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# taz.de -- Neues Stück von Schorsch Kamerun: Erkenntnis ist überbewertet
> „Bauhaus – ein rettendes Requiem“ ist eine knallbunte Rallye. Schorsch
> Kemerum schickt die Zuschauer durch alle Räume der Berliner Volksbühne.
Bild: Wichtig für dieses Stück: die Kopfhörer
Die just [1][um einen Intendanten angewachsene Berliner Volksbühne]
schwappte am Freitag vor Ideen fast über. Was als „rettendes Requiem“ für
das Bauhaus angekündigt war, hat das Zeug dazu, Seelen zu retten. Und zwar
jede Menge. Für den Regisseur, Komponisten und Performer [2][Schorsch
Kamerun], der den Abend mit der Hilfe von rund 50 Kolleg*innen aus
verschiedenen Fächern (darunter Mitglieder der Theatergruppe P14, der UdK,
der experimentellen Werkstatt „projekt bauhaus“ und der „Etage“)
gestaltete, ist laut Programmheft „Theater ein Versuchsfeld, in dem […]
kollektiv etwas entsteht“.
Seine Betonung wird bei diesem Satz auf „kollektiv“ gelegen haben – der
großartigste dieser vor Effekten sprudelnden Performances entsteht durch
den Mut, das Thema „Kollektiverlebnis“ gleichzeitig zu präsentieren und zu
dekonstruieren: Der Abend, der simultan fast alle Räume, Etagen und Nischen
bespielt, wird durch Kopfhörer, die jedem*r Besucher*in ausgehändigt
wurden, und in denen die Parallel-Performances live zusammencollagiert
werden, auditiv gemeinsam erlebt – während die Entscheidung, wohin man geht
und schaut, individuell bleibt.
So flaniert das mit den leuchtenden Headphones wie
DJ-Workshopteilnehmer*innen wirkende Publikum in Grüppchen über Gänge und
Treppen, durch das Sternenfoyer, in den Grünen Salon und auf die von Katja
Eichborn mit transparenten, bunten Plastikstellwänden und Zelten
aufgeteilte Bühne, und hört der Mezzosopranistin Corinna Scheurle, den
Schauspieler*innen Paula Kober und Paul Herwig, der Performerin Mia von
Matt oder Kamerun selbst samt Miniband aus Bläsern, Xylophon und Klavier
zu: „Wir sind ein Wolfspelz in Schafsgestalt“, singt der „Die Goldenen
Zitronen“-Gründer etwa, oder „Weitermachen, nächster Gang“.
Dazwischen tragen Mitglieder und Theaterstudierende Plastik-Zitronenbäume
umher, auf der Bühne wird ein „Experte“ zur Wagenfeld-Lampe interviewt,
woanders gibt eine Gruppe Studentinnen „Nora“ von Ibsen. Und die Tänzerin
Anne Tismer tanzt versunken und mit lakonischem Witz zehn Zahlen vor, erst
scheint sie die Formen der Zahlen zu interpretieren, dann performt sie die
zehn Zahlen als Farben und als Tiere – vermutlich hat sie damit den ersten
synästhetischen Tanz der Welt erfunden!
## Das Neudenken der ganzen Welt
Und er sieht spitze aus! Akteur*innen-Konterfeis und Aktionen werden
derweil auf große und kleine Leinwände in alle Räume übertragen – die
Bilder vermischen sich somit zu einem demokratischen und mehrschichtigen
Chor.
Bei dessen Rezeption man sich gleichzeitig an mehreren Orten, auf
verschiedenen Ebenen wähnt. Das passt zur Gleichzeitigkeit des
globalisierten Lebens genauso gut wie zum Bauhaus mit seinen mannigfaltigen
Schulen, Ästhetiken und seinem Inspirationsreichtum. Denn beim Bauhaus, das
wurde in diesem 100. Jubiläumsjahr ja nun landauf und -ab bis Oberkante
Unterlippe heruntergebetet, ging es um nichts weniger als das Neudenken der
ganzen Welt.
Kamerun interpretiert in seiner Totenmesse, die das Leben feiert,
demzufolge (fast) alles neu – zwar erkennt man vor allem in den von Gloria
Brillowska entworfenen, bezaubernden Kostümen wie der silberfarbenen
„Schere“ (die im Hampelmannschritt über die Bühne hüpft und dabei über …
mit ihren runden Griffen klappert) oder der „Seife“ (samt glänzender
Seifenblasen) Hinweise auf das triadische Ballett oder auch auf das
„Springbrunnen“-Kostüm, das die Millionenerbin und Muse Luisa Casati einst
bei einer garantiert spektakulären Party in den 20er Jahren, der Hoch-Zeit
des Bauhauses, trug.
Doch das Bauhaus mit den spezifischen Formen, deren Sachlichkeit und
Knappheit einst revolutionär und modernistisch war, sehen Kamerun und
Konsorten eher wie einen interdisziplinären Springbrunnen der
Möglichkeiten, denn als monumentales, spartentreues Regelwerk. Das macht
den Abend erratisch – und faszinierend. Dazu berührt es einen, mal wieder
an Schlingensief und sein multimediales, multi-inhaltliches
Theaterverständnis erinnert zu werden.
## Eine fidele Totenmesse
Sich Erkenntnisse aus der pickepackevollen Bauhaus-„Erlebnisrally“
(Kamerun) herauszufummeln, ist zwar zuweilen etwas mühselig – aber
Erkenntnis wird eh überbewertet. Texte wie der Vortrag aus der Zukunft, in
der eine „Meisterschülerin an der University of HipHop and Science“
internationale, nach „Bauhauskünstlern“ benannte Universitäten aufzählt …
und dabei fast ausschließlich weibliche Namen nennt, sind außerdem
Visionen, an denen weitergearbeitet werden sollte.
Am Ende morpht die fidele Totenmesse endgültig zur Bauhaussause, Seife,
Schere und ihre Freund*innen tanzen irre Choreos mit Menschen, die kopf-
und gesichtsbedeckende (!) Badekappen in Neonfarben tragen, der Komponist
PC Nackt haut in die Tasten, jemand spielt Flöte, und Kamerun skandiert
Theoretisches über das Bauhaus, als wären es Punkparolen. Ein Jammer, dass
Walter Gropius das nicht miterleben konnte. Er hätte um Contenance
gerungen.
23 Jun 2019
## LINKS
[1] /Neuer-Intendant-an-Berliner-Volksbuehne/!5600365
[2] /Schorsch-Kamerun-ueber-Theater/!5600370
## AUTOREN
Jenni Zylka
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