# taz.de -- Landtagswahl in Bremen: Last Land Standing | |
> Am 26. Mai wird in Bremen gewählt. Verliert die SPD, ginge eine fast | |
> 100-jährige Tradition zu Ende. Trotz schlechter Zahlen zeigt sie sich | |
> gelassen. | |
Bild: Carsten Sieling: der Mann für komplizierte Sachen mit sehr viel Geld und… | |
BREMEN taz | In der Luft liegt ein Hauch Hefe-Weizen und die Laune ist gut. | |
Bürgermeister Carsten Sieling kommt nur langsam durch die Reihen nach | |
vorne, schüttelt eine Hand nach der anderen, schaut jedem in die Augen, | |
hört jedem zu, sagt etwas, wartet auf die Reaktion. Draußen dräuen Wolken, | |
der Wind frischt auf. Von hier, hinter dem Panoramafenster des Hotels | |
Strandlust, lässt sich der Ausblick auf die Weserfähre im Abendlicht | |
genießen, die sich gerade anschickt, den unruhigen Fluss zu queren. Auf dem | |
Parteitag des SPD-Unterbezirks Bremen-Nord, dem kleinsten der drei Bremer | |
Unterbezirke, könnte man vergessen, dass die Partei gerade ihre tiefste | |
Krise seit 1949 durchlebt. | |
Happy ist man, dass sich gerade Bremen-Nords neue Juso-Gruppe gebildet und | |
vorgestellt hat, nachdem die letzten Jahre ein einzelner Jungsozialist hier | |
die Stellung gehalten hatte. Glücklich ist man, dass der Bürgermeister den | |
weiten Weg hier raus gemacht hat, 24 Kilometer hin, 24 zurück, nach einem | |
arbeitsreichen Montag, „aber so ist Sieling, der ist einer, wenn man den | |
einlädt, dann kommt er“, sagt die Unterbezirksvorsitzende Ute | |
Reimers-Bruns. Unverdrossen wird geklatscht für Sieling, auch wenn er sich | |
am Ende seiner Stegreifrede doch noch verhaspelt, als er euphorisiert einen | |
Ausblick auf die Abschlusskundgebung der SPD-Europakampagne gibt. | |
Die steigt nämlich auf dem berühmten Markt vor Roland und Rathaus, also | |
mitten in Bremen, wo ja am 26. Mai auch gewählt wird, eine neue | |
Bürgerschaft – so heißt hier der Landtag. Womit sich dann auch seine, | |
Sielings Zukunft entscheidet. Schließlich ist er der Bürgermeister. | |
Er redet schneller, lauter, zählt die Parteipromis auf, die sich angesagt | |
haben, „und ich weiß gar nicht, wer da alles kommt“, ruft er, „die | |
Anmeldungen kommen gerade rein, und dann wird das im ,heute journal' kommen | |
und in der ,Tagesschau' und in den Nachrichten und das ist gut, denn auch | |
die Bremer sehen ja Nachrichten im Fernsehen“, so sieht’s nämlich aus. „… | |
am Sonntag wollen wir dann die Ernte einfahren!“, Applaus, Applaus, | |
Applaus. | |
## „Rhetorisch ist er ja nicht so“ | |
Bremen ist, Länderstatus hin oder her, Provinz. Und Bremen-Nord ist Provinz | |
in der Provinz: Touristen auf der Suche nach den Stadtmusikanten verirren | |
sich hierher eher nicht, auch wenn es ein apartes Barockschlösschen gibt, | |
üppige Kapitänsvillen und eine angenehme Uferpromenade. Von der City | |
abgeschnitten, prägen heruntergekommene Wohnsilos, Werften und | |
Industriebrachen das Bild. Gigantisch ist das kontaminierte Gelände der | |
Baumwollkämmerei, der größten weltweit. Vor zehn Jahren wurde sie | |
stillgelegt. | |
„Rhetorisch ist er ja nicht so“, sagt ein Unterbezirksparteitagsdelegierter | |
über den Carsten, und ja, „am Anfang war ich auch sehr kritisch“. | |
Schließlich war Sieling kein Kandidat gewesen, sondern nur ins Amt | |
gekommen, weil sein Vorgänger Jens Böhrnsen am Tag nach der Wahl seinen | |
Abschied erklärte. „Aber der ist richtig gewachsen.“ Und: „Er ist gut im | |
direkten Gespräch.“ | |
Draußen muss die Weser-Fähre kämpfen. Die Böen wehen wuchtig aus Nordwest | |
