# taz.de -- Essay zum 100. Bauhaus-Jubiläum: Bau der Zukunft | |
> Neue Produktionsmittel, alte Eigentumsverhältnisse? Über das | |
> sozioökonomische Reflexionsdefizit des Bauhauses und dessen Aktualität. | |
Bild: Bauhausensemble in Dessau-Roßlau, 2019 | |
Je länger der Kulturbetrieb das Bauhaus-Jubiläum feiert, desto stärker wird | |
sein eigenes Unbehagen daran. Autorinnen und Autoren im Feuilleton mögen | |
die Artikel der Kolleg*innen nicht mehr lesen; sie können den Weimarer | |
Museumsneubau nicht leiden, sie konstruieren einen epochalen Gegensatz | |
zwischen Visionären der Vergangenheit und Zimperlingen der Gegenwart. | |
Kritische Köpfe „nervt der jubelnde Konsens, scheinbar jeder findet es | |
super, kann sich hinter ein deutsches Vorzeige-Phänomen stellen, das so | |
herrlich markentauglich in die Welt ausgeschwärmt ist“, wie es Schorsch | |
Kamerun kürzlich in der SZ formulierte. | |
Stimmt – man kann es nicht mehr hören. Betrachten wir das Bauhaus also | |
versuchsweise einmal nicht kunst- und architekturgeschichtlich (und auch | |
nicht kulturalistisch), sondern gesellschaftstheoretisch (die „soziale | |
Frage“ ist ja wieder auf der Tagesordnung). | |
Die Bauhaus-Idee lässt sich dann so resümieren: Wie können die neuesten | |
Produktionsmittel aus Handwerk, Industrie und Technik eingesetzt werden, um | |
Lebensbedingungen und Alltagspraxis zu verbessern, ohne die | |
Eigentumsverhältnisse grundsätzlich infrage zu stellen? Mit anderen Worten: | |
Kann die Revolution der Produktivkräfte allen zugutekommen, ihr Leben | |
besser machen, ohne dass die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel | |
angetastet wird, der Kern der Produktionsverhältnisse? | |
## Technik-Euphorie | |
Als die neue Designschule in Weimar etabliert wurde, war es noch nicht | |
lange her, dass die soziale Revolution auch in Deutschland keine ganz | |
unrealistische Option zu sein schien. Der Geist der Moderne manifestierte | |
sich in einem politischen Projekt: menschliche Emanzipation und soziale | |
Gerechtigkeit, Überwindung von Imperialismus und Nationalismus. | |
Vor allem aber auch in einer Technik-Euphorie. Selbst die Erinnerung an den | |
Ersten Weltkrieg, als Tanks, Flieger, Bomben und Gas die Soldaten auf | |
Pferden verdrängt hatten, konnte der Euphorie nicht viel anhaben. Vor | |
diesem dunklen Hintergrund artikulierte sich der Geist der Moderne in einer | |
Reihe gestalterischer Avantgarde-Bewegungen. | |
Dass der Fortschritt viele Gesichter hat, die gleichwohl ein gemeinsames | |
Ziel anvisieren, war Konsens; diese Annahme vereinte gegensätzliche | |
politische und ästhetische Lager. Und der Motor des Fortschritts? Das war | |
die Produktivität der neuen sozialen Führungsschicht. Die Errungenschaften | |
des Bürgertums sollten demokratisch verwurzelt oder sozialistisch | |
weiterentwickelt werden. | |
Soziale Revolutionen aufgrund technisch-industrieller Revolutionen waren | |
sozusagen der Markenkern des modernen Bürgertums. Dieses „kann nicht | |
existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die | |
Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse | |
fortwährend zu revolutionieren“: Das hatte Marx rund 70 Jahre zuvor | |
geschrieben. „Weltmarkt“, „Handel“, „Schiffahrt“ und „Landkommuni… | |
alle hatten im Gefolge der Industrialisierung „eine unermeßliche | |
Entwicklung“ durchlaufen. | |
Die hatte „wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt“. Um den | |
bürgerlichen Fortschritt in einen menschheitlichen zu verwandeln, bedurfte | |
es für Marx und andere Radikale nicht nur der Entfaltung der | |
Produktivkräfte, sondern auch der Neugestaltung sozialer | |
Eigentumsverhältnisse. | |
## Keine Berührungsangst vor dem Nationalsozialismus | |
Doch davon war in Weimar nach 1919 nicht mehr ernsthaft die Rede. | |
Revolutionäre Funken in der Republik waren, im Auftrag von Besitzern der | |
Produktionsmittel und SPD-Regierung, erstickt worden. Das Privateigentum an | |
den Produktionsmitteln, die private Aneignung des kollektiv erarbeiteten | |
Mehrprodukts, stand für die Bauhaus-Gestalter nicht zur Debatte. | |
In der liberalen Demokratie konnte man sich auf geldmächtige Auftraggeber | |
für Großprojekte verlassen; die Abnehmer*innen für Gebrauchsgegenstände des | |
täglichen Lebens wurden zahlreicher und kaufkräftiger. | |
Walter Gropius und Ludwig Mies hatten am Ende auch keine Berührungsangst | |
vor dem Nationalsozialismus, der in der „Krise der bürgerlichen | |
Demokratien“ im Zuge der Weltwirtschaftskrise bestrebt war, „die | |
bestehenden Eigentumsverhältnisse mit offener Gewalt festzuhalten“ (Walter | |
Benjamin). War das Bauhaus nicht unentbehrlich zur Neugestaltung eines | |
erwachten Deutschlands, in dem der Kapitalismus der Oligopole durch | |
kulturelle und militärische Aktivierung der Massen krisenfest werden | |
sollte? | |
