Treuhandanstalt, Birgit Breuel, hat in einem | |
[3][Interview mit der FAZ vor wenigen Wochen] zu Protokoll gegeben: | |
„Westdeutsche hätten das nicht durchgehalten.“ | |
Der Solidarpakt endet, die eigentliche Debatte fängt aber erst an. Was | |
nicht weiterbringt, ist Identitätspolitik, eine Teilung der Gesellschaft in | |
Ost- und Westdeutsche, in Migranten und Einheimische. „Die Ostdeutschen“ | |
gibt es ebenso wenig wie „die Westdeutschen“. Was es dagegen nötig ist, ist | |
Ideenpolitik: Welche Anreize, Regeln und Innovationen braucht es für mehr | |
Wertschöpfung und nachhaltiges Wachstum? | |
Der Osten braucht mehr Freiheit, eigene Wege zu gehen. | |
Sonderwirtschaftszonen und mehr Investitionen in Bildung und Forschung | |
gerade in den ländlichen Regionen bringen gut bezahlte Jobs und mehr | |
Steuereinnahmen. Neue Ideen braucht auch der politische und | |
gesellschaftliche Dialog. Die junge Generation stellt andere Fragen an die | |
Geschichte und die Zukunft als ihre Eltern. | |
Bislang war das Leit- und Vorbild für die Zukunft der neuen Bundesländer | |
immer der Westen. Damit ist es 30 Jahre nach der Wiedervereinigung vorbei. | |
In Zukunft wird der Westen in Sachen Transformation einiges vom Osten | |
lernen können. Die Zukunft liegt im Osten. | |
20 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Machtkampf-in-der-AfD/!5615542 | |
[2] /Kampf-um-Fachkraefte/!5614635 | |
[3] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/treuhand-chefin-birgit-breuel-im-int… | |
## AUTOREN | |
Daniel Dettling | |
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