# taz.de -- Tunesiens Küste und die Toten: Friedhof der Unbekannten | |
> Einst liebte Chamseddine Marzoug das Meer, heute fürchtet er es. Denn es | |
> spült die Toten an. Mehr als 400 sind vor der Stadt Zarzis beerdigt. | |
Bild: Chamesedine Marzoug auf dem Friedhof der Unbekannten | |
ZARZIS taz | Vor 16 Monaten fanden Fischer den Jungen ertrunken am Ufer. | |
Seitdem liegt er hier. Auf einer Brachfläche im Sand begraben, umgeben von | |
verrostetem Schrott und kargen Büschen, die scharf nach Zitrone riechen. | |
Beerdigt wurde er Kopf an Kopf mit einer Frau, deren Körper man in seiner | |
Nähe fand. Vielleicht seine Mutter. | |
In der Ferne flimmern die weißen Häuser von Zarzis. Eine staubige | |
Kleinstadt, im südlichsten Zipfel Tunesiens, in der ganze Straßenzüge nach | |
Benzin riechen. Geschmuggeltes Importgut aus dem nahen Libyen, das hier in | |
bunten Kanistern auf Abnehmer wartet. Kamele fressen trockenes Gras von | |
Bürgersteigen, die Wüste ist nah. Alles, was im Umkreis ins Wasser fällt, | |
trägt die Strömung nach Zarzis oder bleibt verschollen, sagen die Männer im | |
Hafen. | |
Auch der Junge kam auf diese Weise, angeschwemmt. Einer von vielen Toten | |
der letzten Jahre. Einer von etwa 400 auf dem Friedhof der Unbekannten. | |
Ein Ort, der in seiner Trostlosigkeit eher an einen Parkplatz erinnert als | |
an eine Ruhestätte. | |
## Früher lagerte hier Müll | |
Braun, staubig. An den Rändern ragen die versandeten Reste einer ehemaligen | |
Müllkippe empor. 50 Gräber sind hier ausgehoben, immer zwei Leichen liegen | |
übereinander. Die Löcher sind tief. Mindestens zwei Meter. Sonst kommen die | |
Hunde, sagen die Männer der Stadtverwaltung. | |
Früher lagerten sie hier den Müll von Zarzis, jetzt lagert hier totes | |
Strandgut. Männer, Frauen und Kinder aus Syrien, Eritrea oder dem Sudan. | |
Namenlose, ohne Geschichte, deren Traum von Europa auf dem Meer sein Ende | |
nahm. Weil die Wellen zuschlugen oder den kleinen Booten die Luft ausging. | |
Sie fielen ins Wasser, die Strömung trug sie nach Zarzis, in die Hände von | |
Chamseddine Marzoug. | |
Marzoug, das linke Knie auf der Erde, rupft an diesen Oktobernachmittag | |
Unkraut aus dem harten Boden. Aus seinen Bewegungen spricht die routinierte | |
Langsamkeit des ewig gleichen Handgriffes. Die dünnen Blumen auf den | |
Gräbern hat er gerade gegossen. Das Wasser zieht braune Linien in den Sand. | |
Marzoug ist ein stämmiger Mann, Anfang 50. Mit Vollbart, beigem Schlapphut | |
und Weste. Ein Angler auf dem Trockenen, der das Meer früher liebte und | |
jetzt fürchtet, weil es die Toten bringt. Weil es ihm seine beiden Söhne | |
fast genommen hätte. Wie so vielen Familien in Zarzis. | |
Früher arbeitete Marzoug als Fischer. Ein kaputter Fuß zwang ihn vor drei | |
Jahren an Land. | |
Seitdem ist der Friedhof sein Tagesgeschäft, ein selbst gewähltes. | |
Entstanden aus dem Gedanken, dass ein paar Löcher noch keinen Friedhof | |
machen. | |
Meist kommt er am Abend, wenn die Sonne groß und rot wird und die Hitze des | |
Tages mild. Er bringt Wasser für die Pflanzen und sammelt den Dreck auf, | |
