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# taz.de -- Tunesiens Küste und die Toten: Friedhof der Unbekannten
> Einst liebte Chamseddine Marzoug das Meer, heute fürchtet er es. Denn es
> spült die Toten an. Mehr als 400 sind vor der Stadt Zarzis beerdigt.
Bild: Chamesedine Marzoug auf dem Friedhof der Unbekannten
Zarzis taz | Vor 16 Monaten fanden Fischer den Jungen ertrunken am Ufer.
Seitdem liegt er hier. Auf einer Brachfläche im Sand begraben, umgeben von
verrostetem Schrott und kargen Büschen, die scharf nach Zitrone riechen.
Beerdigt wurde er Kopf an Kopf mit einer Frau, deren Körper man in seiner
Nähe fand. Vielleicht seine Mutter.
In der Ferne flimmern die weißen Häuser von Zarzis. Eine staubige
Kleinstadt, im südlichsten Zipfel Tunesiens, in der ganze Straßenzüge nach
Benzin riechen. Geschmuggeltes Importgut aus dem nahen Libyen, das hier in
bunten Kanistern auf Abnehmer wartet. Kamele fressen trockenes Gras von
Bürgersteigen, die Wüste ist nah. Alles, was im Umkreis ins Wasser fällt,
trägt die Strömung nach Zarzis oder bleibt verschollen, sagen die Männer im
Hafen.
Auch der Junge kam auf diese Weise, angeschwemmt. Einer von vielen Toten
der letzten Jahre. Einer von etwa 400 auf dem Friedhof der Unbekannten.
Ein Ort, der in seiner Trostlosigkeit eher an einen Parkplatz erinnert als
an eine Ruhestätte.
## Früher lagerte hier Müll
Braun, staubig. An den Rändern ragen die versandeten Reste einer ehemaligen
Müllkippe empor. 50 Gräber sind hier ausgehoben, immer zwei Leichen liegen
übereinander. Die Löcher sind tief. Mindestens zwei Meter. Sonst kommen die
Hunde, sagen die Männer der Stadtverwaltung.
Früher lagerten sie hier den Müll von Zarzis, jetzt lagert hier totes
Strandgut. Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Eritrea oder dem Sudan.
Namenlose, ohne Geschichte, deren Traum von Europa auf dem Meer sein Ende
nahm. Weil die Wellen zuschlugen oder den kleinen Booten die Luft ausging.
Sie fielen ins Wasser, die Strömung trug sie nach Zarzis, in die Hände von
Chamseddine Marzoug.
Marzoug, das linke Knie auf der Erde, rupft an diesen Oktobernachmittag
Unkraut aus dem harten Boden. Aus seinen Bewegungen spricht die routinierte
Langsamkeit des ewig gleichen Handgriffes. Die dünnen Blumen auf den
Gräbern hat er gerade gegossen. Das Wasser zieht braune Linien in den Sand.
Marzoug ist ein stämmiger Mann, Anfang 50. Mit Vollbart, beigem Schlapphut
und Weste. Ein Angler auf dem Trockenen, der das Meer früher liebte und
jetzt fürchtet, weil es die Toten bringt. Weil es ihm seine beiden Söhne
fast genommen hätte. Wie so vielen Familien in Zarzis.
Früher arbeitete Marzoug als Fischer. Ein kaputter Fuß zwang ihn vor drei
Jahren an Land.
Seitdem ist der Friedhof sein Tagesgeschäft, ein selbst gewähltes.
Entstanden aus dem Gedanken, dass ein paar Löcher noch keinen Friedhof
machen.
Meist kommt er am Abend, wenn die Sonne groß und rot wird und die Hitze des
Tages mild. Er bringt Wasser für die Pflanzen und sammelt den Dreck auf,
den der Wind von den angrenzenden Müllbergen hinüberweht. Er besucht
diejenigen, die nie Besuch bekommen. Weil niemand weiß, dass sie hier sind.
„Das Salzwasser lässt nicht viel übrig“, sagt Marzoug, richtet sich auf u…
klopft den Staub von der Hose. Er holt sein Telefon aus der Westentasche.
Über den Bildschirm ziehen Bilder, von ausgebleichten Körpern, die sanft
auf den Wellen schaukeln. Von blanken Knochen und abgetrennten Gliedern.
