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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Gezerre um Galileo
> Die EU soll bald über das weltbeste Navigationssystem verfügen. Doch
> nationale Egoismen erschweren die Realisierung.
Bild: 2020 oder 2021 sollen alle 30 Satelliten des Programms in ihrer Umlaufbah…
Vom 3. bis 6. Dezember 2018 diente der Palais du Pharo in Marseille, ein
Baudenkmal aus der Zeit des zweiten französischen Kaiserreichs, als
Schaufenster für die europäische Raumfahrtpolitik. Im Rampenlicht der
European Space Week stand das Satellitennavigationssystem Galileo. Wieder
einmal wurde der baldige Start des „europäischen GPS“ gefeiert, das die
Europäische Kommission vor fast 20 Jahren ins Leben gerufen hatte.
Für die Geolokalisierung gilt dasselbe wie für die Uhrenindustrie und die
Optik: Durch Fortschritte bei der Genauigkeit lässt sich die
Dienstleistungsqualität in immer mehr Bereichen deutlich steigern. Dies
betrifft die Navigation von Luft-, Straßen-, Wasser- und
Schienenfahrzeugen, die Steuerung und Verlaufskontrolle verschiedener
Systeme (selbstfahrende Autos, landwirtschaftliche Maschinen, Raketen), die
Kartografie sowie die Synchronisierung von Telekommunikationsnetzen oder
von Bank- und Finanzsystemen, insbesondere für den Hochfrequenzhandel.
Seit zwei Jahren sind die ersten Dienste von Galileo in Betrieb. Und wenn
2020 oder 2021 alle 30 Satelliten des Programms in ihrer Umlaufbahn sind,
könnten die Europäer über das beste Navigationssystem der Welt verfügen:
Die für die Öffentlichkeit zugängliche horizontale Genauigkeit soll dann
1,8 Meter betragen(1) (2,9 Meter Höhengenauigkeit), während [1][der Wert
des aktuellen GPS bei 4,9 Meter liegt]. Darüber hinaus bietet Galileo
Unternehmen einen als „kommerziell“ bezeichneten, jedoch ebenfalls
kostenlosen und noch genaueren Service. Zudem kann der Zivilschutz weltweit
auf die Anwendung „Suche und Rettung“ zugreifen, und bis 2023 soll auch ein
militärischer Dienst verfügbar sein.
In Marseille betonte die Europäische Kommission den gemeinschaftlichen und
zivilen Charakter des Programms und hob es damit von anderen
Geolokalisierungs- und Navigationssystemen (Global Navigation Satellite
Systems, GNSS) ab, bei denen Militärs das Sagen haben – wie dem
US-amerikanischen GPS, dem russischen Glonass und dem chinesischen Beidou.
Die Kommission schwärmte von einer wissenschaftlichen, von Humanismus
geprägten, politische Identität vermittelnden Zusammenarbeit und von der
Entstehung riesiger Märkte mit einem Volumen von vielen Milliarden Euro.
Obwohl bereits 22 Satelliten in ihren Umlaufbahn kreisen, sorgt Galileo
hinter den Kulissen noch immer für Unruhe. Führungsprobleme, schlechte
Businesspläne, riskante Entscheidungen der Kommission, nationale Egoismen,
Industriekrieg – das europäische Satellitennavigationssystem hat schon
mehrfach kurz vor dem Aus gestanden. Mittlerweile ist das Projekt bereits
zehn Jahre im Verzug, während sich die Kosten verdreifacht haben und
mindestens 13 Milliarden Euro betragen werden.(2)
## Von Anfang an unklare Definitionen
Am Rednerpult im Palais du Pharo verbreitete Pierre Delsaux,
stellvertretender Generaldirektor der EU-Kommission, vorsichtigen
Optimismus. Im Juni 2018 hat die Kommission beschlossen, von 2021 bis 2027
16 Milliarden Euro in die Raumfahrtindustrie zu investieren. Mehr als die
Hälfte davon fließt in das Galileo-Projekt. Jetzt müssen aber noch der
Europäische Rat und das Europaparlament überzeugt werden. „Die Branche ist
einverstanden. An ihr ist es aber nicht, den Scheck zu unterzeichnen. Ohne
dieses Geld geht gar nichts, ist es unmöglich, den besten GNSS-Dienst der
Welt bereitzustellen“, so Delsaux.
