# taz.de -- Evangelischer Kirchentag in Dortmund: Liebe auf den zweiten Blick | |
> Dortmund hat Probleme. Viele Arbeitslose, 30 Jahre Strukturwandel. Aber: | |
> Dortmund hat auch diesen rauen, liebenswerten Charme. | |
Bild: Das Wahrzeichen Dortmunder U begrüßt mit dem Motto des Kirchentags „W… | |
DORTMUND taz | 80 Mann gehen am Pfingstmontag in Dortmunds Nordstadt bei | |
einer Massenschlägerei aufeinander los. Am Schleswiger Platz werden in dem | |
Einwandererviertel ein schwerer Vorschlaghammer und Molotowcocktails | |
eingesetzt. Von „Szenen wie im Krieg“ schreiben die Ruhr Nachrichten. Nur | |
zwei Tage später folgt eine Schießerei am Rand der Innenstadt, bei der ein | |
32-Jähriger schwer verletzt wird: Gut sind die Schlagzeilen nicht, mit | |
denen Dortmund in der Woche vor dem Evangelischen Kirchentag in den Medien | |
stand. | |
Ausermittelt sind beide Fälle längst nicht. Bei der Massenschlägerei ist | |
von „Auseinandersetzungen im Drogendealermilieu“ die Rede. Polizeipräsident | |
Gregor Lange erlaubt seinen Beamt*innen in der Nordstadt, wo drei von vier | |
Menschen einen Migrationshintergrund haben, jetzt die „strategische | |
Fahndung“. Damit kann die Polizei mit anlasslosen Kontrollen auch ohne | |
konkrete Hinweise gegen alle vorgehen, die irgendwie verdächtig wirken. | |
„Auf die Dortmunder Polizei können sich die Menschen verlassen“, verspricht | |
Lange – und warnt vor rechten Hetzern. | |
Denn auf Schießerei und Schlägerei sind längst typische Reflexe gefolgt: | |
Die „Einwanderungspolitik“ sei „völlig aus dem Ruder gelaufen“, ist et… | |
den Online-Kommentaren der Westfalenpost zu lesen. „Wenn abgeschoben werden | |
kann und muss, dann auch sofort“, heißt es dort auch. Ruhr Nachrichten und | |
Westdeutsche Allgemeine haben ihre Kommentarfunktion bei dem Thema ganz | |
abgeschaltet. | |
Die Sorge zeigt, wie aktuell, wichtig und mutig die Entscheidung des | |
Kirchentagspräsidiums rund um den Starjournalisten Hans Leyendecker war, | |
das evangelische Großevent mit dem roten Faden „Migration, Integration, | |
Anerkennung“ zu durchziehen: Die Hauptveranstaltungen spielen nicht im | |
reichen Dortmunder Süden, sondern rund um den Stadtkern in Nähe der | |
Reinoldikirche, in den Westfalenhallen, im Stadion des BVB – und eben in | |
der Nordstadt zwischen dem Kulturzentrum Depot, dem Fredenbaumpark und dem | |
Dietrich-Keuning-Haus. | |
## Erstaunlicher Wandel | |
Das Motto des Kirchentags – „Was für ein Vertrauen“ – passe bestens zu | |
Dortmund, findet Leyendecker. Der 70-Jährige, zuletzt Leiter des | |
Investigativressorts der Süddeutschen Zeitung, hat seine Karriere bei der | |
Westfälischen Rundschau begonnen und acht Jahre in der Stadt gelebt. | |
Die Metropole des östlichen Ruhrgebiets hat in den vergangenen 30 Jahren | |
einen erstaunlichen Wandel hingelegt. Die Schwerindustrie, die Dortmund | |
groß gemacht hat, ist verschwunden – mit „Minister Stein“ hat die letzte | |
Zeche schon 1987 dichtgemacht. Und vom einst größten Brauereistandort | |
Europas ist nur noch die „Dortmunder Actien-Brauerei“ übrig. | |
Am deutlichsten wird der „Strukturwandel“ im Stadtteil Hörde. Hier | |
