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# taz.de -- Frauen im Rock ‚n‘ Roll: Königinnen an der Gitarre
> Im frühen Rock ’n’ Roll gab es keine Frauen? Falsch. Man kennt sie bloß
> kaum noch. Eine Musikwissenschaftlerin hat nun Hunderte von ihnen
> aufgespürt.
Bild: Wanda Jackson war die erste Frau, die Rock ‚n‘ Roll aufgenommen hat
Sorgt dafür, dass ich wie 25 aussehe!“, sagt Wanda Jackson in die Kamera,
bevor das Interview beginnt. Dann lacht sie, stellt sich vor. Frage der
Journalistin: „Als eine der ersten Rock ’n’ Rollerinnen, was ist Ihre
Definition des Genres?“ Jackson lacht noch mehr. Ja, ja, der Rock ’n’ Roll
habe sich drastisch verändert.
„Als ich angefangen habe, war ich die erste Frau überhaupt, die diese Musik
aufgenommen hat“, sagt Jackson. „Und ich sag euch mal, warum: Weil der Typ,
mit dem ich gearbeitet hab, mich ermunterte. [1][Sein Name war Elvis
Presley]. Ich dachte damals, dass der schon wissen wird, was er tut.“
Das Interview mit Jackson wurde 2018 in der Rock-’n’-Roll-Hall of Fame
geführt, in die man sie schon neun Jahre vorher aufgenommen hatte – als
nahezu einzige Vertreterin des frühen US-Rock ’n’ Roll. Man weiß vom
Einfluss des Blues-Gitarristen Arthur Crudup auf Elvis, von schwarzen
Musikern auf den Rock ’n’ Roll überhaupt. Das Erbe der weiblichen Acts aus
den 50ern aber liegt verschüttet.
In der kollektiven Erinnerung tauchen Frauen im Rock erst in Gestalt von
Sixties-Girlbands wie den Ronettes oder Martha Reeves & The Vandellas auf.
Die Welt kennt Little Richard und Jerry Lee Lewis’ „Great Balls of Fire“ …
das Gros aber nicht [2][dessen Schwester Linda Gail Lewis]. Nicht die wilde
Sparkle Moore mit ihrem Rockabilly-Sound und der blonden Tolle, noch
weniger andere, längst vergessene Sängerinnen, deren furiose Liveshows
damals halfen, Rock ’n’ Roll aus der Taufe zu heben und als Jugendkultur zu
etablieren. Auch Wanda Jackson dürfte eine Mehrheit eher als Country- denn
als Rockabilly-Sängerin erinnern.
## Die „weibliche Elvis“
„Es gab in den 50ern jede Menge Frauen, die in jeder Hinsicht Rockstars
waren“, sagt Leah Branstetter. Die US-Musikwissenschaftlerin arbeitet unter
anderem für die Bibliothek der Rock-’n’-Roll-Hall of Fame in Cleveland,
Ohio. Bei einer Recherche stolperte sie über ein CD-Set der Sängerin Janis
Martin, angepriesen als „weiblicher Elvis“ – und das auf Elvis Presleys
Label RCA.
Branstetter war überrascht, Martin noch nie im Radio gehört zu haben. Sie
begann, nach mehr Rock-’n’-Roll-Künstlerinnen zu forschen. Als sie Hunderte
Namen beisammen hatte, entschied sie, zu dem Thema an der Case Western
Reserve University zu promovieren.
Das war 2010. Vor Kurzem hat sie das Ergebnis ihrer Arbeit der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Ihre „digitale Dissertation“, die
Webseite [3][www.womeninrockproject.org], listet die Biografien Dutzender
vergessener Künstlerinnen aus der ersten Welle des US-Rock ’n’ Roll,
sammelt Literaturhinweise, Playlists, Videointerviews mit Sängerinnen wie
eben Wanda Jackson und Analysen zu Stil und künstlerischen Strategien der
frühen Rock-’n’-Roll-Frauen.
In anderen Genres gibt es längst eine Erinnerungskultur für weibliche
Pionierleistungen. Viele junge Bands berufen sich auf Punkgruppen wie The
Slits; Sogar über [4][den lange verschwiegenen Einfluss von Frauen auf die
frühe elektronische Musik], über Künstlerinnen wie Delia Derbyshire, hat
man in den vergangenen Jahren auf Panels und Festivals diskutiert. Warum
hat man ausgerechnet die Rock-’n’-Roll-Frauen so lange übersehen? Und warum
erinnert man sich an die großen Ladys des Soul, aber fast niemand an ihre
gitarrenbewaffneten Kolleginnen aus derselben Zeit?
## Keine Hausfrauen im Petticoat
Im Jazz und Soul sei das Publikum mit prominenten Künstlerinnen vertraut
gewesen – von klassischen Bluessängerinnen wie Bessie Smith und Ma Rainey
bis zu Jazzkünstlerinnen wie Ella Fitzgerald oder Billie Holiday. Deren
Platten und Bilder hätten die Genres geprägt, von den Anfangstagen der
kommerziellen Musikindustrie an. „Vielleicht sind Frauen in der Historie
des Blues und Jazz heute nicht ganz so unsichtbar, weil es wahnsinnig
schwierig wäre, die Geschichte ohne sie zu erzählen“, sagt Branstetter.