den der Wind von den angrenzenden Müllbergen hinüberweht. Er besucht | |
diejenigen, die nie Besuch bekommen. Weil niemand weiß, dass sie hier sind. | |
„Das Salzwasser lässt nicht viel übrig“, sagt Marzoug, richtet sich auf u… | |
klopft den Staub von der Hose. Er holt sein Telefon aus der Westentasche. | |
Über den Bildschirm ziehen Bilder, von ausgebleichten Körpern, die sanft | |
auf den Wellen schaukeln. Von blanken Knochen und abgetrennten Gliedern. | |
Marzougs Gesicht zeigt keine Regung. Die Fotos hat er selber gemacht. Sie | |
zeigen seinen Alltag. | |
Rund 100 Tote brachten Chamseddine Marzoug und die Männer der | |
Stadtverwaltung in den letzten zwei Jahren unter die Erde. Fast 400 seit | |
2003. Das Jahr, in dem die Stadtverwaltung einen Friedhof für die Fremden | |
anlegen ließ, die das Meer in immer kleineren Abständen an die Strände | |
spülte. | |
## Und irgendwo eine Lücke | |
Ende der 1990er Jahre strandeten die ersten Leichen in Zarzis, so erzählt | |
es der Bürgermeister. Eine Zeit, in der das nahe Libyen unter der | |
Herrschaft von Muammar al-Gaddafi zum Transitland wird, für all diejenigen, | |
die von Europa träumen. | |
Die ersten Toten beerdigte man auf den Friedhöfen der Stadt. Alle in | |
Familienbesitz, privat geführt. Doch je mehr Tote kamen, desto weniger | |
Platz gab es für die Fremden. Deswegen die Brache. | |
Seither ist sie Ruhestätte für die, von denen nicht viel bleibt. Eine | |
Registriernummer im örtlichen Krankenhaus, ein brauner Sandhaufen am Rande | |
einer tunesischen Kleinstadt. Und irgendwo eine Lücke, in einer fernen | |
Familie, die auf Nachricht hofft. Von einem Sohn, einem Bruder oder der | |
Schwester, die verloren ging, irgendwo auf dem großen Treck nach Europa. | |
„Die Toten haben nur noch mich“, sagt Marzoug. Lange schaut er auf die | |
braune Hügellandschaft. Manchmal frage er sich, wie das Leben seiner Toten | |
aussah. Was für Leben ließen sie zurück? Eine Familie, einen Job, ein Haus? | |
Fragen, auf die Marzoug nie Antworten bekommen wird. Das macht ihn wütend. | |
Die Ungerechtigkeit, die Wahllosigkeit des Sterbens auch nach Jahren noch. | |
„Wofür das alles?“, fragt er. „Für Europa? Das uns nicht will?“ | |
Laut der Internationalen Organisation für Migration starben in diesem Jahr | |
1.282 Menschen bei dem Versuch, Italien zu erreichen. Die Zahl der | |
Überfahrten wird zwar geringer, aber die Route wird gefährlicher. Italien | |
verschärft seine Einwanderungspolitik, zivile Rettungsschiffe werden | |
festgesetzt und die libysche Küstenwache ausgebaut. Musste im letzten Jahr | |
noch einer von 42 Menschen auf dem Meer sein Leben lassen, ist es jetzt | |
einer von 18. | |
Am Abend in den staubigen Straßen von Zarzis, die so dunkel und verzweigt | |
sind wie ein Irrgarten. Zwischen einem Rohbau und einem Stück Wiese sitzen | |
die Männer aus der Nachbarschaft auf bunten Plastikstühlen. Die Alten | |
träge, die Jungen laut und ungeduldig. Auf ihren Telefonen flimmert das | |
schöne Europa. Wer jetzt noch hier sitzt, der ist im Kopf längst drüben. | |
Über ihren Köpfen ragen Bambusschirme wie Pilze in die Nacht. | |
