# taz.de -- Herbert Diercks über NS-Geschichte: „Geschichte hat mich nicht i… | |
> Seit mehr als 30 Jahren erzählt der Historiker Diercks von der | |
> NS-Geschichte Hamburgs. Ein Gespräch über authentische Orte – und was | |
> noch verschwiegen wird. | |
Bild: Immer noch fasziniert davon, Geschichte zu entdecken und zu vermitteln: H… | |
taz: Herr Diercks, können Sie sich an den ersten Stadtrundgang erinnern, an | |
dem Sie teilgenommen haben? | |
Herbert Diercks: Es war ein Rundgang auf den Spuren des [1][Altonaer | |
Blutsonntags]. Mit Zeitzeugen und ich als Teilnehmer – sehr spannend. Der | |
Blutsonntag gehörte zu den vergessenen Geschichten und war in Hamburg kein | |
Thema. Wir gingen durch die Altstadt von Altona, die ja im Krieg weitgehend | |
zerbombt worden war, landeten in Parkanlagen, versuchten anhand von | |
historischen Karten zu rekonstruieren, was wo passiert war. Als ich 1975 | |
nach Hamburg kam, um mein Studium aufzunehmen, habe ich mich sofort für die | |
unterschiedlichen Geschichten der Stadtteile interessiert. Wenn ich Besuch | |
bekam, habe ich den durch die Stadtteile geschleppt. Dann ging es runter | |
ins Souterrain zu den Arbeiterwohnungen. | |
Wo kommen Sie ursprünglich her? | |
Geboren und aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in Aukrug, also in | |
Schleswig-Holstein. Meine Eltern hatten dort einen Minibauernhof, den sie | |
später aufgeben mussten. Wir sind nach Nortorf gezogen und ich bin in | |
Neumünster zur Schule gegangen: Es gab dort drei Schulen und eine war die | |
gute – ein Gymnasium für Mädchen und Jungen, auf das ich nach meinem | |
Realschulabschluss wechseln konnte. Es war ein kleiner Umweg, aber | |
rückblickend für mich genau richtig. | |
War früh klar, dass die Geschichte Ihre Leidenschaft werden würde? | |
Die erste Idee war, Sozialpädagogik zu studieren, aber ich habe in Kiel | |
keinen Studienplatz bekommen und war auf der Suche nach einer Alternative. | |
Schon als Jugendlicher hatte ich einen persönlichen Kontakt zu einem | |
ehemaligen Neuengamme-Häftling, zu [2][Fritz Bringmann] – der mich nach | |
Neuengamme mitgenommen und mir dort alles gezeigt hat. Über ihn habe ich an | |
Aktionen der Internationalen Lagergemeinschaft teilgenommen, fing an, über | |
die Zeit des Nationalsozialismus nachzudenken und mich überhaupt mit | |
Geschichte zu beschäftigen, denn nun fand ich Geschichte sehr spannend. In | |
der Schule hat mich Geschichte überhaupt nicht interessiert. | |
Da öffnete sich überhaupt eine neue Welt? | |
1973 habe ich Abitur gemacht, also den Drive der 68er-Bewegung mitbekommen. | |
Wir hatten an der Schule noch Altnazis, auch sonst gab es die überall. Und | |
dann war da dieser Aufbruch, diese Befreiung. Ich war in einer Clique und | |
klar haben wir Jungs den Kriegsdienst verweigert – mit der Bundeswehr | |
wollten wir selbstverständlich nichts zu tun haben. Wir haben dann alles | |
kennengelernt: Prüfungskammer, Prüfungsausschuss, einer von uns musste bis | |
vor das Verwaltungsgericht Schleswig. Anschließend haben wir Beratung für | |
Kriegsdienstverweigerer gemacht, wir kannten uns jetzt ja aus. Sich zu | |
engagieren, gleichzeitig Wissen anzueignen, sich daraufhin noch mehr zu | |
engagieren, das war eine wichtige Erfahrung für eine ganze Generation – die | |
jetzt im Rentenalter ist. Oder ein anderes Beispiel: Ich habe noch in | |
Nortorf eine Gruppe der VVN mitgegründet – der „[3][Vereinigung der | |
Verfolgten des Naziregimes]“. Die bestand ausschließlich aus Jugendlichen, | |
und niemand hatte in der Verwandtschaft jemanden, der verfolgt worden war. | |
Aber das war egal. Für uns war das spannend – und diese Arbeit habe ich | |
