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# taz.de -- Zu Besuch bei Autor und Künstler Schuldt: „Ein Buch hat neun Leb…
> Schuldt ist Künstler und Schreibender. Zuletzt hat er vergangenen
> Hafenwelten ein enzyklopädisches Buch gewidmet. Ein Balkonbesuch in
> Hamburg.
Bild: „Die Leute wollen Pralinen schlürfen“: der Autor und Künstler Schul…
Hamburg taz | Schuldt sitzt auf seinem Balkon. Es ist ein sehr großer
Balkon, viele Menschen hätten darauf Platz. Aber Schuldt ist eher nicht so
der Fan. „Völlig spießig“, sagt er, und dass er ihn fast nie benutzt habe,
nur die Balkontür geöffnet, um zu lüften. „Oder ich bin mit rausgegangen,
wenn die Leute den Balkon sehen wollten, aber danach wollten sie ja wieder
rein.“ Er zeigt auf einen Tisch am anderen Ende: „Ich habe vor ein paar
Jahren versucht an diesem wunderbaren Marmortisch Zeitung zu lesen, was
aber sehr unpraktisch ist, weil sie einem wegfliegt.“
In New York, wo er 30 Jahre lang gelebt hat, da habe er eine Dachterrasse
gehabt und Tomaten, die in einer Badewanne wuchsen. Da habe er bereits
erfahren, dass man nicht im Freien arbeiten kann: „All die Fotos, die man
von russischen Autoren sieht, ein runder Tisch aus Brettern mit Rillen
dazwischen, weißlackiert, Datscha mit Garten drumherum, die
Schreibmaschine“, sagt er, „alles Propaganda!“ Und mit nun sehr fester
Stimme: „Man kann im Freien nicht schreiben!“ Es wehe doch alles weg, und
wir seien ja Troglodyten, Höhlenbewohner. Da „braucht man ein Dach, da muss
man in einer Schachtel sitzen“.
Schuldts neues Buch aber stiftet ja den Anlass, auf seinem Balkon zu
sitzen. Schuldt, Vorname: Herbert, der aber kaum mehr erwähnt wird, 1941 in
Hamburg geboren als Sohn eines Reeders, so ist zu erfahren. Ein
Schriftsteller, der einst mit Hubert Fichte um die Häuser zog und als
„Gelehrter voller Schalk“ [1][bezeichnet worden] ist, als „mad scientist�…
und „linguistischer Konstruktivist“. Später wurde er auch Radiomacher, da
zahlte das Radio noch vernünftig und wagte was. Auch Fotograf ist er und
[2][überhaupt bildender Künstler]: Neben Bazon Brock war Schuldt dabei, als
der später auch den Vornamen weglassende Friedrich Hundertwasser, ab 1959
dort Gastprofessor, die Hamburger Kunsthochschule mit einer nicht enden
wollenden auf- und absteigenden Linie zu verzieren begann. (Die Sache
endete im Zwist: Der Rektor drohte mit der Polizei, Hundertwasser brach
seine Aktion ab – und mit Hamburg gleich mit.)
Jetzt also hat Schuldt ein Buch geschrieben: „Hamburgische Schule des
Lebens und der Arbeit“, Untertitel: „Die vergehende Wahrheit“. Darin find…
sich auch eine Liste mit zum Hafen gehörigen Straßennamen: „Auf dem
Ebbschütt“, „Brisesteg“, „Auf der Verdrängung“ oder „Um die Bruch…
Davor eine Petition, ein emphatischer Aufruf an den Senat der Freien und
Hansestadt, doch bitte geeignete Namen für Hamburgs Straßen und Wege zu
wählen, geeignet im Sinne seiner Bewohner: Und sich nicht, wie in der
Hafencity, diesem neuen Stadtteil ohne Hafen, komplett zu verirren – mit
Bezeichnungen wie „Osakaallee“, „Magellan-Terrassen“ oder gar
„Überseeboulevard“. Die dort auch zu findende „Shanghaiallee heißt so�…
ätzt Schuldt, „weil dort kein Shanghai ist“.