Marzoug schlendert langsam durch die Reihen, bleibt hier und da stehen, | |
begrüßt, nickt, lacht und lässt sich schließlich in einen gelben Stuhl | |
sinken. Jeder kennt ihn hier, den Mann, der seine Zeit bei den Toten | |
verbringt. | |
## Eine Schnur, die sich nicht vergessen lässt | |
Ein junger Kellner, in schneeweißem Hemd, bringt schwarzen Kaffee aus dem | |
angrenzenden Café, ein paar lose Zigaretten, Marlboro. Marzoug lehnt sich | |
zurück, raucht und beginnt zu erzählen. Von Dingen, die er tagsüber | |
vergisst und nachts nicht mehr vergessen kann. | |
Ein Sonntagmorgen, Ende August 2014. Am Strand der Nachbargemeinde Ben | |
Gardane werden 42 Leichen angespült und die Reste eines hellblauen | |
Holzbootes. Unter den Toten acht Frauen und fünf Kinder, die blauen | |
Schwimmwesten teils noch am Körper. Rettungskräfte finden syrische | |
Identitätspapiere. Auch Marzoug hilft beim Bergen, holt die Körper aus dem | |
Wasser, hebt Gräber aus. Arbeit, die er freiwillig macht, als Helfer für | |
den Roten Halbmond, das arabische Pendant zum Roten Kreuz in Europa. | |
Was er damals sieht, verfolgt ihn bis heute: Mutter und Sohn. Die Frau | |
hatte sich ihr Kind mit einer Schnur ans Handgelenk gebunden. „Damit sie es | |
nicht verliert“, sagt Marzoug, steckt die Zigarette in den Mundwinkel, | |
fährt mit den Fingern die Schnur nach, den Knoten am Handgelenk. Als würde | |
diese Geste es einfacher machen, zu verstehen. | |
Wenn Marzoug vom Tod erzählt, dann leise. Eine Art des Erzählens, die mit | |
der Erfahrung kommt. Seine erste Leiche findet er Ende der 1990er Jahre auf | |
dem Meer. Ein ertrunkener Flüchtling aus Libyen, so erzählt es Marzoug. In | |
den Jahren danach bringt die Strömung immer wieder neue Tote nach Zarzis. | |
Erst vereinzelt, ab 2011 in wirren Knäueln aus Körpern. Am Strand, im | |
Wasser, in den Netzen der Fischer. | |
Es ist das Jahr der Jasminrevolution, in dem der Arabische Frühling durch | |
Tunesien wirbelt und das Nachbarland Libyen im Bürgerkrieg versinkt. Ein | |
Jahr, in dem Zarzis zum Unterschlupf für Verfolgte auf dem Weg nach Europa | |
wird. | |
Rund 300.000 Menschen flüchten zwischen Februar und Mai 2011 aus Libyen | |
nach Tunesien. Es sind vor allem Libyer, aber auch Arbeiter aus | |
Subsaharastaaten. Sie fliehen aus einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt. | |
Und kommen in einen Staat, der ebenfalls zerfällt. Nach der Flucht des | |
tunesischen Diktators Ben Alis, Mitte Januar 2011, gilt der | |
Ausnahmezustand. Die tunesischen Behörden arbeiten nur noch langsam oder | |
gar nicht mehr, die Grenzkontrollen fallen weg, und Zarzis wird zur | |
Transitstation. Die Strände sind flach, weit und unbeobachtet. Lampedusa in | |
17 Stunden erreichbar. An manchen Tagen steigen hier rund 400 Menschen in | |
die Boote. | |
Das UNHCR schätzt, dass zwischen Januar und September 2011 rund 42.000 | |
Menschen Italien erreichen. Sie stolpern an die Strände von Lampedusa und | |
Sizilien. Fast die Hälfte der Ankommenden sind Tunesier. Jung, männlich, | |
