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# taz.de -- Evangelischer Kirchentag: Was für ein Misstrauen
> Der am Mittwoch beginnende Evangelische Kirchentag ist eine
> Wellness-Mogelpackung. AfD-Politiker*innen dürfen sich dort nicht einmal
> selbst blamieren.
Bild: AfD-Leute nicht auf Podien zu bitten zeugt nicht von Vertrauen, sondern v…
Kirchentage, die evangelischen besonders, sind Hochämter der Einflussnahme,
politisch und vor allem kulturell, auf die Dinge, die politisch wirkmächtig
sind. Und werden. Wer auf Kirchentagen das Publikum auf seine oder ihre
Seite bekam, hatte im Leben jenseits des einflussreichsten Glaubens der
Nachkriegszeit gute Karten. Kirchentage sind keine dieser meist ja steifen,
ritualisierten amtskirchlichen Veranstaltungen, sondern Massenevents,
[1][vor allem solche jüngerer Menschen.] Kirchentage, besonders die seit
den unruhigen Jahren der späten Sechziger, waren Foren der
gesellschaftlichen Debatten. Sie sind unabhängig von den Amtskirchen – kein
Bischof, keine Bischöfin kann sagen, was dort angesagt zu sein hat.
Kirchen protestantischer Art haben zunächst stets alles an
emanzipatorischen Bewegungen verschlafen, die jenseits von ihr aufblühten.
Die offiziellen Kirchen haben viel dafür getan, dass es keine Aussöhnung
mit Israel gibt, dass die Kriminalisierung von abtreibenden Frauen und
ihren Ärzt*innen beibehalten wird, dass Homosexuelle drakonisch verfolgt
werden. Aber die christlichen Laien auf ihrem Fundament, den Kirchentagen,
haben diesen herzlichen Verkrustungen abgeholfen – und sie beseitigt.
Viel Gutes haben Kirchentage gezeigt und als Hausaufgaben mit auf die Wege
vieler gegeben. Fragen um die Aussöhnung mit Israel, die Annäherung an die
Menschen aus dem verbrecherisch durch die deutsche Wehrmacht verwüsteten
Osten Europas, die um die Demokratisierung der bundesdeutschen Verhältnisse
in den Siebzigern, schließlich jene um die Friedensfragen, die die
evangelische Kirche als Popularisierungsmaschine der Friedensidee
schlechthin auswies: Schwerter zu Pflugscharen – im Übrigen gern und sehr
deutsch übersehend, dass ohne den supermilitärischen D-Day in der
Normandie, Pflugscharen zu Schwertern, Nazideutschland niemals besiegt
worden wäre.
Kirchentage, das erkannten Politiker*innen damals natürlich auch, sind
große Schwimmbäder der Einflussnahme unterhalb der politischen Sphären: Wer
auf Kirchentagen reüssierte, war kein Niemand mehr. Dorothee Sölle, Margot
Käßmann, Luise Schottroff oder Jörg Zink holten sie auf Kirchentagen den
wärmenden Beifall, der ihnen amtskirchlich oft nicht so zuteilwurde, wie es
ihre Basis gern gehabt hätte. Kirchentage – das sind tatsächlich immer
seismografisch zu nehmende Events, die die politische Großwetterlage
abbildeten – und beförderten.
## Union und FDP als Ramschprodukte
Auf den Kirchentagen bis Ende der neunziger Jahre war die 1998 auch
offiziell gewählte rot-grüne Bundesregierung das mächtige Sehnensprojekt:
Mit den guten Roten und den noch besseren Grünen würde alles gut werden auf
Erden. Politiker*innen hatten es dort immer gut, die, wie es in kirchlicher
Sprache so zwiespältig hübsch heißt, „mitnehmen“, „abholen“ und ganz
geerdet und berührbar von Sinnen sich zeigen.
Joachim Gauck hat auf Kirchentagen sein Publikum, Angela Merkel, spätestens
seit der großen Einwanderungsbewegung 2015, ihr größtes: Held*innen der
mächtigen Christenszene, die nicht kalt scheinen, sondern, nun ja,
menschlich, beifallumtost. Kirchentage, das gehört fundamental zu ihnen,
waren nie national begrenzt, Männer und Frauen aus dem globalen Süden waren
und sind zu Gast.
Von heute an in Dortmund wird bis Sonntag zu registrieren sein, wer zu den
aktuellen Stars der Szene gehört. Robert Habeck, natürlich, wird kommen,
selbstverständlich auch Annalena Baerbock wie auch seitens der SPD Kevin
Kühnert und von der CDU, von der fast schon präsidentiell wirkenden
Kanzlerin abgesehen als Superpromi nur noch Ministerpräsident Armin
Laschet.
Nicht im Personenregister des fast 600-seitigen Programms stehen Namen wie
Annegret Kramp-Karrenbauer, Friedrich Merz, Paul Ziemiak oder Christian
Lindner. Das verheißt für Letztere nichts Gutes: In ihnen scheint das
Kirchentagsplangremium keine Zukunft zu sehen – nicht einmal als
Diskurs-Antifiguren. Kirchentage sind Get-together der kommenden
Entscheider*innen der Republik, und die Aktien der Leute von der Union wie
der FDP haben auf Kirchentagen den Preis von Ramschprodukten.