Galileo, hieß es immer, sei zu teuer, um von einem einzigen Staat gestemmt
zu werden. An ihm zeigen sich die Schwierigkeiten einer Union, der es an
politischer Führung und einer klaren Strategie mangelt, eine groß angelegte
Industriepolitik umzusetzen. Das Satellitennavigationssystem ist anfällig
für Interessenkonflikte und nationale Egoismen, obwohl zwischenstaatliche
Projekte (ohne Verbindung zur EU-Struktur) wie Airbus oder Arianespace
große Erfolge gefeiert haben.
Galileo ist von Anfang an nicht klar definiert worden. Während das System
aus Sicht einiger Akteure der geostrategischen Unabhängigkeit Europas
dienen soll, möchten andere, dass es als einfaches Wirtschaftsprogramm
behandelt wird. Alles begann 1996, als der frisch wiedergewählte
US-Präsident Bill Clinton dem Pentagon einen Auftrag erteilte: Das
US-Verteilungsministerium sollte innerhalb von vier Jahren das besonders
präzise militärische GPS für zivile Anwendungen öffnen, ohne die nationale
Sicherheit zu gefährden.
Bis dahin konnte die Öffentlichkeit nur ein Signal nutzen, dessen
Genauigkeit von der US-Regierung bewusst herabgesetzt worden war. Ab Mai
2000 verbesserte sich dann die Genauigkeit der unbeschränkt zugänglichen
Positionsbestimmung von 100 Meter auf ungefähr 10 Meter. Dies
revolutionierte die Geolokalisierung, die nun direkt genutzt werden
konnte, um sich zu Fuß, im Auto oder auf einem Wasserfahrzeug zu
orientieren und fortzubewegen.
Hinter dieser Initiative stand eine Vision, für die der damalige
Vizepräsident Al Gore die Metapher „Informationsautobahn“ erfand. In einer
vom Aufbruch ins Internetzeitalter geprägten Welt musste die schnelle
Übertragung digitaler Daten über weite Entfernungen sichergestellt werden,
um einen hohen kommerziellen Nutzen zu erzielen. Die Unternehmen und
insbesondere die Flugzeugindustrie wollten vom Potenzial des GPS
profitieren. Daher setzten sie die Clinton-Administration unter Druck, das
im Kalten Krieg entwickelte mächtige (und kostspielige) militärische System
zu einem Instrument weiterzuentwickeln, das es ermöglichte, die Stellung
der USA als weltweit einzigartige Wirtschafts- und Industriemacht zu
festigen.
## Ein Marktvolumen von 23 Millionen Euro
Heute umfasst der Markt, der durch die satellitengestützte Geolokalisierung
entstanden ist, nicht nur die mittlerweile überall – im Auto, Schiff,
Telefon, Fotoapparat und so weiter – verbauten Empfänger. Es gibt vielmehr
auch zahlreiche Anwendungen, die die Möglichkeit zur Echtzeitortung von
Gegenständen und Lebewesen nutzen. Das Marktvolumen soll 2016 bereits die
Marke von 23 Milliarden Euro übersprungen haben und könnte bis 2022 auf 84
Milliarden Euro steigen.(3)
Europa beneidete die USA sehr schnell um ihre Technik. 1999 äußerten sich
Abgeordnete der französischen Nationalversammlung in einem
Informationsbericht zum Kosovokrieg besorgt über die zunehmende Zahl der
vom GPS abhängigen militärischen Güter (Raketen, Flugzeuge), die somit
„vollständig unter amerikanischer Kontrolle“(4) stünden. 2001 entschied d…
Europäische Union, ein eigenes einheitliches Programm zu starten – und
somit nicht auf zwischenstaatliche Kooperation zu setzen.