oft gut gebildet und so frustriert von der Perspektivlosigkeit im eigenen | |
Land, dass sie der Tod auf See nicht mehr schreckt. Für viele dieser | |
„Grenzverbrenner“, wie im Arabischen jene genannt werden, die illegal von | |
Land zu Land ziehen, beginnt die Reise in Zarzis. | |
## Ein Pakt gegen den Tod | |
Chamseddine Marzoug arbeitet damals noch als Fischer. Die Tage nach der | |
Revolution verbringt er auf dem Meer. Die Nächte auf seinem Boot im Hafen, | |
um es vor Ausreisewilligen und Schleppern zu schützen. | |
„Alle wollten weg“, sagt Marzoug, versinkt in einer Rauchwolke und erzählt | |
von einer Stadt, einem ganzen Land in Aufruhr. Ganze Schulklassen seien | |
damals verschwunden, jede Nacht hätten Dutzende Boote abgelegt. Schlepper | |
hätten alles aufs Meer geschickt, was sie fanden: Holzboote, Fischerboote, | |
Gummiboote. | |
Manch ein Fischer macht das Geschäft seines Lebens. Eine Überfahrt kostet | |
1.000 Dinar, damals rund 500 Euro. 100 Leute an Deck, macht 50.000 Euro in | |
einer Nacht. | |
Marzoug verkauft sein Boot nicht, viele seiner Kollegen sperren sich | |
ebenfalls. Sie schließen einen Pakt, den Tod auf dem Meer wollen sie nicht | |
verantworten. Das Fanggebiet der Fischer von Zarzis liegt auf der Route | |
Tunesien–Italien. Die Männer wissen, wie schnell das Wetter hier umschlägt | |
und was dann mit Booten passiert, die nicht seetauglich sind oder von Laien | |
geführt werden. | |
1.500 Menschen ertrinken oder verschwinden in diesen Monaten. Eine Zeit, in | |
der Marzoug und seine Kollegen oft ohne Fang in den Hafen kommen. Statt | |
Fischen ziehen sie Menschen an Bord. | |
„Das Meer wurde damals zum Friedhof“, sagt Marzoug und zeigt ein | |
Handyvideo, in dem leblose Körper aus Fischernetzen geschnitten werden. | |
Es sind diese turbulenten Monate, diese Erfahrungen, die Marzoug später zum | |
Friedhofswärter werden lassen. Und zu einem Mann, dessen bloße Erwähnung | |
reicht, um lokale Behördenmitarbeiter ihre Beherrschung verlieren zu | |
lassen. | |
2011, als das Nachbarland Libyen im Chaos versinkt, arbeitet Marzoug als | |
Freiwilliger in den Flüchtlingslagern der Umgebung. Er versorgt Kranke mit | |
Arzneimitteln, fährt sie ins Hospital. Er knüpft Kontakte zu syrischen | |
Familien und jungen Männern aus ganz Afrika. | |
Es sind die gleichen jungen Männern, die ihn auch heute noch grüßen, wenn | |
er durch die Straßen seiner Nachbarschaft schlendert. Begleitet man ihn, | |
dann erfährt man, dass sie illegal im Land sind, auf dem Bau arbeiten oder | |
von einer Fußballkarriere in Europa träumen. Sie alle wollen weg, übers | |
Meer. | |
Es sind die gleichen jungen Männer, die Marzoug unter die Erde bringt, wenn | |
ihr Traum am Strand von Zarzis endet. Für Chamseddine Marzoug Grund genug, | |
dafür zu sorgen, dass ihre letzte Ruhestätte mehr ist als ein anonymes | |
Massengrab am Rande einer stillgelegten Müllkippe. | |
Ein Engagement, das nicht jeder in Zarzis schätzt. | |
## Marzoug kann gut erzählen | |
Ein Morgen im Rathaus der Stadt, einem weißen Bungalow im Zentrum, | |
Überbleibsel der französischen Kolonialzeit. Palmen säumen den Eingang. Auf | |