und die Gezeitenkräfte verstärken den Strom, fast wirkt es, als sei das | |
Schiff mitten in der Fahrrinne stecken geblieben, aber es arbeitet sich | |
voran, unbeirrbar, unbeirrt. | |
Ute Reimers-Bruns ist seit 2018 Unterbezirksvorsitzende, und ja, räumt sie | |
ein, das vergangene Jahr, sei „eine schwierige Phase“ gewesen. Als die CDU | |
im Frühjahr mit Carsten Meyer-Heder einen erfolgreichen Firmengründer als | |
Spitzenkandidaten präsentiert hatte, der bis dahin durch keinerlei | |
politische Aktivitäten aufgefallen war, da habe sich in der Partei schon so | |
die Stimmung breitgemacht: au weia, was sollen wir dem bloß | |
entgegenstellen. „Schließlich ist Sieling nicht der große Show-Mann.“ Doc… | |
sagt Reimers-Bruns: „Es war auch ein bisschen Angst dabei.“ Aber die sei | |
passé: Der CDU-Mann „stellt sich das alles ein bisschen zu einfach vor mit | |
dem Regieren“, findet sie. | |
## Hohes Wirtschaftswachstum und doch hohe Armut | |
Umgekehrt habe man dadurch einen besseren Blick auf die eigene Bilanz, auf | |
das, „was geschafft worden ist“: An der Neuregelung der | |
Bund-Länder-Finanzbeziehungen, die Bremen jährlich um die 500 Millionen | |
Euro Mehreinnahmen beschert, hat Sieling intensiv mitgewirkt. „Bremen hat | |
dadurch jetzt eine Perspektive“, sagt sie. Das kann sich Sieling als | |
Verdienst anrechnen. | |
2015/16 glänzte Bremen mit der schnellen Unterbringung von Geflüchteten. In | |
den vergangenen zwei Jahren verzeichnete die Stadt zudem das höchste | |
Wirtschaftswachstum. Dennoch sehen Bildungsmonitore Bremen trotz großer | |
Anstrengungen seit Langem auf den hintersten Rängen. Und die wachsende | |
soziale Spaltung – jedes dritte Kind ist hier von Armut bedroht, | |
deutschlandweiter Rekord –, die konnte die SPD auch nicht aufhalten. Dabei | |
wird die Partei auch als Grund für den starken sozialen Zusammenhalt unter | |
den Bürgerinnen gesehen, der den Bremern immer wieder attestiert wird. Eine | |
Kultur von Solidarität und Toleranz, die für viele auch als | |
sozialdemokratischer Wert gilt. | |
Die Tapete im Bürgermeisterzimmer ist aus grünlich-dunklem Leder, | |
golddurchwirkt, exotische Tiere turnen durch florale Girlanden, blühender | |
Jugendstil. Heinrich Vogeler hat sie entworfen, einer der bedeutendsten | |
Künstler, die in Bremen je geboren wurden, und ein glühender Sozialist. Die | |
Tür steht weit offen, Carsten Sieling springt von seinem Schreibtisch auf, | |
die Begrüßung ist herzlich, als hätte er nur auf den Besucher gewartet, | |
dabei war er den ganzen Tag schon unterwegs: „Ich komm’ grad aus Hamburg | |
von der MPK“, sagt er, Ministerpräsidentenkonferenz. Er müsse schließlich | |
bei allem Wahlkampf auch noch ein wenig regieren, flachst er, „anders als | |
andere“. | |
Schmal, nicht besonders groß, dichtes Haar, Frisur unauffällig, Hemd frisch | |
gebügelt, ganz leichter Überbiss, und hinter der Brille wache, rege Augen, | |
in denen ein kleiner Schalk blitzt – wenn eine Kinderbuchillustratorin | |
einen pfiffigen Jungen zeichnen soll, Typ Klassenbester, aber trotzdem | |
nett, dann kommt meistens ein Phantombild von Carsten Sieling raus. | |
## „kein Steigbügelhalter eines CDU-Bürgermeisters“ | |
Dabei ist der Mann Anfang Januar 60 geworden und seit vier Jahren | |
Bürgermeister von Bremen und Präsident des Senats, steht also an der Spitze | |
der Landesregierung, wobei die, Bremer Besonderheit, als Kollegialorgan | |
funktioniert: Es gibt keinen Chef mit Richtlinienkompetenz, nur einen | |
Ersten unter Gleichen. Und das ist eben aktuell Carsten Sieling, der siebte | |
