# taz.de -- Subversive Medienkunst: Labor für produktive Verstörung | |
> Das European Media Art Festival in Osnabrück beschäftigt sich dieses Jahr | |
> unterm Titel „Wild Grammar“ mit dem Aufbegehren. | |
Bild: Performatives Manifest einer möglichen Jugendbewegung: „Das radikale P… | |
OSNABRÜCK taz | Die Verstörung beginnt schon beim Titel. Phase eins: Die | |
verschlungenen Schnörkel seiner Typografie erfordern Dechiffrierkenntnisse. | |
Phase zwei: Ob er nun wirklich „Wild Wild Grammar“ lautet oder doch nur ein | |
„Wild“ enthält, verliert sich in rätselhaftem Dunkel. Skurril ist das, | |
bizarr. Zwei Hürden, die genommen werden wollen, bevor alles beginnt. Zwei | |
Hürden, die natürlich kein Zufall sind, sondern eine Initiation. | |
Mit Verstörungen kennt sich das Osnabrücker [1][European Media Art Festival | |
(EMAF)] aus. Seit jeher ist es ein Labor, in dem so ziemlich alles | |
passieren kann, nur eines nicht: das Erwartbare, das Alltägliche, das | |
Gewöhnliche. Ein Labor ist für Experimente da, und das EMAF experimentiert | |
mit visueller Kunst, auf internationalem Niveau. | |
Dieser Tage geht mit „Wild Wild Grammar“ (oder eben einem „Wild“ wenige… | |
Ausgabe 32 des Festivals an den Start. Und wer EMAF-Urgestein Hermann | |
Nöring fragt, einen seiner drei Leiter, was ihm an ihr, ganz persönlich, | |
besonders ans Herz gewachsen ist, trifft auf Anna Witt. | |
Ihre Video-Installation [2][„Das Radikale Empathiachat“] (sic!) zeigt eine | |
Gruppe 18- bis 22-Jähriger, die in Leipzig das performative Manifest einer | |
möglichen Jugendbewegung plant, im öffentlichen Raum, sehr körperlich. | |
„Eine eher unauffällige, stille Arbeit“, sagt Nöring. „Aber sie hat | |
wirklich Tiefe.“ Es geht um die Unwirtlichkeit unserer Städte, um | |
gesellschaftliche Utopien, um ein Aufbegehren gegen die Leblosigkeit. | |
## Alles außer Aktivismus | |
Aufbegehren. Darum geht es in „Wild (Wild) Grammar“ oft. „Widerständiges | |
Handeln gegen den Status Quo“ stellt das Festival in Aussicht, | |
„Gegenreden“, „versuchte Befreiungsschläge“, „subversives Potenzial�… | |
Aktivismus, erklärt Katrin Mundt, seit 2018 Leiterin des Bereichs „Film & | |
Video“, findet jedoch nicht statt: „Es geht uns darum, eindimensionale | |
Weltbilder infrage zu stellen, eine künstlerische Sprache zu finden, die | |
der Vereinfachung und Verfestigung unserer Sicht auf die Wirklichkeit | |
entgegentritt, die für neue Formen der Erfahrbarkeit von Welt plädiert.“ | |
Das setzt ein unerschrockenes Publikum voraus. Und offen für Neues, für | |
Wagnisse, offen insbesondere für Intellektualität, ist das EMAF-Publikum | |
seit jeher. 14.000 Besucher kamen 2018 zu Ausgabe 31, von vor Ort, aus ganz | |
Deutschland, aus der ganzen Welt. Mit dieser Strahlkraft ist das EMAF einer | |
der besonders hellen Leuchttürme der Osnabrücker Kulturlandschaft. | |
Wer das EMAF kennt, fühlt sich auch diesmal sofort im Programm zu Hause: | |
Knapp eine Woche Festival, hoch kommunikativ, mit einer | |
Veranstaltungsfülle, die fast übermenschliche Ausdauer verlangt. Rund einen | |
Monat Ausstellung, als ruhiger Ausklang. Es gibt, wie immer, ein | |
Filmprogramm und eine Konferenz. Es gibt eine Klubnacht. Es gibt Workshops | |