Im Buch schreibt er ergänzend von „Jahren der Verflachung“. Was hat es auf
sich mit der? „Sie ist fertig geworden“, sagt Schuldt gutgelaunt. Er lehnt
sich zurück: „Mit Verflachung ist gemeint, dass die Wasserbecken
zugeschüttet wurden und die hafenwirtschaftlichen Gebäude, die man für die
Hafencity nicht gebrauchen konnte, abgerissen wurden. Was nach oben über
der Erde stand, war weg; was nach unten mit Wasser gefüllt war, war auch
weg.“ Und: „Ich habe mir einen Spaß daraus gemacht, das Wort Verflachung
wörtlich zu nehmen.“ So baggermäßig.
Ist Schuldt ein Hamburger Autor? Ist er nun wieder hier, nach den Jahren in
New York, davor auch in Paris und in England, wo er auf Französisch und
Englisch schrieb, und zuletzt in China? Oder macht er nur Zwischenstation?
Das müssten andere entscheiden: „Ich will Sie hier nicht im Regen stehen
lassen, aber ich kann dazu wirklich nichts sagen.“ Oder gerade mal so viel:
„Ich habe nicht umfassende, aber ausreichende Kenntnisse von Hamburg; ich
bin insoweit davon geprägt, als ich von hier bin.“
Er steht auf. „Ich hatte Ihnen leichtfertigerweise Kaffee versprochen“,
sagt er und geht ab. Kommt zurück und fragt: „Mit Milch oder ohne?“ Er
selbst nimmt Espressobohnen, eine Mischung aus 70 Prozent Milch und 30
Prozent Kaffee, das gehe einem nicht so auf den Magen, dafür werde man
davon satt. „Als ich in China Familie hatte, hatten wir eine Mikrowelle“,
erzählt er. Chinesen ohne Mikrowelle, das sei undenkbar. So wie es
undenkbar scheint, dass die Chinesen ohne zappelnde Neonröhren leben.
„Soweit ich weiß, gibt es Neonröhren kommerziell seit 1926, vorher kann es
also keine Chinesen gegeben haben“, lacht er. Und sagt im Weggehen: „Das
mit der alten Kultur ist alles Quatsch, ist alles ausgedacht.“ Er dreht
sich noch einmal um: „Möchten Sie auch ein gekochtes Ei?“
Der Kaffee steht auf dem Tisch, die Eier kühlen auf löffelbare Temperatur
herunter, im Toaster erwärmen sich zwei Brotscheiben. Ich solle gerne
zugreifen, sagt Schuldt und rührt in einer Schüssel Tomatenscheiben,
Avocado-Viertel und Zwiebelringe zusammen. Er würzt nach, entschlossen – es
wird wunderbar schmecken.
Ein Buch enthalte ja alles Mögliche, sagt Schuldt: „Ein Buch hat mindestens
neun Leben, und der Autor weiß es auch nicht so genau, wovon es handelt, es
geht ihn auch fast nichts an.“ Er wird kurz grundsätzlich: „Ich sehe Büch…
mehr als eine Art Raster, über das die Leute gehen, dann löst es Reaktionen
bei ihnen aus. Ich kann nicht voraussehen, was es ist, das es auslöst.“ Es
zeigt sich, dass er nicht allzu optimistisch ist, was das angeht: „Die
Mehrheit des potentiellen Publikums will keine Reaktion bei sich ausgelöst
haben.“ Schuldt setzt eine wohldosierte Pause: „Die Leute wollen Pralinen
schlürfen.“
Wir kommen kurz vom Pfad ab, essen, trinken Kaffee, sitzen in der Sonne.
Reden über Hamburg, also über das Hamburg von früher. Dass etwa morgens im
Radio, im Auftrag des Arbeitsamtes, mit sonor-amtlicher Stimme verkündet
wurde: Am Schuppen 56 werden 20 Schauerleute gebraucht – und dann fanden
sich dort 20 Schauerleute ein, zeigten ihre Papiere vor und wurden
eingewiesen, wenn nötig. Wer weiß das noch?