„Wenn man allerdings von einem ‚Rockstar‘ redet, stellen sich viele Leute
sofort einen Mann mit elektrischer Gitarre vor. Gleichzeitig basiert unsere
Vorstellung davon, wie Frauen in der Nachkriegszeit gelebt haben –
zumindest Frauen in den USA –, ziemlich oft auf einer Vorstellung von
konservativen Geschlechterrollen, die von der weißen Mittelklasse- und
Oberschichtskultur geprägt wurden.“
Das Image des rebellischen männlichen Rockstars, der seine Gitarre wie eine
Waffe gegen das Establishment richtet, und das ihm entgegengesetzte
Klischee von der Hausfrau im unpraktischen Petticoat: Beide Bilder sind so
kraftvoll, dass sie viele weibliche Erfolgsgeschichten verdrängt haben.
Einige der Künstlerinnen in Branstetters Almanach waren zu ihrer Zeit
nämlich nicht mal Undergroundphänomene, sondern durchaus erfolgreich in den
Charts. „Wir müssen unsere Scheuklappen bewusst abnehmen und nach den
Künstlerinnen suchen, die wir ignoriert haben, weil sie nicht in unsere
Wahrnehmung von Rock-’n’-Roll-Musik passen“, sagt Branstetter.
## Alibikünstlerinnen und Self-made Women
Ihr Dissertationsprojekt erzählt aber nicht nur davon, wie das Erbe der
frühen Rock-’n’-Roll-Sängerinnen aus der Erinnerung verdrängt wurde,
sondern auch, wie es sich für sie anfühlte, auf der Bühne zu bestehen: im
Schatten der männlichen Ikonen, unter den Bedingungen der Nachkriegszeit.
Auf die Frage, was und wer Künstlerinnen in den 50ern das Leben erschwerte,
hörte Branstetter die unterschiedlichsten Antworten. Manche Promoter und
Labelbosse suchten aktiv nach Performerinnen, während andere eine
Alibikünstlerin unter Vertrag nahmen und sie schließlich vernachlässigten.
Aber es gab sogar ein paar weibliche Promoter und Label-Betreiberinnen, zum
Beispiel Cordell Jackson: Die Tochter einer Musikerfamilie aus Mississippi
spielte während des Zweiten Weltkriegs Bass in einer Band, die in einer
Fabrik probte, legte sich Aufnahme-Equipment zu und bastelte sich ein
Heimstudio. Nachdem sie Elvis’ späteres Label Sun Records in Memphis
abgelehnt hatte, gründete sie in den 50ern kurzerhand ihr eigenes
Plattenlabel und nannte es, als kleinen Gruß an Sun Rec., Moon Records.
Bis zu ihrem Tod 2004 blieb Jackson im Geschäft. In einer Videoaufnahme aus
den 90ern, zu finden auf YouTube, sieht man sie in einem seltsam opulenten,
pinkfarbenen Satinkleid und mit toupierter Brettfrisur E-Gitarre spielen:
Als würdevolle, aber irgendwie außerirdisch wirkende Überlebende einer Ära,
die ihr heimlich ein bisschen gehört hat.
## Karriereende mit 18
Auch die Radiomacher der 50er pflegten ein unterschiedliches Verhältnis zu
weiblichen Rockstars. Der legendäre Radio-DJ Alan Freed zum Beispiel, der
einen gehörigen Anteil daran hatte, dass Rock ’n’ Roll durch die Radios der
USA die Jugendzimmer und -herzen erreichte, spielte gern weibliche Acts in
seiner Show. Eine von ihnen: Lillian Briggs, eine ehemalige Truckerin und
Posaunistin, die sich herrlich unbescheiden als die „Queen of Rock and
Roll“ bezeichnete. Andere DJs wiederum glaubten, ihren Hörern keine
Frauenstimmen zumuten zu können. Probleme, die heute noch vertraut klingen.
Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zur Gegenwart: „Eine
Herausforderung, von der mir viele Künstlerinnen erzählt haben, war die,
Touren und Familienplanung zu verbinden. Vor allem in den 50ern“, sagt
Branstetter. Manche Frauen entschieden sich dafür, ihre Karriere auf Eis zu
legen, während sie ihr Kind großzogen, oder setzten sich gleich ganz zur
Ruhe.
Das Dumme: Zu jener Zeit heirateten Frauen in den USA im Durchschnitt mit
18 Jahren. „Wenn sich Elvis mit 18 aus der Öffentlichkeit zurückgezogen
hätte, wüssten wir heute auch nicht, wer er war, immerhin ist er erst mit
21 so richtig bekannt geworden. Wir müssen darüber sprechen, welche Spuren
Frauen in der Musikgeschichte hinterlassen und wen sie beeinflusst haben,
auch wenn ihre Karrieren kürzer und auf einzelne Regionen beschränkt
waren“, sagt Branstetter.
Sonst übersieht man sie so, wie es Journalismus und Trendforschung lange
getan haben. „Es ist absolut wahr, dass keine Performerin der
Rock-’n’-Roll-Ära jemals die Wildheit und Intensität von Jerry Lee Lewis
oder die Beliebtheit von Elvis Presley erreicht hat“, schrieben in den
70ern die MusikautorInnen Robert Oermann und Mary Bufack. Hat Elvis
Presley, der einst Wanda Jackson zu ihrer ersten Aufnahme ermunterte,
offenbar nicht so gesehen.
20 Jul 2019
## LINKS
[1] /Elvis/!5196545
[2] /!1199722/
[3] http://www.womeninrockproject.org/
[4] /Elektro-Musikerinnen/!5059362
## AUTOREN
Julia Lorenz
## TAGS
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