Das Vereinigte Königreich widersetzte sich dieser Idee. Aufgrund ihrer
„Special Relationship“ mit den Amerikanern hatten die Briten kein
Interesse, ein Konkurrenzsystem zum GPS aufzubauen. Sie fürchteten zudem
eine Verschwendung öffentlicher Gelder. Washington war von der Idee
ebenfalls nicht begeistert. Dass sich ein feindliches Land Zugang zu diesem
sehr genauen Signal verschaffen und es zur Steuerung seiner Raketenwaffen
nutzen könnte, beunruhigte das Pentagon. Zu dieser Zeit konnte es die
Genauigkeit des zivilen GPS-Signals noch immer unilateral herabsetzen, was
sowohl im Golfkrieg als auch im Kosovokrieg geschah.(5)
Galileo sah sich denn auch bald einer sehr aggressiven Kampagne ausgesetzt.
So schrieb der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz im
Dezember 2001 einen Drohbrief, um die europäischen Regierungen einige Tage
vor der entscheidenden Sitzung des EU-Rats von der Freigabe der ersten
Gelder für das Programm abzuhalten. Er befand, dass eine zivile Leitung der
sicherheitspolitischen Dimension eines Geolokalisierungsprogramms nicht
gerecht werde und kritisierte, dass Galileo dasselbe Wellenspektrum nutzen
sollte wie das GPS-Militärsignal. Wolfowitz sagte klar, es sei „im
Interesse der Nato zu verhindern, dass die Entwicklung des künftigen
Galileo-Signals innerhalb des GPS-Spektrums erfolgt“.(6)
## Atomuhren im Weltall
Zunächst zeigte der Druck der USA Wirkung. Neben dem Vereinigten Königreich
stellten sich auch Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Schweden und
Österreich quer. „Galileo ist fast tot“, bemerkte Gilles Gantelet, der
Sprecher von Loyola de Palacio, die damals als Vizepräsidentin der
EU-Kommission für die Bereiche Verkehr und Energie und damit auch für das
Galileo-Projekt verantwortlich war.(7)
Der EU verlegte sich nun auf eine Doppelstrategie: „Wir mussten ständig
erklären, was Galileo nicht war. Den Briten und Amerikanern musste man
sagen, dass es sich nicht um ein Militärprogramm handele. Gleichzeitig galt
es, Frankreich zu versichern, dass Galileo nicht nur ein Handelsprojekt
sei. Der Industrie mussten wir die Sache mit dem Argument schmackhaft
machen, dass es nicht nur um die Souveränität der EU gehe und es einen
echten Businessplan gebe, während wir den USA immer wieder das genaue
Gegenteil sagen mussten“, so Xavier Pasco, der Direktor der Stiftung für
Strategische Forschung (FRS). 2003 beschloss die EU schließlich, die
Sendefrequenz zu ändern. Das Pentagon erhielt somit die Möglichkeit, das
Galileo-Signal im Bedarfsfall zu stören, ohne das eigene GPS zu
beeinträchtigen.
Die EU optierte nun für eine öffentlich-private Partnerschaft (PPP). Ein
Drittel der Finanzierung wurde durch öffentliche Gelder gesichert, den Rest
sollten private Kapitalgeber beisteuern. Diese mussten aber erst überzeugt
werden. Hierzu schlug die Kommission vor, den Unternehmen Zugang zu einem
genaueren, kostenpflichtigen Signal zu geben. „Die Kommission gab mehrere
Studien in Auftrag, die zeigen sollten, dass Galileo einen enormen
Geldsegen bescheren werde“, erinnert sich Pasco. „Die Industrie ließ sich
aber nicht blenden. Das Programm war zu komplex. Es umfasste rund um den
Globus postierte Bodenstationen sowie Atomuhren im Weltraum – Dinge, die
nie zuvor realisiert worden waren.“ Letztendlich traten zwar Luft- und
Raumfahrtriesen wie Thales oder EADS in die PPP ein, investierten aber
keinen Cent.
## Starke Kritik vom Europäischen Rechnungshof
2007 zerbrach die PPP: „Die Kommission musste den privaten Partnern als
Ausgleich für die finanziellen Unwägbarkeiten so viele Garantien geben,
dass die PPP keinen Sinn mehr machte“, sagt Weltraumrecht-Experte Frans von
der Dunk, der damals als Berater tätig war. 2009 prangerte der Europäische
Rechnungshof die „unrealistische PPP“ an und sprach von einem Programm
„ohne Führung“(8). Kurz nachdem ein Testsatellit ins All geschickt wurde,
stand die Beendigung von Galileo somit erneut im Raum.
