| # taz.de -- Alltag eines Landpfarrers: Der Wanderprediger | |
| > Sinkende Mitgliederzahlen, Landflucht, Säkularisierung: In Brandenburg | |
| > baut die evangelische Kirche immer mehr Stellen ab. Was sind die Folgen? | |
| Bild: Manchmal kommt niemand zum Gottesdienst: Ruch neben dem Altar in der Pfar… | |
| Blumenthal taz | Christian Ruchs staubiger Wagen holpert über eine Straße | |
| ohne Mittelstreifen. Sie führt durch Kiefernwälder, vorbei an | |
| Getreidefeldern, gesäumt von majestätischen Eichen, die in der Junisonne | |
| lange Schatten werfen. Ruch fährt ein bisschen schneller als erlaubt. Er | |
| muss nach Blumenthal, zum Männerkreis. | |
| Blumenthal ist ein Dorf in der brandenburgischen Ostprignitz. Es gehört zur | |
| Kirchengemeinde Jäglitz-Nadelbach. Christian Ruch ist ihr Pfarrer: ein | |
| Prignitzer, Baujahr 61, wie er sagt. | |
| Ruch ist viel unterwegs. Um die 300 Kilometer legt er pro Woche zurück: | |
| Hausbesuche, Andacht im Altenheim, Gemeindekreise, Konfirmandenunterricht, | |
| Gottesdienste. Dazu ständig Beerdigungen, seltener Trauungen und Taufen. | |
| Jedes Dorf in der Prignitz hat eine eigene Kirche. Viele stammen aus dem | |
| 16. Jahrhundert, müssen saniert werden. Ruch trifft daher oft auch | |
| Architekten oder Denkmalpfleger. | |
| Vor drei Jahren noch betreute er fünf Dörfer. Dann zog ein Kollege in die | |
| Stadt. Seine Stelle wurde nicht neu besetzt, Ruch musste die Dörfer | |
| übernehmen. Aus fünf wurden mit einem Mal elf. Die Folge: Es bleibt weniger | |
| Zeit für die Arbeit am Menschen, wie er sagt. Er sei froh, wenn er es noch | |
| zu allen runden Geburtstagen schaffe. Es ist, als würde einem mit jeder | |
| Pfarrstelle ein lahmes Pferd übergeben, das er die letzten Meter zum | |
| Gnadenhof reiten muss. Ruch bleiben noch zehn Jahre bis zum Ruhestand. Er | |
| glaubt nicht, dass seine Stelle nachbesetzt wird. | |
| ## Durchschnittsalter: 47,9 Jahre | |
| Der Abbau von Pfarrstellen geht Hand in Hand mit dem demografischen Wandel | |
| in der Region und der Säkularisierung. Bis 2060 könnten beide große Kirchen | |
| etwa die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. | |
| Heute, an einem Dienstagnachmittag, findet im Blumenthaler Luthersaal der | |
| Männerkreis statt. Aber es will sich kein richtiger Kreis ergeben. Herr | |
| Pölchen ist krank, Herr Kenzler hat einen Arzttermin. So geht es weiter. | |
| Eigentlich wären sie zu acht. Bleiben Herr Schmock und Herr Grabow. Beide | |
| in ihren Siebzigern. Lothar Schmock, ehemaliger Prolet und Maurer, wie er | |
| sagt, ist nach langer Krankheit seit eineinhalb Jahren zum ersten Mal | |
| wieder da. | |
| Diethelm Grabow, einst sogenannter Zootechniker, hat seine | |
| Schlaganfallreihe schon etwas länger hinter sich. Im Gemeinderaum hat er | |
| den Kaffeetisch gedeckt und die Gesangsbücher verteilt. Ruch sagt, er meine | |
| das nicht böse, aber er fühle sich in seinen Dörfern manchmal wie in einem | |
| „freilebenden Seniorenheim“. | |
| Das Durchschnittsalter hier liegt Ende 2017 bei 47,9 Jahren. 1991 lag es | |
| noch bei 36,9. „Tot, tot, tot, alles tot“, sagt Lothar Schmock. | |
| ## „Ja, die hören zu“ | |
| Ein bisschen kommt eine Früher-war-alles-besser-Stimmung auf. Die Männer | |
| erzählen von den Festen, die sie feierten, von der Gemeinschaft. Ruch sagt, | |
| diese Nostalgie sei vor allem Ausdruck des Schmerzes über die weggezogenen | |
| Kinder und Enkelkinder. Die Leute fühlten sich einsam. | |
| Dann dreht sich das Gespräch beim Männerkreis, es geht um Politik. Bei der | |
| Europawahl hat hier die Partei der Abgehängten die CDU abgehängt: Die AfD | |
| erreichte im Wahlbezirk Heiligengrabe 21,9 Prozent, die CDU 21,5. Für ihn | |
| sei es wichtig, die Leute nicht in eine Schublade zu stecken, sondern ihnen | |
| zuzuhören, sagt Ruch. „Ob Parteien, Staat oder Kirche – die | |
| Verantwortlichen sind für die Basis da. Sie müssen sich auch mit den | |
| einfachen Leuten unterhalten.“ | |
| Die AfD schlage genau in diese Kerbe. Plötzlich meldet sich Lothar Schmock | |