leuchtete auf dem 2001 stillgelegten Phoenix-Stahlwerk jahrzehntelang die | |
„Hörder Fackel“ – ein 98 Meter hoher Kamin, auf dem die Konvertergase der | |
Hochöfen mit meterhohen Flammen kontrolliert abgebrannt wurden. Jetzt | |
stehen am künstlich angelegten Phoenixsee etwa 2.000 neue Häuser und | |
Wohnungen. | |
Wo früher malocht wurde, leben heute die Gewinner*innen des Wandels hin zum | |
Informations- und Dienstleistungssektor. „Dortmund ist eine | |
Wissenschaftsstadt – eine Stadt, in der längst nicht mehr die Schlote, | |
sondern die Köpfe rauchen“, erklärt SPD-Oberbürgermeister Ullrich Sierau | |
deshalb stolz. | |
## Eine der jüngsten Intendant*innen | |
Symbole für den Umbau der Stadt sind auch die vielen neuen Gebäude in der | |
Innenstadt wie das 2002 eröffnete Konzerthaus – mitten im aufgehübschten | |
Brückstraßenviertel, früher als halbseidener Treffpunkt der Käufer von | |
Cannabis und anderem Stoff bekannt. Am Schauspiel Dortmund hat Kai Voges | |
das Theater verstärkt gesellschaftsrelevanten Themen geöffnet. Ihm folgt im | |
Sommer 2020 Julia Wissert als eine der jüngsten Intendant*innen | |
Deutschlands. Mit struktureller Diskriminierung am Theater hat sie sich als | |
Person of Color schon in ihrer Diplomarbeit auseinandergesetzt. | |
Knapp einen Kilometer von Wisserts künftigem Arbeitsplatz liegt der von der | |
Bahn noch immer nicht renovierte Hauptbahnhof, den Ex-Oberbürgermeister | |
Günter Samtlebe schon vor Jahrzehnten als „Pommesbude mit Gleisanschluss“ | |
beschrieben hat. Und hinter dem Bahndamm beginnt der Norden: Zwischen 1960 | |
und 1995 verschwanden rund 100.000 oft gut bezahlte Arbeitsplätze gerade | |
für Nichtakademiker*innen. | |
Vielen fehlen formale Bildungsabschlüsse. Seit mehr als 100 Jahren ist das | |
Viertel erste Anlaufstation für alle, die im östlichen Revier auf ein | |
besseres Leben hoffen: Schon im Kaiserreich kamen mit der | |
Industrialisierung Menschen aus dem Gebiet des heutigen Polen, aus Bayern | |
und Österreich-Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Italiener, | |
Griechen und Türken, im vergangenen Jahrzehnt neben Geflüchteten viele aus | |
Bulgarien und Rumänien. | |
Heute sind in ganz Dortmund 10 Prozent arbeitslos, in der Nordstadt sind es | |
17. Und selbst diejenigen, die einen Job ergattern, bekommen oft miese | |
Löhne: Während im südlichsten Stadtteil, Syburg, nur 3,6 Prozent der | |
Einwohner*innen von Transferleistungen leben, sind rund um den Nordmarkt | |
mehr als 40 Prozent in irgendeiner Form auf staatliche Unterstützung | |
angewiesen, heißt es im „Bericht zur sozialen Lage“ der Stadtverwaltung von | |
2018. | |
## Nirgendwo ist Dortmund lockerer als in der Nordstadt | |
Geprägt haben die Migrant*innen ein Quartier mit ganz eigenem rauen Charme. | |
Neben vielen Dönerläden und Asia Shops beherbergt die Nordstadt auch | |
Kultkneipen wie das „subrosa“ und das „Sissikingkong“. Nirgendwo ist | |
Dortmund lockerer, nirgendwo sonst haben die auf Ruhrhochdeutsch einfach | |
„Bude“ genannten Kioske länger auf. In der Nordstadt leben deshalb viele | |