In seinem Bericht warf der Rechnungshof den EU-Mitgliedstaaten vor, nur das
„Interesse ihrer nationalen Industrien“ unterstützt und „Beschlüsse
blockiert“ zu haben, was zu „Umsetzungsproblemen, Verzögerungen und letzten
Endes zu Kostenüberschreitungen“ geführt habe.
Ein Beispiel hierfür sind die Programme der Europäischen
Weltraumorganisation (ESA), die jedem beteiligten Land für seinen Einsatz
Aufträge in vergleichbarer Höhe gewährleisten. Dagegen verlangen die
EU-Vorschriften einen „freien und unverfälschten Wettbewerb“. Länder wie
Deutschland und Frankreich, die 2004 als Hauptgeldgeber der Gemeinschaft
22,8 beziehungsweise 17,6 Prozent des Haushalts finanzierten, waren aber
natürlich nicht dazu bereit, sich die lukrativen Galileo-Industrieverträge
durch die Lappen gehen zu lassen.
Damit Galileo nicht seine großen Beitragszahler verlor, musste die EU
mehrfach ihre eigenen Regeln verletzen. Vor dem Scheitern der PPP im
Dezember 2005 handelte der damalige EU-Kommissar für Wettbewerbspolitik,
Karel Van Miert, ein Abkommen aus, das nur wenig mediale Beachtung fand. Es
wurde hinter den Kulissen der europäischen Institutionen als
„Jalta-Abkommen für die Raumfahrt“ bezeichnet und enthielt neben
Ausschreibungen Regelungen zur Verteilung wichtiger
Infrastruktureinrichtungen. Mit einem orthodoxen Marktliberalismus waren
diese kaum zu vereinbaren.
Deutschland und Italien wurde jeweils ein Kontrollzentrum zur Steuerung der
wichtigsten Operationen zugeschlagen. Das Vereinigte Königreich erhielt ein
Sicherheitszentrum, während Spanien ein Bodenzentrum für die Bereitstellung
eines spezifischen, insbesondere für die Flugsicherheit nützlichen Signals
zugeteilt wurde. In Frankreich sollte der Konzessionär der PPP sitzen. Doch
nach deren Scheitern schaute das Land in die Röhre.
## Es fehlt der EU-Kommission langfristiges Denken
Ab 2007 versuchte die EU, das Programm ausschließlich mit öffentlichen
Geldern wieder in Gang zu bringen. Der fortdauernde Kampf der
Mitgliedstaaten um einen möglichst hohen Anteil für ihre jeweiligen
Industrien brachte umfangreiche Verzögerungen mit sich. Um die Regierung in
Berlin zu besänftigen, musste sich die Kommission ein ausgefeiltes
Ausschreibungssystem einfallen lassen. Es sollte verhindern, dass sich die
großen Beitragszahler benachteiligt fühlten.
„Diese Aufteilung war für die weitere Entwicklung des Programms
entscheidend“, erinnert sich ein früherer leitender Angestellter von
Thales, der heute an der Programmdurchführung beteiligt ist. „Von Anfang an
verzichteten wir bei bestimmten Verträgen darauf, die industrielle Stärke
Europas auszuschöpfen, um Deutschland einen Gefallen zu tun. Der
Thales-Konzern, der an drei Ausschreibungen teilnehmen konnte, musste sich
einschränken und beispielsweise den Satellitenbau fallen lassen.“ Mit dem
Ergebnis, dass das deutsche Technologieunternehmen OHB 2010 das beste
Angebot für den Bau der Satelliten abgab.
„Das Angebot von OHB sah sehr gut aus. Gleichzeitig wusste jeder, dass sein
Zeitplan unrealistisch, ja unmöglich einzuhalten war“, sagt Michel
Iagolnitzer, der ehemalige Vorsitzende des Ausschusses für die
Sicherheitsakkreditierung. Diese Instanz wurde eigens zu dem Zweck
gegründet, um die Mitgliedstaaten in Sicherheitsfragen zu vertreten. Ironie
des Schicksals: 2013 mussten die Europäische Kommission und die ESA OHB
unter die Arme greifen, indem sie andere Industriekonzerne wie Thales
hinzuzogen.
