# taz.de -- Kultursymposium über Digitalisierung: Auf lange Sicht optimistisch | |
> Nachdenken über Orientierung: Das zweite Kultursymposium Weimar des | |
> Goethe-Instituts hat Intellektuelle aller Kontinente versammelt. | |
Bild: Direkte Konfrontation von Mensch und Maschine: Performance von Huang Yi | |
Alte Faustregel: Navigare necesse est. Seefahrt ist nötig. Etwa um anderen | |
zu Hilfe zu kommen, sogar bei Sturm. Für Nichtschiffer gilt diese Regel in | |
abgewandelter Form auf dem Smartphone. Da ist das Navigationssystem oft | |
nötig, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. | |
Orientieren ist längst zu einer der Angelegenheiten geworden, die von | |
Maschinen, von Algorithmen übernommen werden. „Die Route wird neu | |
berechnet“, lautete denn auch der aus der Sprache der Online-Kartendienste | |
entlehnte Titel des zweiten Kultursymposiums Weimar, das das | |
Goethe-Institut vergangene Woche ausrichtete. Sich im Digitalen orientieren | |
diente als Leitmotiv für die über 50 Veranstaltungen mit mehr als 70 | |
Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen von allen Kontinenten. In | |
immer neuen Konstellationen ließ sich über drei Tage verfolgen, wie aus | |
verschiedenen Perspektiven an einer Gegenwartsanalyse im Hinblick auf | |
mögliche Richtungen für die Zukunft gearbeitet wurde. | |
Nach vier Themen geordnet, suchten die Referenten etwa allgemein nach | |
Orientierung in der Welt, erörterten die Aussicht für Autonomie im | |
Zeitalter der künstlichen Intelligenz, analysierten die Regression im | |
politischen Diskurs durch erstarkenden Populismus oder erkundeten unter dem | |
Titel „Diginomics“, wie sich die Wirtschaft rapide wandelt. | |
Dabei deutete sich an, dass die Sicht auf die Gegenwart durch sich | |
einschleifende Formeln eher eingeschränkt als geschärft wird, etwa in der | |
Frage, wie „Orientierung in einer zunehmend komplexen Welt gelingen“ könne. | |
Der Thüringer Minister für Kultur Benjamin-Immanuel Hoff präzisierte in | |
seinem Grußwort zur Eröffnung am Mittwoch: Die Welt sei „immer schon | |
komplex“ gewesen. Neu sei vielmehr ein soziologischer Befund, so Hoff: | |
Erstmals herrsche in unserer Gesellschaft die Ansicht vor, dass künftige | |
Generationen nicht wie bisher ein Mehr an Wohlstand zu erwarten hätten, | |
sondern weniger davon. Und für den mit dieser Haltung eng verbundenen | |
Populismus-Diskurs schlug er vor, Populismus als eine Reaktion auf eine | |
„unpolitische Politik“ zu verstehen. | |
## Die folgenreiche Vorstellung | |
Eine im Kern ähnliche Analyse zum Erstarken des Populismus präsentierte | |
zwei Tage später der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder. In seinem | |
Vortrag illustrierte er entlang der Begriffe von Raum und Zeit das | |
„schmutzige kleine Geheimnis“ der Demokratie und wie dies dem Populismus in | |
die Hände gespielt habe. So sei Politik etwas, das sich stets in Raum und | |
Zeit zusammen ereigne. Die Demokratie habe dabei immer auf Raum als | |
Ressource zurückgreifen können. Für den französischen Philosophen Alexis de | |
Tocqueville seien die USA im 19. Jahrhundert daher das Versprechen auf eine | |
sich räumlich ausbreitende Demokratie schlechthin gewesen. | |
Heute jedoch sei der Demokratie der Raum abhandengekommen, so Snyder, da | |
alle geopolitischen Räume nach 1989 besetzt wurden. Damit habe sich auch | |
die Vorstellung von Zeit gewandelt. Denn mit dem Populismus sei im | |