## Die Ära Hannes Meyer | |
Dass ein Linker zwischenzeitlich das Bauhaus leitete, war der Anfang vom | |
Ende. Hannes Meyer brachte vor der Auflösungsphase aber im internationalen | |
Geist der Moderne noch einmal die besten Kräfte der Schule an den Tag. „Die | |
konstruktive Form kennt kein Vaterland; sie ist zwischenstaatlich und | |
Ausdruck internationaler Baugesinnung. | |
Internationalität ist ein Vorzug unsrer Epoche“, hatte der Heimat-Kritiker | |
1926 geschrieben. Meyer plädierte für sozialistische Umgestaltung auf | |
Grundlage technisch-wissenschaftlicher Produktivkräfte. „Radio, | |
Marconigramm und Telephoto erlösen uns aus völkischer Abgeschiedenheit zur | |
Weltgemeinschaft.“ | |
Als er dies schrieb, hatte sich das Bauhaus gerade in Dessau | |
niedergelassen, der Widerstand der Nazis im Gemeinderat war noch kraftlos. | |
„Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car, | |
Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff der ‚Heimat‘. | |
Das Vaterland verfällt. […] Wir werden Weltbürger.“ | |
Meyer hatte durchaus nicht nur die Großbaustellen des Bauhauses im Blick, | |
sondern auch die befreiende Semiotik der körpernahen kulturellen Grammatik: | |
„Die Tracht weicht der Mode, und die äusserliche Vermännlichung der Frau | |
zeigt die innere Gleichberechtigung der Geschlechter.“ 1930 wurde Meyer | |
gekündigt; er ging zeitweilig in die Sowjetunion, wo Stalin ihn | |
drangsalierte, und schließlich zurück in die Schweiz, sein Geburtsland. | |
Von Weimar über Dessau bis Berlin befand sich das Bauhaus im Zwiespalt. | |
Seine Designobjekte, Häuser und visuellen Botschaften verkörperten zwar die | |
ethische Norm sozialer Gerechtigkeit, fungierten aber als elitäre | |
Distinktionsmerkmale. Gerda Breuer hat gründlich untersucht, wie etwa eine | |
„Auswahl privilegierter Möbelstücke“ das Angebot schafft, sich durch feine | |
Unterscheidungen (im Sinne Bourdieus) von anderen abzugrenzen, die es sich | |
nicht leisten können oder nichts davon verstehen. | |
Man kann den Zwiespalt als Indikator für ein sozio-ökonomisches | |
Reflexionsdefizit des Bauhauses interpretieren. Die funktionalistische | |
Avantgarde nahm an, soziale Gerechtigkeit ließe sich verwirklichen, indem | |
man die Bevölkerung mit „gut“ und „zweckmäßig“ gestalteten, „schö… | |
Gegenständen und Behausungen versorgt, ohne die Produktions- und | |
Eigentumsverhältnisse grundlegend zu verändern. | |
## Das Kollektiv der Social Media | |
Das hat sich aus dieser Sicht als historischer Fehler erwiesen. Dies zu | |
sehen ist für die Gegenwart wichtig. Denn wir haben nach wie vor eine | |
Dynamik der technisch-wirtschaftlichen Produktivkräfte bei gleichzeitiger | |
Statik der sozialen Produktions- und Eigentumsverhältnisse. | |
Im Zuge der digitalen industriellen Revolution stehen wir heute wieder vor | |
der Frage, ob die neuesten Produktionsmittel Leben und Alltag für alle | |
verbessern können, wenn die Eigentumsverhältnisse nicht infrage stehen. Für | |
Gropius waren Prinzipien des Industriebaus innovatives Vorbild für einen | |
zeitgemäßen Wohn- und Städtebau. | |
Heute ist die digitale Produktionsweise Vorbild für Lebensformen geworden. | |
Alle einzelnen werden über die Schnittstelle des mobilen Computertelefons | |
mit dem Kollektiv verbunden. Industriegebäude verschwinden, waren- und | |
dienstleistungsproduzierende Arbeit findet dezentral statt, immer mehr als | |
Auftragsarbeit wie in vorindustriekapitalistischen Zeiten. Schulgebäude | |
werden bald überflüssig sein, wenn sich die Kinder daheim über | |
Lernplattformen auf ihr späteres Leben in Erwerbsarbeit vorbereiten. | |
Niemand kann sich der Digitalisierung der Arbeit, des Lernens und des | |
Lebens entziehen. Man kann sie allenfalls verleugnen. Tut man das nicht, | |
stehen verschiedene Wege offen, mit ihr umzugehen. Sie ist ein optimales | |
Instrument zur Verwertung des Werts, der in die Produktion von Gütern und | |
Dienstleistungen investiert wird (Rationalisierung, | |
Produktivitätssteigerung, Wachstum). Sie bietet sich als Instrument zur | |
Erweiterung und Beschleunigung der Distribution an (Vernetzung, Logistik). | |
Und sie erschließt neue Dimensionen der Konsumtion und Kommunikation | |
(Onlineshopping, Social Media). | |
Gilt für die „digitale Agenda“ noch, was für den Kapitalismus galt: dass | |
ihm nicht allein die Verewigung der profitorientierten Aneignung lebendiger | |
Arbeit zuzutrauen wäre, sondern gleichzeitig auch „die Herstellung von | |
Bedingungen“, „die die Abschaffung seiner selbst möglich machen“ | |
(Benjamin)? Ist das Kollektiv der Social Media eines, dem daran liegen | |
könnte? Davon sollte man nicht schweigen, wenn man mit Gropius vom „Bau der | |
Zukunft“ redet. | |
23 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Schweppenhäuser | |
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