dann in Hamburg fortgesetzt. | |
Geschichte war dabei immer politisch grundiert? | |
Ich habe sehr früh, noch als Student, ein Büchlein geschrieben: | |
„[4][Naziterror und Widerstand in Elmshorn]“. Dabei habe ich nie in meinem | |
Leben in Elmshorn und Umgebung gelebt! Aber Elmshorn war einst eine | |
Industriestadt, wichtig für die Lederindustrie und dort hat es in der | |
NS-Zeit einen relativ starken Widerstand gegeben. Die alten Leute haben | |
erzählt und erzählt und ich so ganz locker: „Das wollen wir mal | |
aufschreiben, das machen wir zu einem Buch“. | |
Wie kam es zu den Führungen, die Sie angeboten haben? | |
Ich habe mir von Elmshorn einen Stadtplan besorgt, geschaut, wie die Stadt | |
überhaupt aussieht – und dann bin ich alles mit dem Fahrrad abgefahren und | |
habe so eine „Antifaschistische Fahrradtour durch Elmshorn“ konzipiert. Und | |
schnell habe ich gemerkt, wie viel Spaß es macht, das, was ich weiß, | |
anderen weiterzugeben. | |
Wie wichtig ist bei Ihren Führungen der berühmte „authentische Ort“? | |
Einen Stolperstein kann man nur dort verlegen, wo ein Mensch auch gewohnt | |
hat, da ist der authentische Ort sehr wichtig. Wenn ich eine | |
Stadtteilführung mache, sind viele Leute da, die sich für den Stadtteil | |
interessieren. Auch da ist der konkrete, authentische Ort wichtig. Wenn | |
sich nun jemand für die Hafengeschichte interessiert, dann ist es | |
tatsächlich wichtig, am [5][Dessauer Ufer] am Speicher G vor Ort zu | |
erzählen: „In genau diesem Gebäude waren von 1944 an 1500 jüdische Frauen | |
aus Auschwitz, die dem KZ Neuengamme unterstellt waren, untergebracht.“ Das | |
kann ich nicht an der Elbphilharmonie erzählen. Da brauche ich den | |
authentischen Ort. Zugleich tauchen, wenn ich vor diesem Gebäude stehe, es | |
sehe und erzähle, Fragen auf: In welchem baulichen Zustand ist es heute? | |
Wie kann man dieses Gebäude nutzen, um Geschichte zu vermitteln? Beim | |
Speicher G kommt noch hinzu: Wenn ich gut drauf bin, erzähle ich noch, dass | |
hier eigentlich das Stadion für die Hamburger Olympiade gebaut werden | |
sollte … | |
Die authentischen Orte werden ja weniger … | |
Das ist das Problem im Hafen. Der hat sich in den 30 Jahren, in denen ich | |
dort unterwegs bin, komplett verändert. Wir – ich mache diese Führungen ja | |
nicht allein – sind in den ersten Jahren regelmäßig in den historischen | |
[6][Vulkan-Hafen] hineingefahren, der der Hafen der Vulkan-Werft war, nach | |
1945 der Hafen der HDW. An der Stirnseite war lange ein U-Boot-Bunker aus | |
dem Zweiten Weltkrieg, für den U-Boot-Bau. Für uns ein ganz wichtiger, | |
authentischer Ort, um dort über Kriegsproduktion zu erzählen. | |
Der Bunker ist nun weg … | |
… das Hafenbecken ist zugeschüttet worden und dort lagern jetzt Container. | |
Oder wir sind regelmäßig in den [7][Baakenhafen] hineingefahren, konnten | |
erzählen, dass in den umliegenden Hafenschuppen zum einem das | |
Kriegsmaterial lagerte, das für die Legion Condor nach Spanien verschifft | |
wurde, zum anderen hier später das sogenannte Judengut untergebracht war. | |
Wir fahren weiterhin dort hinein, die Hafenschuppen sind verschwunden, und | |
wir erzählen diese Geschichten – aber inzwischen blicken wir von dort aus | |
auf die Hafencity-Universität und auf Freiflächen und wir müssen die | |
Fantasie aktivieren: Wir sind sozusagen an einem authentischen Ort und man | |
sieht zugleich die Veränderungen. | |
Was hat sich in den 30 Jahren, in denen Sie nun Führungen und Rundgänge | |
anbieten, generell geändert? | |
Es ist eine neue Generation herangewachsen, die einen ganz anderen Blick | |
auf Geschichte wirft. Sie schaut mit Abstand auf das Vergangene – zugleich | |