politischen Diskurs erstmalig die Idee aufgekommen, dass es „keine Zukunft“ | |
gebe. Mit dem Vorteil, dass man, wenn man die Idee der Zukunft „tötet“, | |
auch keine politische Alternative anbieten muss. | |
Snyder machte ausgerechnet demokratische Politiker der neunziger Jahre wie | |
Tony Blair für diese Entwicklung verantwortlich. Durch die Vorherrschaft | |
der These vom „Ende der Geschichte“ habe sich damals eine „Politik der | |
Alternativlosigkeit“ etabliert. An der orientierten sich dann Staaten wie | |
Russland, das im Übrigen gar nicht so anders sei als der Westen. Mithin | |
gebe es in der Politik Russlands keine Zukunft, was sich unter anderem an | |
der Ausbeutung von Ressourcen wie Öl und Gas zeige – und daran, dass Kritik | |
am Klimawandel dort einen schweren Stand habe. In ähnlicher Weise nehme das | |
Land auf andere Staaten Einfluss, so in den US-Präsidentschaftswahlen 2016, | |
bei denen man die Politik hin zu ihren Extremen „geschubst“ habe. | |
Die Folgen des sich auch hierzulande extremer gerierenden politischen | |
Diskurses benannte die Grünen-Politikerin Claudia Roth auf einem Panel zur | |
„Verrohung der Sprache im politischen Diskurs“. Dass mit dem Einzug der AfD | |
die Sprache im Bundestag „radikaler und härter“ geworden sei, beobachte sie | |
als dessen Vizepräsidentin. Zur Lektüre empfahl sie Victor Klemperers Buch | |
„LTI“. An dessen Aktualität erinnerte sie im Hinblick auf den Mord am | |
CDU-Politiker Walter Lübcke mit den Worten: „Nach dem Sagbaren aber kommt | |
das Machbare, dem Angriff auf die Menschlichkeit folgt der Angriff auf den | |
Menschen.“ Roth erwähnte ebenfalls die Hass-E-Mails, die sie seit Jahren | |
erhält, und wie sie sich mit öffentlich Lesungen, den „Hate Slams“, dageg… | |
zur Wehr gesetzt habe. Überzeugend auch ihr Plädoyer für Anstand und | |
politische Korrektheit, die ein hohes Gut seien, das man zurückholen müsse. | |
## Begriffe re-framen | |
Roths Podiumskollegin, die ungarische Medienwissenschaftlerin Anna | |
Szilágyi, unterstützte diesen Gedanken mit dem Hinweis, dass ungeachtet des | |
„Framings“ von Begriffen wie „Migrant“, der von einer neutralen | |
Beschreibung zur Verunglimpfung gemacht worden sei, man solche Begriffe | |
auch „re-framen“ könne. Man müsse sie dazu wieder – erfolgreich – in … | |
ursprünglichen Zusammenhang stellen. | |
Bei der Schärfung des Blicks auf Gegenwart und Zukunft ging es andernorts | |
auch um vermeintlich banale Angelegenheiten wie das „Gefühl der | |
Verlorenheit“, dem sich ein Panel widmete. Ein Gefühl, das man beinahe in | |
die Wiege gelegt bekommen kann, wenn man wie die Schriftstellerin Panashe | |
Chigumadzi in Simbabwe geboren und in Südafrika aufgewachsen ist. Ihre | |
Muttersprache Shona habe sie in Südafrika verlernt und sich später wieder | |
aneignen müssen. Sie habe sich auch die Geschichte Simbabwes nachträglich | |
aneignen müssen, da diese in der offiziellen Geschichtsschreibung stark | |
verkürzt sei. „Dem Westen“ warf sie in dieser Hinsicht vor, dass er Länder | |
wie Simbabwe pauschal als Dinge betrachte, die aus dem Nichts gekommen | |
seien. | |
Eine ähnliche Dichotomie zwischen dem Eigenen und „dem Westen“ machte die | |
ebenfalls auf dem Panel vertretene chinesische Schriftstellerin Hao | |
Jingfang auf. Sie erfahre im Westen eine „kulturelle Verlorenheit“, da dort | |
die Sicht vorherrsche, es gebe „den Westen“ und „den Rest“. Hier hätte… | |
sich eine etwas kontroversere Erörterung beider Standpunkte gewünscht. | |