dem Dach flattert der Halbmond der tunesischen Flagge im Wind. Der | |
Bürgermeister Mekki Laraiedh, ein rundlicher Mann mit grauem Bürstenschnitt | |
und blauem Kurzarmhemd, ist frisch im Amt. Drei Monate, der erste frei | |
gewählte Repräsentant nach der Revolution. Man nimmt Platz auf senfgelben | |
Sofas. Der Bürgermeister bleibt hinterm Schreibtisch, drei namenlose | |
Mitarbeiter im Rücken. | |
„Das ist nicht sein Friedhof“, sagt der Bürgermeister. Die Erwähnung von | |
Marzoug nervt ihn sichtlich. Chamseddine Marzoug dränge sich lediglich in | |
den Vordergrund und lasse das Engagement der Stadt klein aussehen. Er | |
erzählt von städtischen Angestellten, die Gräber ausheben und dem Amtsarzt, | |
der die Toten im lokalen Krankenhaus obduziert. „Außerdem“, beendet er | |
seinen Monolog „hat die Stadt das Grundstück gekauft!“ Er hält den Vertrag | |
hoch und tippt mit dem Zeigefinger wütend aufs Papier. | |
Ein bisschen kann man seine Rage verstehen. Die Geschichte vom ehemaligen | |
Fischer, der jetzt Friedhofswärter ist, geht seit einiger Zeit um die Welt. | |
Und Marzoug macht gerne mit. Er kann gut erzählen, Kameras machen ihn nicht | |
nervös. Er wirkt sympathisch. Eine italienische Filmemacherin drehte jüngst | |
einen Dokumentarfilm über ihn. | |
Früher war Zarzis bekannt für schöne Strände, kilometerlange Olivenhaine | |
und ein Abendlicht, das sich wie eine blaue Decke über die Stadt legt. Noch | |
immer residieren reiche Franzosen in den weißen Kolonialvillen am Meer. | |
Doch seit der Revolution und den Anschlägen auf Touristen im nahen Djerba | |
im Jahr 2002, in Tunis und Sousse im Jahr 2015, kommen weniger Ausländer. | |
Die Hotels bleiben leer. Die Toten am Strand, Marzougs Geschichte. Das | |
macht es nicht besser. | |
## Die Hoffnungen des arabischen Frühlings sind dahin | |
Dass Chamseddine Marzoug als Privatperson agiert, die Blumen und das | |
Gießwasser selber finanziert, schnauft der Bürgermeister wütend weg. Am | |
Ende des Gespräches ist klar: Die Stadtoberen würden auf Marzougs Blumen | |
gerne verzichten. In ihren Augen ist der Friedhofswärter ein Störenfried, | |
der mit seinem individuellen Engagement die Autorität und das Ansehen einer | |
ganzen Behörde, einer ganzen Stadt, untergräbt. | |
Eine Gefühlslage, die viel erzählt über das Tunesien der Gegenwart. Ein | |
Land, das auch sieben Jahre nach der Revolution in einem gesellschaftlichen | |
Netz aus Konventionen und Religion feststeckt, das streng geknüpft ist. Vor | |
allem in den ländlichen Gegenden. Hier reicht schon ein ausgefallenes | |
Hobby, ein ungewöhnlicher Gedanke, um in der Nachbarschaft für | |
Gesprächsstoff zu sorgen. | |
Zwar hat sich viel getan in Tunesien. Frauen sind, zumindest auf dem | |
Papier, den Männern im Alltag gleichgestellt, Versammlungs- und | |
Meinungsfreiheit sind in der Verfassung aus dem Jahr 2014 fest verankert. | |
Trotzdem macht sich der Frust breit im Land, die Hoffnungen des Arabischen | |
Frühlings sind dahin. | |
Die Polizei gilt als eine der korruptesten Institutionen des Landes. | |