Marzougs Gesicht zeigt keine Regung. Die Fotos hat er selber gemacht. Sie
zeigen seinen Alltag.
Rund 100 Tote brachten Chamseddine Marzoug und die Männer der
Stadtverwaltung in den letzten zwei Jahren unter die Erde. Fast 400 seit
2003. Das Jahr, in dem die Stadtverwaltung einen Friedhof für die Fremden
anlegen ließ, die das Meer in immer kleineren Abständen an die Strände
spülte.
## Und irgendwo eine Lücke
Ende der 1990er Jahre strandeten die ersten Leichen in Zarzis, so erzählt
es der Bürgermeister. Eine Zeit, in der das nahe Libyen unter der
Herrschaft von Muammar al-Gaddafi zum Transitland wird, für all diejenigen,
die von Europa träumen.
Die ersten Toten beerdigte man auf den Friedhöfen der Stadt. Alle in
Familienbesitz, privat geführt. Doch je mehr Tote kamen, desto weniger
Platz gab es für die Fremden. Deswegen die Brache.
Seither ist sie Ruhestätte für die, von denen nicht viel bleibt. Eine
Registriernummer im örtlichen Krankenhaus, ein brauner Sandhaufen am Rande
einer tunesischen Kleinstadt. Und irgendwo eine Lücke, in einer fernen
Familie, die auf Nachricht hofft. Von einem Sohn, einem Bruder oder der
Schwester, die verloren ging, irgendwo auf dem großen Treck nach Europa.
„Die Toten haben nur noch mich“, sagt Marzoug. Lange schaut er auf die
braune Hügellandschaft. Manchmal frage er sich, wie das Leben seiner Toten
aussah. Was für Leben ließen sie zurück? Eine Familie, einen Job, ein Haus?
Fragen, auf die Marzoug nie Antworten bekommen wird. Das macht ihn wütend.
Die Ungerechtigkeit, die Wahllosigkeit des Sterbens auch nach Jahren noch.
„Wofür das alles?“, fragt er. „Für Europa? Das uns nicht will?“
Laut der Internationalen Organisation für Migration starben in diesem Jahr
1.282 Menschen bei dem Versuch, Italien zu erreichen. Die Zahl der
Überfahrten wird zwar geringer, aber die Route wird gefährlicher. Italien
verschärft seine Einwanderungspolitik, zivile Rettungsschiffe werden
festgesetzt und die libysche Küstenwache ausgebaut. Musste im letzten Jahr
noch einer von 42 Menschen auf dem Meer sein Leben lassen, ist es jetzt
einer von 18.
Am Abend in den staubigen Straßen von Zarzis, die so dunkel und verzweigt
sind wie ein Irrgarten. Zwischen einem Rohbau und einem Stück Wiese sitzen
die Männer aus der Nachbarschaft auf bunten Plastikstühlen. Die Alten
träge, die Jungen laut und ungeduldig. Auf ihren Telefonen flimmert das
schöne Europa. Wer jetzt noch hier sitzt, der ist im Kopf längst drüben.
Über ihren Köpfen ragen Bambusschirme wie Pilze in die Nacht.
Marzoug schlendert langsam durch die Reihen, bleibt hier und da stehen,
begrüßt, nickt, lacht und lässt sich schließlich in einen gelben Stuhl
sinken. Jeder kennt ihn hier, den Mann, der seine Zeit bei den Toten
verbringt.
## Eine Schnur, die sich nicht vergessen lässt
Ein junger Kellner, in schneeweißem Hemd, bringt schwarzen Kaffee aus dem
angrenzenden Café, ein paar lose Zigaretten, Marlboro. Marzoug lehnt sich
zurück, raucht und beginnt zu erzählen. Von Dingen, die er tagsüber
vergisst und nachts nicht mehr vergessen kann.
Ein Sonntagmorgen, Ende August 2014. Am Strand der Nachbargemeinde Ben
Gardane werden 42 Leichen angespült und die Reste eines hellblauen
Holzbootes. Unter den Toten acht Frauen und fünf Kinder, die blauen
Schwimmwesten teils noch am Körper. Rettungskräfte finden syrische
Identitätspapiere. Auch Marzoug hilft beim Bergen, holt die Körper aus dem
Wasser, hebt Gräber aus. Arbeit, die er freiwillig macht, als Helfer für
den Roten Halbmond, das arabische Pendant zum Roten Kreuz in Europa.