Mehrere Begebenheiten zeigen, dass es der EU-Kommission mit Blick auf
Galileo an langfristigem Denken fehlt. So wurden beispielsweise 2016
Satelliten vom Raumfahrtzentrum Guayana nicht mit der europäischen
Trägerrakete Ariane 5 in den Weltraum geschossen, sondern mit der damals
günstigeren russischen Sojusrakete. „Wir mussten zusätzliche Prozesse
einführen, um den Start abzusichern. Schwerer wiegt aber, dass die Russen
in der Folge ihr Monopol ausnutzten, um die Preise in die Höhe zu treiben“,
so Iagolnitzer.
Angesichts derartiger strategischer Defizite schalteten sich Vertreter der
nationalen Exekutiven immer wieder ein, um der Kommission den Weg zu
versperren. So wollte 2010 die für den Satellitenbau zuständige deutsche
Firma OHB die Herstellung der Sonnensegel an einen günstigen, aber wenig
erfahrenen chinesischen Subunternehmer delegieren. Prompt trat ein
belgischer Lieferant, der sich den Vertrag sichern wollte, mit der
Unterstützung der belgischen Regierung auf den Plan. Die Kommission ergriff
in dem Industriestreit zunächst für die deutsche Seite Partei, bevor sie
zurückruderte – aufgrund der Erkenntnis, dass der chinesische
Vertragspartner offensichtlich nicht über alle Zweifel erhaben war.
## Kaum verholene Warnung aus Deutschland
Der Aufbau des weltweiten Netzes von Bodenstationen, die in ständiger
Verbindung zur Satellitenkonstellation stehen, ist ein weiteres Beispiel.
Der Europäische Rat ging sogar so weit, der Kommission erstmals in ihrer
Geschichte das Misstrauen auszusprechen, um die Installation von
Bodenstationen in Staaten außerhalb der EU-Grenzen zu verhindern. „Einige
dieser Länder verlangten einen offenen Echtzeitzugang zu den als geheim
eingestuften, verschlüsselten Daten, die über ihr Territorium übermittelt
werden sollten. „Da wurde dann Stopp gesagt“, erinnert sich Iagolnitzer.
Noch problematischer ist der starke politische Druck, der hinter den
Kulissen auf der Europäischen Kommission lastet. 2015 beschloss sie, zwei
Ausschreibungen durchzuführen: eine für die Herstellung der dritten
Satelliten-Serie und eine weitere für die Betriebsleitung der beiden
Kontrollstellen, welche die Kommission Deutschland und Italien 2005 im
Rahmen des erwähnten Van-Miert-Abkommens angeboten hatte.
Am 30. Juli 2015 schickte Michael Odenwald, damals Staatssekretär im
Bundesverkehrsministerium und CDU-Mitglied, eine kaum verhohlene Warnung an
die Adresse Brüssels. Er forderte die Kommission zur Korrektur ihrer
Vorlage auf. Im Falle eines Verlusts der Führungsverantwortung Deutschlands
für die auf seinem Territorium eingerichteten Kontrollstellen würden diese
den ausländischen Konkurrenten nicht gratis zur Verfügung gestellt werden.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass nicht nur OHB Ende
2016 den Zuschlag für den mehr als 300 Millionen Euro schweren dritten
Vertrag zum Bau der Satelliten erhielt, sondern Deutschland und Italien
zudem die Ausschreibung der Betriebsleitung der auf ihren jeweiligen
Staatsgebieten installierten Infrastruktureinrichtungen gewannen. Den
Auftrag mit einem geschätzten Volumen von 1,5 Milliarden Euro sicherte sich
das deutsch-italienische Unternehmen Spaceopal (Firmenmotto: „We make
Galileo fly“). Eutelsat, ein konkurrierendes europäisches Firmenkonsortium,
erhob wegen zahlreicher Ungereimtheiten im Ausschreibungsverfahren
Beschwerde beim Gerichtshof der EU. Das Verfahren läuft noch.
Die mangelnden Kompetenzen der Kommission und die ungleichen
Kräfteverhältnisse zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den europäischen
Institutionen haben unweigerlich zur Herausbildung eines äußerst komplexen
Führungssystems geführt. Theoretisch ist die Kommission für die politische
Leitung des Galileo-Programms zuständig, während die ESA für die
technischen Aspekte verantwortlich zeichnet. Die eigens für Galileo
gegründete Agentur für das Europäische GNSS (GSA) soll den betrieblichen
Part übernehmen.