Studierende. | |
Auch für manche Akademiker*innen ist die Nordstadt eine Liebe zumindest auf | |
den zweiten Blick: Sie haben nach dem Einstieg in den Job einfach keine | |
Lust gehabt auf das gentrifizierte Kreuzviertel mit seinen vielen | |
Restaurants mit gebeiztem Lachs, Chutneys und Risottos auf der Speisekarte. | |
Deutschlands Rechtsextreme haben dagegen immer wieder versucht, Dortmund | |
zur Chiffre für gescheiterte Integration zu machen. Der soziale Gegensatz | |
zwischen Arm und Reich sollte in Form eines „nationalen Sozialismus“ | |
ethnisch aufgeladen werden. Doch diese Strategie scheint grandios | |
gescheitert: Trotz „europaweiter Mobilisierung“ kamen zum vorerst letzten | |
Neonazi-Aufmarsch Ende Mai im Stadtteil Hörde exakt 184 Faschist*innen. | |
Deren Ikone, der „SS-Siggi“ genannte Siegfried Borchardt, ist aus seiner | |
Nordstadt-Wohnung an der Mallinckrodtstraße, wo der Kioskbesitzer Mehmet | |
Kubaşık 2006 von den Terroristen des NSU erschossen wurde, nach Dorstfeld | |
geflüchtet. Dort haben etwa 30 Rechtsextreme mit Unterstützung eines mehr | |
als 80 Jahre alten Vermieters einen Straßenzug als ihr Revier markiert. | |
## Mehr als 2,6 Milliarden Euro Schulden | |
Für Dortmund kann der Kirchentag, wo bei über 100 Veranstaltungen um die | |
Themen Migration, Flucht, Asyl und Integration gerungen werden soll, zum | |
Geschenk werden. Unumstritten war er im Rathaus nicht: Neben den Rechten | |
stimmten auch Linke und Piraten dagegen. Trotz Imagegewinn und mehr als 25 | |
Millionen Euro, die das Event außerplanmäßig in die Stadt spülen soll, sei | |
der kommunale Zuschuss von 2,7 Millionen zu hoch, argumentierten sie – | |
Dortmund hat mehr als 2,6 Milliarden Euro Schulden. | |
Andererseits: Über Jahre werden nie wieder so viele Spitzenpolitiker*innen | |
die Stadt besuchen wie in dieser Woche. Bundespräsident Frank-Walter | |
Steinmeier und seine drei Vorgänger werden ebenso in Dortmund sein wie | |
Kanzlerin Angela Merkel, Außenminister Heiko Maas, Entwicklungsminister | |
Gerd Müller und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. | |
Für alle Engagierten vor Ort ist das die Chance, noch einmal klarzumachen, | |
was gerade den Geflüchteten und Zuwanderer*innen aus Südosteuropa, darunter | |
viele Sinti und Roma, auch im traditionellen Schmelztiegel Ruhrgebiet | |
fehlt: Qualifikationen, Deutschkenntnisse, bezahlbare nicht verwahrloste | |
Wohnungen, Schutz vor Ausbeutung jeder Art – und natürlich oft auch eine | |
Bleibeperspektive und damit selbst das Recht auf einen Integrationskurs, | |
für den ein förmlicher Aufenthaltstitel nötig ist. | |
Selbstverständlich ist das Aufgabe des ganzen Staates – überfordert ist | |
jede Stadt wie Dortmund, in die in den vergangenen zehn Jahren mehr als | |
30.000 Menschen ohne deutschen Pass gezogen sind. „Die bisherige | |
Unterstützung seitens des Landes und insbesondere des Bundes“, heißt es im | |
Dortmunder Bericht zur sozialen Lage deshalb desillusioniert, „reicht bei | |
weitem nicht aus.“ | |
19 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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