Was er damals sieht, verfolgt ihn bis heute: Mutter und Sohn. Die Frau
hatte sich ihr Kind mit einer Schnur ans Handgelenk gebunden. „Damit sie es
nicht verliert“, sagt Marzoug, steckt die Zigarette in den Mundwinkel,
fährt mit den Fingern die Schnur nach, den Knoten am Handgelenk. Als würde
diese Geste es einfacher machen, zu verstehen.
Wenn Marzoug vom Tod erzählt, dann leise. Eine Art des Erzählens, die mit
der Erfahrung kommt. Seine erste Leiche findet er Ende der 1990er Jahre auf
dem Meer. Ein ertrunkener Flüchtling aus Libyen, so erzählt es Marzoug. In
den Jahren danach bringt die Strömung immer wieder neue Tote nach Zarzis.
Erst vereinzelt, ab 2011 in wirren Knäueln aus Körpern. Am Strand, im
Wasser, in den Netzen der Fischer.
Es ist das Jahr der Jasminrevolution, in dem der Arabische Frühling durch
Tunesien wirbelt und das Nachbarland Libyen im Bürgerkrieg versinkt. Ein
Jahr, in dem Zarzis zum Unterschlupf für Verfolgte auf dem Weg nach Europa
wird.
Rund 300.000 Menschen flüchten zwischen Februar und Mai 2011 aus Libyen
nach Tunesien. Es sind vor allem Libyer, aber auch Arbeiter aus
Subsaharastaaten. Sie fliehen aus einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt.
Und kommen in einen Staat, der ebenfalls zerfällt. Nach der Flucht des
tunesischen Diktators Ben Alis, Mitte Januar 2011, gilt der
Ausnahmezustand. Die tunesischen Behörden arbeiten nur noch langsam oder
gar nicht mehr, die Grenzkontrollen fallen weg, und Zarzis wird zur
Transitstation. Die Strände sind flach, weit und unbeobachtet. Lampedusa in
17 Stunden erreichbar. An manchen Tagen steigen hier rund 400 Menschen in
die Boote.
Das UNHCR schätzt, dass zwischen Januar und September 2011 rund 42.000
Menschen Italien erreichen. Sie stolpern an die Strände von Lampedusa und
Sizilien. Fast die Hälfte der Ankommenden sind Tunesier. Jung, männlich,
oft gut gebildet und so frustriert von der Perspektivlosigkeit im eigenen
Land, dass sie der Tod auf See nicht mehr schreckt. Für viele dieser
„Grenzverbrenner“, wie im Arabischen jene genannt werden, die illegal von
Land zu Land ziehen, beginnt die Reise in Zarzis.
## Ein Pakt gegen den Tod
Chamseddine Marzoug arbeitet damals noch als Fischer. Die Tage nach der
Revolution verbringt er auf dem Meer. Die Nächte auf seinem Boot im Hafen,
um es vor Ausreisewilligen und Schleppern zu schützen.
„Alle wollten weg“, sagt Marzoug, versinkt in einer Rauchwolke und erzählt
von einer Stadt, einem ganzen Land in Aufruhr. Ganze Schulklassen seien
damals verschwunden, jede Nacht hätten Dutzende Boote abgelegt. Schlepper
hätten alles aufs Meer geschickt, was sie fanden: Holzboote, Fischerboote,
Gummiboote.
Manch ein Fischer macht das Geschäft seines Lebens. Eine Überfahrt kostet
1.000 Dinar, damals rund 500 Euro. 100 Leute an Deck, macht 50.000 Euro in
einer Nacht.
Marzoug verkauft sein Boot nicht, viele seiner Kollegen sperren sich
ebenfalls. Sie schließen einen Pakt, den Tod auf dem Meer wollen sie nicht
verantworten. Das Fanggebiet der Fischer von Zarzis liegt auf der Route
Tunesien–Italien. Die Männer wissen, wie schnell das Wetter hier umschlägt
und was dann mit Booten passiert, die nicht seetauglich sind oder von Laien
geführt werden.
1.500 Menschen ertrinken oder verschwinden in diesen Monaten. Eine Zeit, in
der Marzoug und seine Kollegen oft ohne Fang in den Hafen kommen. Statt
Fischen ziehen sie Menschen an Bord.