In der Praxis führt aber jede neue Programmphase zu tiefgreifenden
Meinungsverschiedenheiten. Um diese Blockaden zu lösen, setzt die EU auf
verschwommene Bestimmungen, die Raum für Absprachen hinter den Kulissen
lassen – und für endlose Diskussionen. So gibt es beispielsweise keine
präzisen Regeln, um die erforderliche Kooperation zwischen der Kommission
und der ESA in geordnete Bahnen zu lenken.
## Unbestritten ein technologischer Erfolg
Der Mangel an klarer Führung könnte die Signalverwendung konkret behindern.
„Stellt ein Unternehmen, das das Galileo-Signal nutzt, einen Fehler fest,
muss dessen Meldung eine ganze Reihe von Instanzen durchlaufen – darunter
die ESA, die Kommission sowie eine spezielle Sicherheitsbehörde. Das ist
sehr kompliziert und behindert die Reaktionsfähigkeit“, unterstreicht Serge
Plattard, der Gründer des Europäischen Instituts für Weltraumpolitik.
Schon während die Industrie ihre Instrumente größtenteils mit kompatiblen
Empfängern ausrüstet und das offene Signal in Betrieb ist, stellt die
Programmführung die Nutzer vor Probleme, wie ein leitender Mitarbeiter der
französischen Aufsichtsbehörde für zivile Luftfahrt (Direction générale de
l’aviation civile) anonym zu Protokoll gibt: „Kürzlich haben wir auf eine
Schwachstelle, ein Ausfallrisiko der zur Verfügung gestellten Signale
hingewiesen. Das Problem wurde nie angegangen! Die ESA ist informiert
worden und hat nichts getan. Sie hat sich hinter dem Argument versteckt,
man habe sie nicht speziell darum ersucht, sich um diese Schwachstellen zu
kümmern. Für eine Organisation, die sich immer über ihren mangelnden
Handlungsspielraum beschwert, ist das unerhört!“
Obwohl 2014 zwei Satelliten in eine falsche Erdumlaufbahn gebracht wurden
und Ende 2016 die Atomuhren von einer ganzen Pannenserie eingeholt wurden,
steht Galileo kurz vor seiner Vollendung. Und das Projekt ist unbestritten
ein technologischer Erfolg. Nach Schätzungen des CNES nehmen bereits heute
mehr als 700 Millionen Nutzer den offenen Dienst in Anspruch. Viele
Privatpersonen wissen gar nicht, dass ihr Telefon oder Auto auf dieses
Netzwerk zugreift und sie an den richtigen Ort lenkt. Selbst wenn das
Signal noch nicht optimal funktioniert, ist es laut Le Gall doch „schon
besser als GPS“. „Mit Galileo wissen Sie nicht nur, in welcher Straße Sie
sich bewegen, sondern auch, auf welchem Gehsteig“, betont er gern.
Die Genauigkeit von Galileo mag einem normalen Autofahrer wenig bringen,
könnte in industriellen Anwendungen rund um Spitzentechnologien wie das
autonome Fahren aber entscheidend sein. Der seit zwanzig Jahren
existierende, mit zweistelligen Wachstumsraten boomende Markt für
Applikationen braucht diese ultragenaue Geolokalisierungstechnologie unter
anderem zur Entwicklung von Spielen, für die Augmented Reality, für
Sportler-Apps, die sozialen Netzwerke und das Geomarketing. Die Amerikaner
wollen sich übrigens nicht so einfach abhängen lassen. Sie profitieren von
den Problemen des Projekts, das Europa eigentlich einen Vorsprung
verschaffen soll. Ihr GPS III, das eine vergleichbare Genauigkeit bietet,
soll im März 2023 betriebsbereit sein.
In diesem Wettstreit um das beste Signal stellt der Brexit eine neue große
Herausforderung dar. Nachdem die Briten ihre anfänglichen Vorbehalte gegen
Galileo aufgegeben hatten, brachten sie sich intensiv in das Projekt ein.
