| # taz.de -- Flüchtlinge in Tunesien: Mittelmeerträume und Realität | |
| > Zarzis in Tunesien wird Brennpunkt der Migration. Aus Libyen kommen | |
| > Afrikaner auf dem Weg nach Europa. Auf dem Meer mussten viele schon | |
| > umkehren. | |
| Bild: Dem Horror entronnen: der Eritreer Mohamed Sabre in Zarzis. Sein Nachbar … | |
| Zarzis taz | Vom Hafen aus kann man es nicht sehen. Irgendwo draußen wartet | |
| das ägyptische Frachtschiff „Maridive 601“ mit 75 Migranten an Bord seit | |
| Wochen auf die Erlaubnis, in den südtunesischen Hafen Zarzis einzulaufen. | |
| Die aus Bangladesch stammenden Migranten waren Ende Mai im Mittelmeer in | |
| Seenot geraten, nachdem sie auf einem Schlauchboot von Libyen aus Richtung | |
| Italien aufgebrochen waren. Sie sollten dann nach Tunesien statt nach | |
| Europa – aber das wollten sie nicht, und Tunesien will es auch nicht. | |
| Tunesiens Regierung lehnt es ab, dass nach der Sperrung europäischer Häfen | |
| für Seenotretter nun Lager in Nordafrika entstehen. „Wir sind wie Libyen | |
| nur ein Durchgangsland“, betonte Premierminister Youssef Chahed vergangene | |
| Woche. | |
| Der Botschafter von Bangladesch konnte die Gruppe auf der „Maridive 601“ | |
| zwar überreden, in die Heimat ausgeflogen zu werden – wegen fehlender | |
| Reisedokumente lassen die tunesischen Behörden sie aber nicht an Land. Der | |
| Rote Halbmond versorgt nun die Schiffsbesatzung und die Migranten. | |
| ## Boote nach Italien | |
| [1][Die 70.000-Einwohner-Stadt Zarzis] im Südosten Tunesiens gilt als | |
| Hauptstadt der Migration. Tausende junger Männer haben sich von dort seit | |
| der Revolution 2011 in Fischerbooten auf den Weg nach Europa gemacht. | |
| Selbst in der Illegalität verdient man in Frankreich weit mehr als die 200 | |
| Euro Mindestlohn, die ein Kellner pro Monat in einem All-inclusive-Hotel | |
| bekommt. Die Arbeitslosigkeit unter Akademikern liegt bei über 50 Prozent. | |
| Für diesen Sommer haben sich viele Familien Plätze auf den Booten nach | |
| Italien reserviert, denn wer mit Minderjährigen kommt, wird aus Italien | |
| nicht abgeschoben, hört der lokale Journalist Noureddine Gantri immer | |
| wieder. | |
| In den Cafés der Stadt bestimmen zwei Themen die Gespräche: der Schmuggel | |
| von Benzin oder Zigaretten über die libysche Grenze und die Preise für die | |
| Überfahrt nach Europa. | |
| Nicht nur die Einwohner von Zarzis hoffen auf Emigration. Laut dem Rotem | |
| Halbmond kommen jede Woche mehr als 200 Migranten über die libysche Grenze. | |
| Seit um Libyens Hauptstadt Tripolis Krieg herrscht, gilt Tunesien als | |
| sichere Alternative für die Weiterreise. | |
| ## Nachts ins Niemandsland | |
| Mehr als 100.000 Menschen sind seit Beginn der Kämpfe geflohen. Nach | |
| Angaben libyscher Aktivisten sitzen mehr als 6.000 Afrikaner entlang der | |
| westlibyschen Küste wegen „illegaler Migration“ hinter Gittern, mehr als | |
| 300.000 versuchen, mit Gelegenheitsjobs einen Platz in den Booten nach | |
| Europa zu finanzieren. | |
| Folter und Lösegelderpressung nehmen derweil in den von Menschenhändlern | |
| betriebenen [2][libyschen Migrantenlagern] zu. | |
| Wenn sie nach Tunesien losziehen, werden die Migranten von Schleppern im | |
| libyschen Abukamasch abgesetzt und schlagen sich nachts an Milizen vorbei | |
| bis durch das von Schmugglern kontrollierte Niemandsland. | |
| Tunesische Patrouillen bringen sie zu den Flüchtlingshelfern der UN: UNHCR | |
| und IOM betreiben in Medenine und Zarzis Auffanglager. | |
| Die Registrierungsstelle für Flüchtlinge in Zarzis liegt am Stadtrand. In | |
| dem kahlen Flur füllen jeden Morgen fünf bis zehn Flüchtlinge Formulare | |
| aus. Sie hoffen, als Asylbewerber anerkannt zu werden und mit dem | |
| UN-Plastikausweis eine neue Identität zu erhalten. | |
| Doch die Karte hat in Tunesien keinen Wert, der Vorschlag zu einem | |
| Asylgesetz liegt seit zwei Jahren unbearbeitet im Parlament. | |
| ## Zwangsarbeit in der Goldmine | |
| „Es ist hier zwar sicher, aber eine Zukunft habe ich in Tunesien genauso | |
| wenig wie in Libyen“, sagt Mohamed Sabre. Im Januar 2017 erreichte der | |
| Eritreer mit 20 anderen Migranten aus Eritrea und Äthiopien auf der | |
| Ladefläche eines Lastwagens von Sudan aus [3][die südlibysche Wüstenoase | |
| Kufra]. | |
| Dort nahm eine lokale Miliz der Gruppe Geld und Pässe ab, die Migranten | |
| landeten auf Baustellen. „Auch als wir Zwangsarbeit leisten mussten, | |
| glaubte ich noch an das Versprechen des sudanesischen Schmugglers, dass wir | |
| in vier Wochen Italien erreichen würden“, berichtet Sabre. | |
| Seinen Entführern täuschte er vor, Sudanese zu sein, damit sie ihn in Ruhe | |
| ließen. „Viele Eritreer haben Freunde oder Verwandte in Europa und damit | |
| Geld, die Gefangenen freizukaufen. Die Milizen verschicken dann per | |
| WhatsApp Foltervideos mit Lösegeldforderungen an die Familien.“ | |
| Von Schlägen durch einen aus Mali stammenden Mittelsmann der | |
| Menschenhändler zeugt eine große Narbe am Rücken Sabres. Ein halbes Jahr | |
| schuftete er in den Goldminen von Um al-Anarab. | |
| Nun arbeitet Sabre in Zarzis als Aushilfskraft in einem Kiosk. Er will sich | |
| 250 Euro zusammensparen – so viel kostet ein Platz auf einem Fischerboot | |
| nach Lampedusa. | |
| 20 Jun 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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