„Das Meer wurde damals zum Friedhof“, sagt Marzoug und zeigt ein
Handyvideo, in dem leblose Körper aus Fischernetzen geschnitten werden.
Es sind diese turbulenten Monate, diese Erfahrungen, die Marzoug später zum
Friedhofswärter werden lassen. Und zu einem Mann, dessen bloße Erwähnung
reicht, um lokale Behördenmitarbeiter ihre Beherrschung verlieren zu
lassen.
2011, als das Nachbarland Libyen im Chaos versinkt, arbeitet Marzoug als
Freiwilliger in den Flüchtlingslagern der Umgebung. Er versorgt Kranke mit
Arzneimitteln, fährt sie ins Hospital. Er knüpft Kontakte zu syrischen
Familien und jungen Männern aus ganz Afrika.
Es sind die gleichen jungen Männern, die ihn auch heute noch grüßen, wenn
er durch die Straßen seiner Nachbarschaft schlendert. Begleitet man ihn,
dann erfährt man, dass sie illegal im Land sind, auf dem Bau arbeiten oder
von einer Fußballkarriere in Europa träumen. Sie alle wollen weg, übers
Meer.
Es sind die gleichen jungen Männer, die Marzoug unter die Erde bringt, wenn
ihr Traum am Strand von Zarzis endet. Für Chamseddine Marzoug Grund genug,
dafür zu sorgen, dass ihre letzte Ruhestätte mehr ist als ein anonymes
Massengrab am Rande einer stillgelegten Müllkippe.
Ein Engagement, das nicht jeder in Zarzis schätzt.
## Marzoug kann gut erzählen
Ein Morgen im Rathaus der Stadt, einem weißen Bungalow im Zentrum,
Überbleibsel der französischen Kolonialzeit. Palmen säumen den Eingang. Auf
dem Dach flattert der Halbmond der tunesischen Flagge im Wind. Der
Bürgermeister Mekki Laraiedh, ein rundlicher Mann mit grauem Bürstenschnitt
und blauem Kurzarmhemd, ist frisch im Amt. Drei Monate, der erste frei
gewählte Repräsentant nach der Revolution. Man nimmt Platz auf senfgelben
Sofas. Der Bürgermeister bleibt hinterm Schreibtisch, drei namenlose
Mitarbeiter im Rücken.
„Das ist nicht sein Friedhof“, sagt der Bürgermeister. Die Erwähnung von
Marzoug nervt ihn sichtlich. Chamseddine Marzoug dränge sich lediglich in
den Vordergrund und lasse das Engagement der Stadt klein aussehen. Er
erzählt von städtischen Angestellten, die Gräber ausheben und dem Amtsarzt,
der die Toten im lokalen Krankenhaus obduziert. „Außerdem“, beendet er
seinen Monolog „hat die Stadt das Grundstück gekauft!“ Er hält den Vertrag
hoch und tippt mit dem Zeigefinger wütend aufs Papier.
Ein bisschen kann man seine Rage verstehen. Die Geschichte vom ehemaligen
Fischer, der jetzt Friedhofswärter ist, geht seit einiger Zeit um die Welt.
Und Marzoug macht gerne mit. Er kann gut erzählen, Kameras machen ihn nicht
nervös. Er wirkt sympathisch. Eine italienische Filmemacherin drehte jüngst
einen Dokumentarfilm über ihn.
Früher war Zarzis bekannt für schöne Strände, kilometerlange Olivenhaine
und ein Abendlicht, das sich wie eine blaue Decke über die Stadt legt. Noch
immer residieren reiche Franzosen in den weißen Kolonialvillen am Meer.
Doch seit der Revolution und den Anschlägen auf Touristen im nahen Djerba
im Jahr 2002, in Tunis und Sousse im Jahr 2015, kommen weniger Ausländer.
Die Hotels bleiben leer. Die Toten am Strand, Marzougs Geschichte. Das
macht es nicht besser.