| zu Wort, der zuvor still geworden war: „Ja, die hören zu!“ Ein wenig spät… | |
| wird er sagen, dass er auf den Bürgermeister der Gemeinde Heiligengrabe | |
| nichts kommen lasse, der sei wirklich ein sehr Guter – und von der | |
| Linkspartei. Ruch erklärt diesen Widerspruch damit, dass viele | |
| Sympathisanten der AfD gar keine überzeugten Rechten seien. Sie wählten die | |
| Partei aus Protest. Dass die Leute AfD wählen, findet Ruch nicht gut. Der | |
| Staat solle die Partei verbieten. | |
| Die AfD scheint sich wiederum von der Kirche ausgegrenzt zu fühlen. Kurz | |
| vor dem Kirchentag veröffentlichte sie ein 49-seitiges Papier, in dem sie | |
| der Kirche vorwirft, in einer „unheiligen Allianz“ mit den Mächtigen zu | |
| paktieren. Die Mächtigen, das seien sowohl Fürsten, Kaiser und Führer aus | |
| der Vergangenheit als auch „der linksgrüne Zeitgeist“ von heute. Ruch sagt: | |
| „Klar, die AfD beißt jetzt um sich.“ Weil sie kein Podium auf dem | |
| Kirchentag bekommen hatten. Er findet das keine kluge Entscheidung. | |
| Inhaltlich aber seien die Vorwürfe der AfD an die Kirche unsachlich, | |
| undifferenziert, haltlos. | |
| ## Das Verhältnis zur Kirche ist schlecht | |
| Wutike, Grabow, Brüsenhagen, Kolrep – Ruch führt durch fast jede seiner elf | |
| Kirchen. Am Mittwochnachmittag ist Rosenwinkel an der Reihe. Die kleine | |
| Fachwerkkirche befindet sich im Bau, wie viele. Der Innenraum ist leer, der | |
| Boden sandig, aus dem Putz ragt altes Stroh. Ruch sagt, er sehe die | |
| Sanierung der alten Dorfkirchen mit einem lachenden und einem weinenden | |
| Auge. | |
| Einerseits sei es schön, dass die Kirchen als Kulturgut erhalten blieben. | |
| Andererseits – „Wie und von wem werden sie überhaupt noch genutzt?“ Zu d… | |
| Gottesdiensten, die er in jeder der elf Dorfkirchen einmal im Monat | |
| abhalte, käme oft nur eine Handvoll Leute. Selten, und doch ab und zu, | |
| sogar niemand. | |
| „Viele Leute sehen mich nur noch als Dienstleister“, sagt Ruch. Er solle | |
| Kinder taufen, Ehen schließen und Angehörige beerdigen, aber für die | |
| Inhalte interessiere sich kaum einer mehr. „Ich diene da eher als | |
| Fotokulisse“, sagt er. | |
| Nach der Besichtigung der Kirche in Rosenwinkel fährt Ruch nach Dahlhausen. | |
| Dort wohnt er mit seiner Frau in einem großen Pfarrhaus. Auf seinem | |
| Schreibtisch liegt ein brauner Umschlag. Dienstpost. Er reißt ihn auf, | |
| schaut für eine Sekunde auf den Inhalt und zerreißt ihn in Stücke. Das sei | |
| eh nur Werbung, erklärt er. Die Landeskirche überhäufe ihn mit Hinweisen zu | |
| Veranstaltungen in Berlin oder irgendwelchen fernab liegenden Gemeinden. | |
| Ruchs Verhältnis zur eigenen Kirche ist schlecht. Er wirft ihr vor, „die | |
| Basis“ zu vernachlässigen. Es wird nicht nachgefragt, nicht nach Ursachen | |
| der Probleme auf dem Land gesucht. | |
| ## Viele sind überlaset | |
| Bischof Markus Dröge, der zehn Jahre die Landeskirche | |
| Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz geleitet hat, sagt, er könne den | |
| Unmut der Pfarrer verstehen. Sie seien es aus der Vergangenheit gewohnt, | |
| die Erwartungen in ihren Gemeinden erfüllen zu können. Doch die | |
| Bedingungen mussten dem Wandel der Zeit angepasst werden. | |
| Viele Mitarbeitende und Ehrenamtliche seien überlastet. Eine Lösung: | |
| „Regional denken und Konzepte entwickeln“. Und weiter: „Man muss den Mut | |
| haben, das Gottesdienstangebot zu reduzieren und andere Angebote zu | |
| schaffen.“ Ruch sagt, er könne das Wort „Konzept“ schon nicht mehr höre… | |
| Es ist spät geworden. Ruch muss noch die Predigt für die Konfirmation am | |
| Sonntag vorbereiten. Es sei ihm wichtig, seinen Schützlingen Till, Paul und | |
| Jakob den Wunsch mit auf den Weg zu geben, dass „außer Fußball und | |
| Feuerwehr auch die Beziehung zu Gott und der Kirche“ erhalten bliebe. | |
| 20 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Nora Belghaus | |
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