und Preisverleihungen. Es gibt Dutzende Installationen, Performances. Und | |
dass die Sichtung der 2.200 Einreichungen Monate in Anspruch nahm, glaubt | |
man gern. | |
Auf den Performances liegt diesmal ein ganz besonderer Fokus, und das soll, | |
verrät Hermann Nöring, demnächst auch noch wachsen. Da ist zum Beispiel das | |
Kollektiv „Make it happen again“, das eine Aktion von Tony Conrad | |
nachstellt, von 1974: [3][„7360 Sukiyaki“]. Filmmaterial wird in Stücke | |
geschnitten und gekocht, ganz real. Das Ergebnis wird auf die Leinwand | |
geworfen, ganz real. „Wir hoffen natürlich“, sagt Nöring schmunzelnd, „… | |
ein bisschen was da oben dann auch länger hängen bleibt.“ Und Mundt | |
erklärt: „Auch hier geht es darum, etwas auf links zu drehen.“ | |
## Jeder singt für sich allein | |
Besonders herausfordernd, und zugleich besonders spielerisch: | |
[4][„Koorvorming“] von Jo Caimo. Eine Performance, die das Publikum | |
einbezieht. Ohne einander zu sehen, ohne einander zu hören, formen die | |
Teilnehmer einen Chor. Caimo gibt über Kopfhörer Singanweisungen, jeder | |
singt für sich allein, und vom Ergebnis gibt es für alle eine CD. „Das EMAF | |
ist ein Spagat“, sagt Hermann Nöring. „Einerweits wollen wir nicht | |
antikomplex sein, andererseits wollen wir die erreichen, die du mit Kunst | |
vielleicht sonst nicht erreichst.“ | |
Ja, das „European Media Arts“-Festival verstört. Aber diese Verstörung ist | |
produktiv. Etwa in der kinetischen Installation [5][„Flexible | |
Erwartungsauffälligkeit“] von Catharina Szonn. Ein monströse, raumgreifende | |
Maschine, das mechanische Speichermagazin einer Textilwäscherei, lässt | |
Objekte rotieren – Absperrketten, Handschuhe … Aktenvernichter schreddern | |
ihnen Textbotschaften in den Weg. Alles verhakt sich, zerrt aneinander. Das | |
Bild einer „gesellschaftlichen Entwicklung, in der sich das Individuum | |
stets flexibel und wandelbar darstellen soll“. | |
Herausfordernd auch die Installation [6][„4. Halbzeit“] des Berliner | |
Kollektivs Wermke/Leinkauf. Zwei LED-Leinwände stehen sich gegenüber, auf | |
ihnen grobkörniges, schnellschnittiges Geschehen, kaum erkennbar. Dazu sind | |
Fußball-Fangesänge zu hören. Es geht um die audiovisuelle | |
Widerstandsstrategie der „Ultras“, die längst weit hinausreicht über die | |
Stadien, mitten hinein in den politischen Protest. | |
Grammar? Ja, es geht hier um Sprache. Aber es ist eine Sprache im | |
erweiterten Sinn – auch bildlich, auch emotional. Sehnsüchte, Ängste, | |
Hoffnungen werden verhandelt, universal gültig. Sprache, Denken, | |
Wirklichkeit? Sie bedingen einander, untrennbar. Mit „Wild (Wild) Grammar“ | |
setzt das EMAF fort, für was es seit den 1980er-Jahren steht: den | |
Neuaufbruch in die Moderne. | |
22 Apr 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.emaf.de/de/index.html | |
[2] https://vimeo.com/280307317 | |
[3] https://vimeo.com/257530075 | |
[4] https://vimeo.com/182279709 | |
[5] https://vimeo.com/262827191 | |
[6] https://www.youtube.com/watch?v=S5_BQ7wjIzk | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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