## Die Hoffnungen des arabischen Frühlings sind dahin
Dass Chamseddine Marzoug als Privatperson agiert, die Blumen und das
Gießwasser selber finanziert, schnauft der Bürgermeister wütend weg. Am
Ende des Gespräches ist klar: Die Stadtoberen würden auf Marzougs Blumen
gerne verzichten. In ihren Augen ist der Friedhofswärter ein Störenfried,
der mit seinem individuellen Engagement die Autorität und das Ansehen einer
ganzen Behörde, einer ganzen Stadt, untergräbt.
Eine Gefühlslage, die viel erzählt über das Tunesien der Gegenwart. Ein
Land, das auch sieben Jahre nach der Revolution in einem gesellschaftlichen
Netz aus Konventionen und Religion feststeckt, das streng geknüpft ist. Vor
allem in den ländlichen Gegenden. Hier reicht schon ein ausgefallenes
Hobby, ein ungewöhnlicher Gedanke, um in der Nachbarschaft für
Gesprächsstoff zu sorgen.
Zwar hat sich viel getan in Tunesien. Frauen sind, zumindest auf dem
Papier, den Männern im Alltag gleichgestellt, Versammlungs- und
Meinungsfreiheit sind in der Verfassung aus dem Jahr 2014 fest verankert.
Trotzdem macht sich der Frust breit im Land, die Hoffnungen des Arabischen
Frühlings sind dahin.
Die Polizei gilt als eine der korruptesten Institutionen des Landes.
Homosexualität ist noch immer strafbar. Kritische Journalisten werden
vielfach eingeschüchtert. Der erhoffte Aufbruch, er steckt fest. Hinzu
kommt die prekäre wirtschaftliche Situation.
## Italien, dritter Versuch
Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent, die der Jugendarbeitslosigkeit
bei 36. Jeder dritte Hochschulabsolvent findet keinen Job. Der Dinar
verliert an Wert, die Inflationsrate steigt. So wie Tunesiens
Staatsschulden. Im Januar 2018 gehen Zehntausende Tunesier auf die Straße.
Sie protestieren gegen Steuererhöhungen und Preissteigerung. Es sind die
größten Aufstände seit sieben Jahren.
Und wieder steigen die Menschen in die Boote. Und wieder sind es die
Jungen, die sich aufmachen, vor allem nach Italien. Allein 5.000 in den
letzten Monaten. So viele wie seit der Revolution nicht mehr. Damit stellen
Tunesier erstmals die größte Gruppe der Ankommenden, das zeigen Zahlen des
UNHCR.
Am Nachmittag in Marzougs Stammcafé. Die meisten Stühle sind noch leer.
Marzoug sitzt unter einem der Bastschirme, das übliche Gedeck aus Kaffee
und Kippe auf dem Tisch. Sein Begleiter ist ein junger Mann, Anfang
zwanzig, mit Kindergesicht und riesigen blauen Augen. Seinen Namen will er
nicht nennen. In den nächsten Tagen will er wieder los, rüber nach Italien.
Er will nicht, dass irgendjemand davon erfährt, nicht seine Eltern, nicht
die tunesischen Behörden.
Dreimal habe er schon versucht, Italien zu erreichen, erzählt er und zieht
lässig an seiner Zigarette, die ihn in diesem Moment eher jünger als älter
wirken lässt. Einmal sei er noch direkt am Strand verhaftet worden, einmal
sei das Boot kaputt gegangen. Sein letzter Versuch liegt rund zwei Monate
zurück. Was er von diesem Tag erzählt, hört sich an wie ein Krimi und ist
doch nur Alltag.
## Von Europa im Stich gelassen
Ein Mittwochmorgen Ende August, 84 Meilen südlich von Lampedusa. Ein
blau-weißer Fischkutter dümpelt ruhig über die kleinen Wellen. Die Sicht
ist gut, die Netze sind ausgeworfen. An Bord sind sechs Fischer aus Zarzis.
Gegen elf Uhr entdecken sie in der Ferne ein Boot aus weißem Hartplastik,
in dem normalerweise Angler sitzen. Etwa fünf Meter lang. An Bord: 14
Männer zwischen 14 und 25 Jahren. Der Junge mit den blauen Augen ist einer
von ihnen.
Was dann passiert, lässt sich aus italienischen Gerichtsakten und den
Erzählungen des Jungen und der beteiligten Fischer zusammensetzen.
Die sechs Fischer verteilen Lebensmittel und bieten den Jungen an, sie
zurück an Land zu bringen. Einer der Jungen droht damit, sich anzuzünden,
sollte man ihn nach Tunesien zurückbringen.