Amtsinhaber seit 1946. Wie seine sechs Vorgänger hat auch Sieling ein | |
SPD-Parteibuch. Mit einer Ausnahme haben Sozialdemokraten in diesem Land | |
noch jede freie Wahl gewonnen, seit 100 Jahren geht das so. Eine stolze | |
Tradition. | |
Wer so etwas abreißen lässt, ist danach erledigt in der Partei, egal, wie | |
solidarisch die sich sonst gibt und ob er was dafür kann – oder alles | |
richtig gemacht hat. Der taugt nur noch zur traurigen Figur. Dafür gibt’s | |
Beispiele. Als in Hamburg Henning Voscherau 1997 hingeschmissen hatte, weil | |
ihm das SPD-Ergebnis von 36,2 Prozent zu popelig schien, war Ortwin Runde | |
eingesprungen, der linke Sozialdemokrat und anerkannte Finanzpolitiker. | |
Vier Jahre später eroberte dann Ole von Beust das Rathaus auf den Schultern | |
der Rechtspopulisten um Ronald Schill, und die 40-jährige SPD-Herrschaft | |
war vorbei. Runde wechselte in den Bundestag. Sein Abgeordnetendasein muss | |
als eher still beschrieben werden. | |
Klar, 2001 ist nicht 2019. Die Parteienlandschaft sah anders aus, ohne AfD | |
und Linkspartei. Dass Sieling, ebenfalls Finanzpolitiker mit klar linkem | |
Profil, vor vier Jahren genau wie Runde eingesprungen ist, als Jens | |
Böhrnsen die 32,8 Prozent für die SPD zu popelig fand – ist nichts als ein | |
dummer Zufall. Bremen ist nicht Hamburg. Und die Bündnisoptionen sind auch | |
nicht zu vergleichen: Mit der AfD will wirklich keiner spielen, auch tut | |
die FDP alles, um inkompatibel zu bleiben. Eine große Koalition unter | |
SPD-Führung lehnt die CDU ab. Und Schwarz-Rot kommt für die SPD nicht in | |
Frage: „Wir werden uns nicht zum Steigbügelhalter eines CDU-Bürgermeisters | |
machen“, stellt die Landesvorsitzende Sascha Karolin Aulepp klar. | |
Sieling hatte schon dafür geworben über Rot-Grün-Rot nachzudenken, da saß | |
er noch mit dem Bremer Direktmandat im Bundestag. In der Fraktion dort war | |
er schnell zum Mann für komplizierte Sachen mit sehr viel Geld und ohne | |
Strahlkraft geworden: Finanzmarktstabilisierung und so ’n Tünnkram, einer, | |
der sich akribisch einarbeitet und gut mit Zahlen ist. | |
## Politik ist kein Abenteuer, nicht für Sieling | |
Seine eigenen Zahlen sind, historisch betrachtet, beschissen, auch wenn sie | |
im Bundesvergleich golden scheinen: Mit 25 Prozent sieht infratest dimap | |
die Sozen derzeit knapp hinter der Union mit 26 Prozent, ein Drama für | |
Bremer Verhältnisse. Aber hier im Rathaus wirkt Sieling weder unruhig noch | |
panisch, eher ein bisschen aufgekratzt und bester Dinge. Und wie immer hält | |
er sich nicht lange mit markigen Parolen auf, sondern versucht das Gespräch | |
freundlich, aber bestimmt von einer emotionalen Ebene wegzubringen. | |
Was sympathisch sein mag, aber eben nicht so werbewirksam: Hat er Visionen | |
für Bremen? „Natürlich gibt es eine Vision für Bremen“, sagt Carsten | |
Sieling, nämlich, man habe ja jetzt eine „große Zahl Arbeitsplätze“ dank | |
der „guten wirtschaftlichen Entwicklung“ gewonnen, und – Achtung ,jetzt | |
kommt’s – „das müssen wir ausbauen. Wir müssen in einigen Bereichen | |
besondere Anstrengungen unternehmen“, sagt Sieling. Arbeit, Anstrengung, | |
müssen, Verantwortung: Politik ist kein Abenteuer, nicht für Sieling | |
jedenfalls. Politik ist Arbeit. Und Sieling, das ist klar, wird sie | |
weiterhin gewissenhaft erledigen, trotz Gegenwind, trotz Widerstand, | |
unbeirrbar. Unbeirrt. | |
13 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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