Die Leute wüssten ja heute kaum bis gar nicht mehr den Unterschied zwischen
einer Hafenfähre und einer Hafenbarkasse, klagt Schuldt: Letztere war nur
dafür gedacht, Hafenarbeiter von den Landungsbrücken rüber auf die
Hafenseite zu fahren. Sie machte gar nicht erst fest, drehte sofort wieder
ab, sobald der letzte von Bord war. 11.000 Hafenarbeiter und Schauerleute
gab es damals, das kann man bei Schuldt nachlesen.
Ist sein Buch mit all seinen Rückgriffen auf das Hafenleben ein Lob der
Handarbeit? Schuldt wiegt den Kopf: „Irgendwo habe ich geschrieben, es
lohnt nicht mehr, die Leute bei der Arbeit zu fotografieren, weil
mittlerweile alle am Computer sitzen.“ Früher hätten die Berufe allein
schon eigenartig gefertigte Werkzeuge verlangt: „Der eine stand, der
nächste kniete, der dritte saß in einer Lederschürze hinter einem Amboss,
und alle hatten ihre eigentümlichen Bewegungen und Handgriffe“, führt er
aus – aber sie hatten auch „ihre eigentümlichen Gelenkkrankheiten, heute
gibt es nur noch das Karpaltunnelsyndrom vom Tippen“, sagt er. „Es ist
furchtbar langweilig geworden.“
„Jemand, der das Buch nicht gelesen hat, hat mich gefragt, ob ich dafür
monatelang in Archiven gesessen hätte“, sagt er. Und schüttelt den Kopf,
als wäre er immer noch erstaunt. „Da steht nur drin, was ich weiß. Es geht
nur um das, was ich sowieso weiß.“ Wir beugen uns über seine Liste mit
Vorschlägen für bessere Straßennamen: Die hat er irgendwann mal begonnen,
mehr als eine Seite war nicht zusammengekommen, unter „Gedichte“
rubriziert, unter „Vermischtes“. Diese eine Seite versprach Schuldt dann
jemandem, für eine Anthologie. Aber da hätte es eines erklärenden Vorwortes
bedurft: Wie soll man das denn sonst verstehen können? Stattdessen schrieb
Schuldt lieber weitere Straßennamen auf – das mache viel mehr Spaß, als
sich zu erklären –, ordnete sie wesensverwandten Künstlerinnen und
Künstlern zu. Und machte sich dann auf alphabetische Weise daran, neue und
alte, mögliche und wahrscheinliche Hafenstraßennamen beschreibend mit Leben
zu füllen oder zum Leben wieder zu erwecken, von „Achtern Diek“ über
„Jakobs Leiter“ bis „Zum Festmachertreff“.
„Ich habe mich gewundert, was mir alles einfällt und auch wie viel
Plattdeutsch aus mir herauskam, was ich nie konnte, also nie wusste, was
ich konnte“, erzählt er. Im Nachhinein gefällt ihm, wie dieses fremde
Eigene nun, im Werk verarbeitet, etwas von Spracherfindung hat und
seinetwegen auch von Heimatverbundenheit.
Straßennamen als Quellen geschichtlich-atmosphärischer Erkundungen? „Was
ich an Wien gerne habe, das sind die Straßennamen“, sagt er. „Die sind
ziemlich gut.“ Aber auch die aus Hamburg, die realen, die er der erwähnten
Petition folgend aufzählt, seien ja ganz manierlich: frei von Angeberei.
„Sie sind welthaltig, aber nicht weltläufig“, sagt er. Tippt sich an den
Kopf: „Das hätte ich mal so reinschreiben sollen!“
4 Jun 2019
## LINKS
[1] http://www.literaturfestival.com/autoren/autoren-2001/schuldt
[2] /!757930/
## AUTOREN
Frank Keil
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Literatur
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