ist die Gesellschaft bunter und schöner geworden. Ich freue mich immer | |
wieder über die Mischung an Nationalitäten bei uns im Haus oder bei uns im | |
Stadtteil. Außerdem ist Erinnerungsarbeit heute akzeptiert, während wir | |
damals noch Tabubrüche begehen mussten, um die es heftige | |
Auseinandersetzungen gab. Es ist, von Ausnahmen abgesehen, ein | |
gesellschaftlicher Konsens, dass über NS-Geschichte informiert wird. | |
Alles gut also? | |
Ich schaue durchaus selbstkritisch auf meine eigenen Veranstaltungen, und | |
mir ist ein wenig unbehaglich, dass sich heute jeder Reaktionär vor einen | |
Stolperstein stellen und Krokodilstränen vergießen kann, über das schlimme | |
Schicksal, das jemand erlitten hat – um im nächsten Moment zu | |
rechtfertigen, dass Flüchtlinge nicht ins Land gelassen werden und auf | |
ihrer Flucht ertrinken. Das passt meines Erachtens nicht zusammen. Die | |
Frage ist: Wie kann ich Aufklärung leisten, sodass es auch zum Nachdenken | |
über die Verfasstheit unserer Gesellschaft heute führt? Es gibt ein | |
Phänomen, das mich beschäftigt: Menschen, die nicht informiert sind, sagen | |
am ehesten: „Wir wissen doch schon alles, lass uns mit Geschichte in Ruhe.“ | |
Und Leute, die informiert sind, sagen: „Gib uns noch mehr Informationen.“ | |
Die, die schon mal in Neuengamme waren und sich interessieren, kommen immer | |
wieder; aber ein Großteil der Hamburger war noch nie dort. | |
Ich habe gerade Ihre Alsterkanalfahrt mitgemacht, da schippert man sehr | |
entspannt über die Alster und schaut auf die schnieken Villen … | |
Wo die saßen, die damals die Nähe zur NSDAP suchten, die Geld gaben, Hitler | |
zu Vorträgen einluden – und die es nach 1945 vermochten, jede Beteiligung | |
zu verschleiern, sodass bis heute kaum darüber gesprochen wird. Da kann in | |
Hamburg noch viel aufgearbeitet werden. | |
Beispiele? | |
Ich finde es nahezu unfassbar, dass es keine wissenschaftliche Darstellung | |
der Geschichte der Hapag-Lloyd für die Zeit der Weimarer Republik und des | |
Nationalsozialismus gibt – damals der weltgrößte Schifffahrtskonzern, der | |
früh die Nazis unterstützte. Auch zur Geschichte des Alsterhauses, das | |
einst einer jüdischen Familie gehörte, gibt es nichts Vernünftiges. | |
Was hat sich bei Ihnen persönlich geändert? | |
Ich bin älter geworden! Und ich schaue heute mit mehr Distanz auf die | |
Geschichte, versuche, alle Facetten aufzugreifen. Geschichte ist früher | |
leicht glattgebügelt worden, aber sie ist voller Widersprüche. Und: Ich | |
mache Führungen und Rundgänge weiterhin sehr gerne. Dabei gehe ich heute | |
mehr spielerisch damit um: Ich biete etwa demnächst eine Paddeltour durch | |
die Alsterkanäle an. Mich fasziniert es also weiterhin, selbst Geschichte | |
zu entdecken – und davon zu erzählen. Ich denke immer noch: „Hey, was gibt | |
es alles zu entdecken!“ So gesehen bin ich meinem Aufbruch in den | |
1970er-Jahren einigermaßen treu geblieben. | |
Sind Sie in den 30 Jahren nun Hamburger geworden? | |
Nein! Ich lebe als Kind vom Lande mit Freuden in Hamburg, aber ich bin weit | |
davon entfernt, Hamburg als schönste Stadt der Welt zu bezeichnen. Ich | |
weiß, dass dieses Bild, das heute noch in den Köpfen der Hanseaten steckt, | |
von wegen Hamburg ist weltoffen und liberal, ein Selbstbetrug ist. | |
Hamburg hat Sie also nicht vereinnahmen können … | |
Ich war neulich das erste Mal in Leipzig, eine tolle Stadt. Ich habe | |
Industriebrachen kennengelernt, die jetzt für Kunstprojekte benutzt werden | |
sollen – spannend! Wäre ich in einem Alter, wo ich gucken müsste, wo ich | |
studiere – da käme ganz klar auch Leipzig infrage. | |
19 May 2019 | |
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