Homosexualität ist noch immer strafbar. Kritische Journalisten werden | |
vielfach eingeschüchtert. Der erhoffte Aufbruch, er steckt fest. Hinzu | |
kommt die prekäre wirtschaftliche Situation. | |
## Italien, dritter Versuch | |
Die Arbeitslosenquote liegt bei 15 Prozent, die der Jugendarbeitslosigkeit | |
bei 36. Jeder dritte Hochschulabsolvent findet keinen Job. Der Dinar | |
verliert an Wert, die Inflationsrate steigt. So wie Tunesiens | |
Staatsschulden. Im Januar 2018 gehen Zehntausende Tunesier auf die Straße. | |
Sie protestieren gegen Steuererhöhungen und Preissteigerung. Es sind die | |
größten Aufstände seit sieben Jahren. | |
Und wieder steigen die Menschen in die Boote. Und wieder sind es die | |
Jungen, die sich aufmachen, vor allem nach Italien. Allein 5.000 in den | |
letzten Monaten. So viele wie seit der Revolution nicht mehr. Damit stellen | |
Tunesier erstmals die größte Gruppe der Ankommenden, das zeigen Zahlen des | |
UNHCR. | |
Am Nachmittag in Marzougs Stammcafé. Die meisten Stühle sind noch leer. | |
Marzoug sitzt unter einem der Bastschirme, das übliche Gedeck aus Kaffee | |
und Kippe auf dem Tisch. Sein Begleiter ist ein junger Mann, Anfang | |
zwanzig, mit Kindergesicht und riesigen blauen Augen. Seinen Namen will er | |
nicht nennen. In den nächsten Tagen will er wieder los, rüber nach Italien. | |
Er will nicht, dass irgendjemand davon erfährt, nicht seine Eltern, nicht | |
die tunesischen Behörden. | |
Dreimal habe er schon versucht, Italien zu erreichen, erzählt er und zieht | |
lässig an seiner Zigarette, die ihn in diesem Moment eher jünger als älter | |
wirken lässt. Einmal sei er noch direkt am Strand verhaftet worden, einmal | |
sei das Boot kaputt gegangen. Sein letzter Versuch liegt rund zwei Monate | |
zurück. Was er von diesem Tag erzählt, hört sich an wie ein Krimi und ist | |
doch nur Alltag. | |
## Von Europa im Stich gelassen | |
Ein Mittwochmorgen Ende August, 84 Meilen südlich von Lampedusa. Ein | |
blau-weißer Fischkutter dümpelt ruhig über die kleinen Wellen. Die Sicht | |
ist gut, die Netze sind ausgeworfen. An Bord sind sechs Fischer aus Zarzis. | |
Gegen elf Uhr entdecken sie in der Ferne ein Boot aus weißem Hartplastik, | |
in dem normalerweise Angler sitzen. Etwa fünf Meter lang. An Bord: 14 | |
Männer zwischen 14 und 25 Jahren. Der Junge mit den blauen Augen ist einer | |
von ihnen. | |
Was dann passiert, lässt sich aus italienischen Gerichtsakten und den | |
Erzählungen des Jungen und der beteiligten Fischer zusammensetzen. | |
Die sechs Fischer verteilen Lebensmittel und bieten den Jungen an, sie | |
zurück an Land zu bringen. Einer der Jungen droht damit, sich anzuzünden, | |
sollte man ihn nach Tunesien zurückbringen. | |
Die Crew kontaktiert die italienische Küstenwache. Die Antwortet nicht, | |
stundenlang. Irgendwann entschließen sich die Fischer, das kleine Boot in | |
den nächsten sicheren Hafen zu schleppen, nach Lampedusa. 24 Meilen vor dem | |
Ziel nimmt ein Schiff des italienischen Zolls die Passagiere an Bord und | |
verhaftet die Fischer. Einen Monat lang sitzt die Crew in einem | |