Stattdessen blieb es bei einem zustimmenden Nebeneinander von Meinungen. | |
Eine direkte Konfrontation suchte dafür der taiwanesische Choreograf Huang | |
Yi. In seiner Tanzperformance trat er gegen einen Fertigungsroboter an, der | |
so programmiert war, dass Mensch und Maschine sich oft synchron bewegten. | |
Eine simulierte Interaktion, die in ihrer unterschwelligen Demonstration | |
der kategorischen Verschiedenheit von Mensch und Maschine – der Roboter | |
weiß nichts von seinem Gegenüber oder davon, dass seine Bewegungen ein Tanz | |
sein sollen – etwas Melancholisches hatte. Und etwas Bedrohliches, denn der | |
Sychrontanz löste beim Zuschauen beständig die Furcht vor einem Unfall | |
durch eine falsche Bewegung des Roboters aus. | |
## Wachsam, nicht verzweifelt | |
Apropos Furcht: Von den Moderatoren auf den Podien kam hier und da der | |
Hinweis, man wolle das Gespräch mit einem optimistischen Ausblick beenden. | |
Was ein wenig wirkte, als habe man Sorge, das Publikum könnte in | |
Kulturpessimismus verfallen. Und selbst ein Wissenschaftler wie der | |
australische Computerwissenschaftler Toby Walsh, der in seinem Vortrag über | |
die Zukunft im Jahr 2062 scheinbar naiv die Vorzüge der Künstlichen | |
Intelligenz vom autonomen Fahren bis zur Gesichtserkennung pries, gab tags | |
darauf zu Protokoll, er sei in langfristiger Perspektive durchaus | |
optimistisch, auf kurze Sicht hingegen pessimistisch. Was kein Grund zum | |
Verzweifeln ist. Aber einer zum Wachsambleiben. | |
Dass der Generalsekretär des Goethe-Instituts Johannes Ebert zum Abschluss | |
ankündigte, man wolle das Kultursymposium als Format fortsetzen, ist | |
allemal eine gute Nachricht für die Zukunft. Nicht allein wegen der | |
geballten intellektuellen Prominenz, die in kurzer Zeit zu erleben war. | |
Auch wegen der vielen Begegnungen am Rand. So kam man beim Kaffee ins | |
Gespräch mit Journalisten aus Malaysia oder Pakistan, aß mit dem Leiter des | |
Ukrainian Institute, des ukrainischen Äquivalents des Goethe-Instituts – | |
oder mit dem Gründer eines alternativen Sex-Shops in Sachsen. Offener | |
Austausch für eine offene Zukunft. | |
24 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
## TAGS | |
Symposium | |
Populismus | |
Digitalisierung | |
Goethe-Institut | |
Strukturwandel | |
Kirchentag 2023 | |
Schwerpunkt AfD | |
Navigationssystem | |
Neoliberalismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Folgen der Digitalisierung: Roboter sind nicht kreativ | |
Digitalisierung und Robotik können den Menschen wieder in den Mittelpunkt | |
rücken. Die neue Arbeit wird Beziehungsarbeit sein. | |
Betende Sprachassistenten: Alexas Ansprache an den Herrn | |
Wenn Sprachassistenten beten können, wer oder was glaubt denn da an Gott? | |
Zu einem irritierenden Vorschlag des Medienbischoffs Volker Jung. | |
Forscher über AfD-Pressemitteilungen: „Befeuerung der Angstmaschine“ | |
Die AfD zeichnet ein verzerrtes Bild der Kriminalität in Deutschland. Das | |
haben Forscher*innen bei einer Analyse der Partei-Mitteilungen | |
festgestellt. | |
Aus Le Monde diplomatique: Gezerre um Galileo | |
Die EU soll bald über das weltbeste Navigationssystem verfügen. Doch | |
nationale Egoismen erschweren die Realisierung. | |
Historikerin über Teilen und Tauschen: „Ich halte es mit dem Sozialstaat“ | |
Wie organisiert sich Gesellschaft? Die Historikerin Ulrike Frevert meint, | |
dass „Vertrauen“ nur das Wohlfühlwort der Sharing Economy ist. |