## Pharisäerhafte Produkttäuschung
Solche Personaltableaus von Kirchentagen zeigten schon früher zuverlässig,
wer was wird und wer eher nicht. Dieses Mal aber gibt es ein No-go, und das
hat die Leitung des Kirchentags unter Führung ihres neuen Kopfes Hans
Leyendecker formuliert. Der einstige Investigationsjournalist der
Süddeutschen Zeitung (und des Spiegels) hat in einem Interview mit der
Zeit-Beilage Christ und Welt gesagt: „Dem Kirchentag geht es ums Zuhören,
aber ich möchte nicht Herrn Gauland zuhören.“ Was für einen
Christenmenschen schon eine erstaunliche Aussage ohnehin ist, spitzt er
noch mit dem Satz zu: „Die AfD entwickelt sich rasend weiter nach rechts,
die Radikalisierung der Partei schreitet voran.“
Das ist zwar richtig, aber wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier,
ebenfalls aus Anlass des Kirchentags in Dortmund, ein Loblied auf die
„offene Gesellschaft“ anstimmt und dafür plädiert, mit Menschen ins
Gespräch zu kommen, die anderer Meinung sind, dann kommt das einer
pharisäerhaften Mogelpackung gleich – besser: einer Produkttäuschung.
Kirchentag ist dann tatsächlich ein Gehege begrenzter Meinungsfreude.
Kein Missverständnis: Haltungen, Programme und Performancer der AfD und
ihrer Verantwortlichen kommen gespenstischem Voodoogeplapper gleich, sie
berühren mehr als nur selten geistige Pfade, die den Comment, den das
Grundgesetz absteckt, schwer verletzt – ein Stichwort wie „Vogelschiss“ m…
reichen. Aber der Evangelische Kirchentag firmiert unter dem Motto „Was für
ein Vertrauen“. Der Grundsatz, AfD-Leute nicht auf Podien zu bitten,
spricht dem Hohn. Besser wäre der Titel: „Was für ein Misstrauen!“ Die
Idee, durch eine Nichteinladungspolitik die Welt im guten Zaum zu halten,
ist ohnehin infantil: Ich lege mir die Hände auf die Augen und behaupte,
die Welt existiere nicht.
Was Steinmeier fast nachdenkensarm so vor sich hin tremoliert, was
Leyendecker mit durchgesetzt hat – ist keine offene Gesellschaft namens
Kirchentag, sondern ein geschlossenes Milieu der Eingeweihten, der
Bekehrten, das glaubt, den Schmutz, so gehen ja offenbar ihre Fantasien,
einer wenigstens zwölfprozentigen Realität außen vor lassen zu können.
Misstrauen ist das Charakteristikum einer solchen Haltung – denn man
glaubt, dass das gute Volk der Kirchentagsschäfchen von den Reden,
Beiträgen und Interventionen eines AfD-Menschen vergiftet werden könnte.
Falls dem so wirklich sein sollte: wie erbarmungswürdig, was für ein
Zeugnis an Unsouveränität. Als ob nicht in der konkreten Debatte bislang
noch jeder und jede aus dem AfD-Milieu haushoch mit Argumenten abgeräumt
worden wäre.
## Unerwünschte Kommunikation
Der Beschluss, sie sich nicht einmal selbst blamieren zu lassen, sie an der
Kraft der christlichen Neugieratmosphären – so möchte man doch hoffen –
scheitern zu sehen, ist, jesuanisch gesprochen, unwürdig vor der Kraft all
dessen, was Religiöses zumal im christlichen Sinne bedeuten könnte. Als ob
sie alle nicht wüssten, dass auf allen Kirchentagen evangelischer Art der
vergangenen 50 Jahre Rechte und Rechtspopulisten wie Tapfere kamen und als
Räudige wieder abreisten. Die Furcht war nicht oft auf protestantischer
Seite wirksam. Öfter, ja, meist lebten Kirchentage von der Kunst, den
spirituell, kulturell wie politisch, orientierten Gegner oder Gegnerin mit
aller Kraft zu umarmen – und damit zu marginalisieren.
Der Kirchentag in Dortmund, im Herzen einer immer amtskirchenferner
werdenden deutschen Wirklichkeit, der wird mit dem Makel leben müssen,
Kommunikationen für unerwünscht zu erklären. Sich gegen jeden – und sei er
noch so fies und mies – Einspruch zu verwahren. Leyendecker (und auch
Steinmeier) glauben gewiss, das Richtige zu tun: mit AfD-wählenden Menschen
– irgendwie gönnerhaft – zu reden, aber nicht mit jenen, die sie in die
Parlamente wählten. In der Bibel ist von Feigheit vor den Freund*innen die
Rede, sie empfiehlt jedenfalls kein Kontaktverbot. Sie spricht, auch im
Hinblick auf die unoffene Gesellschaft von Dortmund, nur zu wahr.
19 Jun 2019
## LINKS
[1] /Kirchentag-in-Stuttgart/!5202850
## AUTOREN
Jan Feddersen
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