Die Crew kontaktiert die italienische Küstenwache. Die Antwortet nicht,
stundenlang. Irgendwann entschließen sich die Fischer, das kleine Boot in
den nächsten sicheren Hafen zu schleppen, nach Lampedusa. 24 Meilen vor dem
Ziel nimmt ein Schiff des italienischen Zolls die Passagiere an Bord und
verhaftet die Fischer. Einen Monat lang sitzt die Crew in einem
Untersuchungsgefängnis auf Sizilien. Am 19. September ordnet ein
italienisches Gericht ihre umgehende Freilassung an. Der Vorwurf des
Menschenschmuggels wird fallen gelassen.
Das Boot der Fischer liegt seither in Italien. Für sie ein
Verdienstausfall. Der Kapitän Chamseddine Bourassine betritt seit dem
Vorfall nicht mehr den Hafen. Von Europa fühlt er sich im Stich gelassen.
Der Junge mit den blauen Augen sagt, niemand könne ihn daran hindern, nach
Europa zu kommen.
Nicht Frontex, nicht die tunesische Küstenwache, nicht die EU. „Ich sterbe
lieber auf dem Meer als hierzubleiben.“
Alle seine Freunde seien schon drüben, sagt er, holt ein schwarzes
Mobiltelefon hervor und zeigt Bilder von jungen Männern, die in die Kamera
schauen. Wie Gewinner, die Daumen nach oben. Die Frisuren, die Klamotten
großstädtisch. Im Hintergrund die Straßen von Paris.
„Hier gibt es nichts für uns“, sagt er und schaut auf den Staub der
Nachbarschaft. Die letzten Jahren hat er als Hilfskraft auf dem Bau
verbracht. Er erzählt von denen, die in den Sommermonaten zurückkommen, mit
ihren Motorrädern und ihren neuen Häusern im Ort. Von den Familien, die
ihre Töchter denjenigen mitgeben, die im Besitz des begehrten
Europa-Tickets sind und den anderen, den Jungs wie ihm, denen nichts bleibt
als zu hoffen, es irgendwann auch mal auf die andere Seite zu schaffen.
Den Plan für Europa hat er bereits im Kopf, bis ins kleinste Detail. Mit
einem großen Lächeln im Gesicht erzählt er von seinem zukünftigen Job:
Pizzabäcker in Paris. Der Laden gehöre einem Freund, sagt er. Seinen Lohn,
seine Ausgaben, und das Geld, das er seinen Eltern schicken will, hat er
bereits genau berechnet. Einen Schlafplatz hat er auch schon. Fehlt nur
noch die Überfahrt.
„Die Jungen träumen alle von Europa“, sagt Marzoug, der bisher still
zugehört hat. Diese Geschichte hört er nicht zum ersten Mal. Jeder in
Zarzis kennt sie. Manchmal geht sie gut aus, manchmal schlecht.
Marzoug erzählt von seinem vierzehnjährigen Neffen, den man vor ein paar
Wochen von einem kaputten Boot rettete. Von seinen Söhnen, 23 und 19 Jahre
alt, die seit fast zwei Jahren in Paris leben. Auch sie stiegen ins Boot.
„Ich wusste davon nichts“, sagt Marzoug, „nur meine Frau.“ Er lacht. Wie
über einen Dummenjungenstreich.
Erzählt er von seinen Söhnen, wird sein Gesicht weich. Einmal hat er die
beiden schon besucht, in Paris. In ihrem neuen Leben. „Sie sind
aufgeblüht“, sagt Marzoug. Den Drang, übers Meer zu verschwinden, kann er
verstehen. Dass seine Kinder, die seiner Freunde und Nachbarn für Europa
den Tod riskieren müssen, nicht. Dass seine Fischerkollegen verhaftet
werden, das auch nicht. „Die Grenze muss weg“, sagt Marzoug. Da ist er ganz
bestimmt.
Vor einigen Tagen hat die Stadt Zarzis ein Grundstück gekauft. Noch drei
Tote, dann ist der Friedhof der Unbekannten voll. Marzoug will auch aus
dieser Brache wieder einen Friedhof machen.
29 Dec 2018
## AUTOREN
Gesa Steeger
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