Untersuchungsgefängnis auf Sizilien. Am 19. September ordnet ein | |
italienisches Gericht ihre umgehende Freilassung an. Der Vorwurf des | |
Menschenschmuggels wird fallen gelassen. | |
Das Boot der Fischer liegt seither in Italien. Für sie ein | |
Verdienstausfall. Der Kapitän Chamseddine Bourassine betritt seit dem | |
Vorfall nicht mehr den Hafen. Von Europa fühlt er sich im Stich gelassen. | |
Der Junge mit den blauen Augen sagt, niemand könne ihn daran hindern, nach | |
Europa zu kommen. | |
Nicht Frontex, nicht die tunesische Küstenwache, nicht die EU. „Ich sterbe | |
lieber auf dem Meer als hierzubleiben.“ | |
Alle seine Freunde seien schon drüben, sagt er, holt ein schwarzes | |
Mobiltelefon hervor und zeigt Bilder von jungen Männern, die in die Kamera | |
schauen. Wie Gewinner, die Daumen nach oben. Die Frisuren, die Klamotten | |
großstädtisch. Im Hintergrund die Straßen von Paris. | |
„Hier gibt es nichts für uns“, sagt er und schaut auf den Staub der | |
Nachbarschaft. Die letzten Jahren hat er als Hilfskraft auf dem Bau | |
verbracht. Er erzählt von denen, die in den Sommermonaten zurückkommen, mit | |
ihren Motorrädern und ihren neuen Häusern im Ort. Von den Familien, die | |
ihre Töchter denjenigen mitgeben, die im Besitz des begehrten | |
Europa-Tickets sind und den anderen, den Jungs wie ihm, denen nichts bleibt | |
als zu hoffen, es irgendwann auch mal auf die andere Seite zu schaffen. | |
Den Plan für Europa hat er bereits im Kopf, bis ins kleinste Detail. Mit | |
einem großen Lächeln im Gesicht erzählt er von seinem zukünftigen Job: | |
Pizzabäcker in Paris. Der Laden gehöre einem Freund, sagt er. Seinen Lohn, | |
seine Ausgaben, und das Geld, das er seinen Eltern schicken will, hat er | |
bereits genau berechnet. Einen Schlafplatz hat er auch schon. Fehlt nur | |
noch die Überfahrt. | |
„Die Jungen träumen alle von Europa“, sagt Marzoug, der bisher still | |
zugehört hat. Diese Geschichte hört er nicht zum ersten Mal. Jeder in | |
Zarzis kennt sie. Manchmal geht sie gut aus, manchmal schlecht. | |
Marzoug erzählt von seinem vierzehnjährigen Neffen, den man vor ein paar | |
Wochen von einem kaputten Boot rettete. Von seinen Söhnen, 23 und 19 Jahre | |
alt, die seit fast zwei Jahren in Paris leben. Auch sie stiegen ins Boot. | |
„Ich wusste davon nichts“, sagt Marzoug, „nur meine Frau.“ Er lacht. Wie | |
über einen Dummenjungenstreich. | |
Erzählt er von seinen Söhnen, wird sein Gesicht weich. Einmal hat er die | |
beiden schon besucht, in Paris. In ihrem neuen Leben. „Sie sind | |
aufgeblüht“, sagt Marzoug. Den Drang, übers Meer zu verschwinden, kann er | |
verstehen. Dass seine Kinder, die seiner Freunde und Nachbarn für Europa | |
den Tod riskieren müssen, nicht. Dass seine Fischerkollegen verhaftet | |
werden, das auch nicht. „Die Grenze muss weg“, sagt Marzoug. Da ist er ganz | |
bestimmt. | |
Vor einigen Tagen hat die Stadt Zarzis ein Grundstück gekauft. Noch drei | |
Tote, dann ist der Friedhof der Unbekannten voll. Marzoug will auch aus | |
dieser Brache wieder einen Friedhof machen. | |
29 Dec 2018 | |
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