Sie finanzierten 12 Prozent des Budgets und erhielten 15 Prozent der
Aufträge – insbesondere für den Bau der Nutzlast, also den intelligenten
Teil der Satelliten. Darüber hinaus sind sie sehr stark in die
Bereitstellung des verschlüsselten, ultrapräzisen Signals für militärische
Anwendungen involviert.
Im Falle eines Brexit verlören sie gemäß der von ihnen selbst
mitbeschlossenen Galileo-Ausschreibungsregeln die Verträge für diesen
Dienst. David Davis, der bis Juli 2018 britischer Brexit-Minister war,
bemerkt bitter: „Die Kommission schießt sich selbst ins Knie.“ Ohne die
britischen Unternehmen würde Galileo seiner Ansicht nach nochmals um „bis
zu drei Jahre in Rückstand geraten“ und „mehrere Milliarden an
Zusatzkosten“ verursachen.(9)
Andere treffen schon Vorkehrungen, wie Bowen erklärt: „Das mit der
Herstellung der Nutzlast befasste britische Unternehmen SSTL gehört zu
Airbus. Der Konzern hat bereits damit begonnen, einen Teil seiner mit
Galileo verbundenen Geschäftstätigkeit aus Großbritannien weg zu verlagern.
Thales und OHB stehen bereit, um in die Bresche zu springen, und umwerben
die SSTL-Mitarbeiter. Verzögerungen und Mehrkosten sind absehbar.“ London
beklagt einen verkappten Handelskrieg. „Der Marktanteil des Vereinigten
Königreichs wird attackiert. Alle möchten sich daran gesundstoßen“, sagte
vor einem Jahr Richard Peckham, der Vorsitzende von UKspace, dem
Wirtschaftsverband der britischen Raumfahrtindustrie.(10)
Eine der beiden größten europäischen Armeen (neben Frankreich) läuft nun
Gefahr, nicht auf das Galileo-Präzisionssignal zugreifen zu können.
Angesichts eines möglichen Ausschlusses spielen die Briten sogar mit dem
Gedanken, ihr eigenes System zu bauen. Nach der Europawahl steht im Herbst
die Verabschiedung des Galileo-Haushalts für den Zeitraum von 2021 bis 2027
an. Ein großer Beitragszahler wird dann wahrscheinlich fehlen. Und das neue
Parlament wird der Raumfahrtstrategie so keine Priorität mehr einräumen
können.
(1) „Galileo Initial Service – Open Service – Service Definition Document
Issue 1.0“, Agentur für das Europäische GNSS, Prag, Dezember 2016. Dieses
offizielle Dokument vermittelt ein Gesamtbild.
(2) Didier Migaud, „La contribution de la France aux programmes européens
Galileo et Egnos“, Französischer Rechnungshof, Paris, 19. Oktober 2015.
(3) „Global GPS Market, company profiles, share, trends, analysis,
opportunities, segmentation and forecast 2017–2023“, Research and Markets,
Dublin, Januar 2017.
(4) Informationsbericht Nr. 2022 von Paul Quilès und François Lamy,
Französische Nationalversammlung, Paris, 15. Dezember 1999.
(5) „ICTs, E-commerce and the Information Economy“, OECD Publishing, Paris,
7. März 2000.
(6) Arnaud Leparmentier und Laurent Zecchini, „Les États-Unis multiplient
les pressions contre le projet européen ,Galileo'“, Le Monde, 19. Dezember
2001.
(7) Steve Kettmann, „Europe GPS plan shelved“, Wired, San Francisco, 17.
Januar 2002.
(8) Kurzinformation des Europäischen Rechnungshofs zum Sonderbericht Nr.
7/2009 – Verwaltung der Entwicklungs- und Validierungsphase des Programms
Galileo“, Europäische Kommission, Brüssel, 2009.
(9) Philippe Bernard, „Brexit: querelle ouverte au sommet de l’exécutif
britannique“, Le Monde, 7. Juni 2018.
(10) Eric Albert, „Brexit: Les Britanniques, écartés de Galileo, envisagent
de lancer un projet concurrent“, Le Monde, 8. Mai 2018.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
10 May 2019
## LINKS
[1] https://www.gps.gov/systems/gps/performance/accuracy/#how-accurate
## AUTOREN
Charles Perragin
Guillaume Renouard
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