Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Israelis in Berlin vor der Wahl: Samstagabend fängt die Woche an
> Zwei junge Israelis sind unter sehr unterschiedlichen Bedingungen nach
> Berlin gezogen. Hier lernten sie neue Perspektiven auf ihr Jüdischsein.
Bild: Schabbat beginnt zur Abenddämmerung am Freitag und endet bei Sonnenunter…
Um kurz nach sechs am Freitagabend schaltet Odel Geffen ihr Handy aus. Für
die nächsten 25 Stunden wird sie mit niemandem telefonieren, keine E-Mail
verschicken, kein Radio hören. Sie wird den Herd nicht bedienen und keinen
Lichtschalter drücken.
Der Schabbat geht von Beginn der Abenddämmerung am Freitag bis
Sonnenuntergang am nächsten Samstag – in der Woche im März, in der Odel
Geffen sich begleiten lässt, sind das genau 25 Stunden. Die junge Frau
zündet eine Kerze an, spricht leise ein Gebet. Schabbat schalom, sagt sie
dann, einen friedlichen Schabbat. Draußen ziehen die ersten Feierwütigen
durch die Warschauer Straße, für Odel Geffen beginnt der jüdische Ruhetag.
Bis kurz vor Anbruch der Dämmerung ist sie noch hektisch hin und her
geflitzt, die Israelin mit wilder Lockenmähne und klimpernden Ohrringen.
Auberginen und Süßkartoffeln in der Pfanne brutzeln, kochendes Wasser in
eine Thermoskanne füllen, damit sie morgen Tee aufbrühen kann. Der Tag, an
dem Gott Ruhe verordnet hat, will gut vorbereitet sein.
Als Odel Geffen vor eineinhalb Jahren nach Berlin kommt, sind ihr die
göttlichen Gebote noch egal. Sie ist in einem ultra-orthodoxen Viertel in
Jerusalem aufgewachsen, wo jene Minderheit wohnt, die streng nach den
Regeln der Thora lebt, wo Männer mit riesigen Hüten durch die Straßen
eilen, um möglichst schnell zum Studium der heiligen Schriften
zurückzukehren, wo Frauen keine Hosen tragen, sondern weite Röcke, die
übers Knie gehen. Ihr Zimmer teilt sie sich mit sieben Geschwistern.
## Orthodoxe Rebellin
Das erste, was sie tut, wenn sie morgens die Augen öffnet: ein Gebet
sprechen. Dann sechsmal die Hände waschen. Jeder Schritt im Alltag wird von
einer Regel aus der Thora bestimmt, erinnert sie sich. Mit 14 haut sie ab
von zu Hause, weil sie sich nach Freiheit sehnt. Streift als Teenager
nachts durch die Kneipen von Jerusalem, trinkt Bier, lernt Jungs kennen.
Mit 26 träumt sie von Berlin: Die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, wie
es bei jungen Israelis heißt. Günstig und sexy. Der Vater ist entsetzt:
Seine Tochter soll einen Juden heiraten und viele Kinder gebären. Dass sie
das Heilige Land verlässt, ins Land der Schoah geht, wird er ihr nie
verzeihen. Aber für Odel Geffen liegt die Zeit des Nationalsozialismus weit
in der Vergangenheit. „Ich dachte, in Berlin kann ich sein, wer immer ich
will.“
Aber mit der Freiheit ist es nicht so leicht für die orthodoxe Rebellin in
der Stadt, die vom Dresscode der Elektroclubs geprägt ist. Als
Au-Pair-Mädchen bei einer Familie im schicken Berlin-Charlottenburg merkt
sie zum ersten Mal, dass sie Jüdin unter Nichtjuden ist. Wenn sie abends
mit Freunden durchs hippe Kreuzberg zieht, ist da eine Leere. Zum ersten
Mal in ihrem Leben wünscht sie sich Gemeinschaft zurück.
## Den eigenen Regeln folgen
Auf der Suche nach sich selbst zündet sie freitags eine Kerze an. Geht in
die Synagoge, um mehr jüdische Freunde zu finden. Irgendwann bleibt am
Schabbat das Handy aus. Nach dem Gebet stößt sie einen tiefen, entspannten
Seufzer aus. „Jetzt muss ich nichts mehr machen.“ Sie ist von ihren bunten
Leggins in Festtagskleidung geschlüpft: schwarze Strumpfhose, gestricktes
Kleid. Als sie die Wohnung verlässt, bleibt in jedem Zimmer ein Lämpchen
brennen, damit sie heute Nacht keinen Schalter anknipsen muss.
Auf der Warschauer Straße leuchten die Ampeln, junge Menschen strömen
Richtung Bars und Kneipen. Sie steigt in die S-Bahn, obwohl das genau
genommen gegen die orthodoxen Regeln ist – aber wie sonst soll sie zur
Synagoge am Zoologischen Garten kommen. Sie achtet nur darauf, den
Türöffner nicht selbst zu drücken.
Als Odel Geffen ins Gotteshaus hastet, zwei Minuten vom Ku’damm entfernt,
sind die Gebete fast vorbei. Macht nichts, sagt sie, stellt sich im Saal
mit der goldverzierten Decke zu den betenden Frauen. Ihr Oberkörper wippt
sanft hin und her, während vorne die Männer mit Kippa singen. Die einstige
Rebellin folgt jetzt ihren eigenen Regeln. Ihre Eltern hätten nicht
verstanden, dass man Religion niemandem aufzwingen kann, sagt sie.
## Verbindung zwischen Israel und Deutschland
Später sitzt sie am Kopf eines langen Tisches, nippt an Wein in einem
Plastikbecher, über den schon der Kiddusch, der Segen gesprochen wurde.
Ihre Freunde aus Israel haben sie zum traditionellen Schabbatessen
eingeladen, es gibt Hefezopf und Gefilte Fisch. Odel Geffen sieht glücklich
aus zwischen den Männern mit Kippa und Frauen mit knielangen Röcken.
Vielleicht will sie irgendwann nach Israel zurück, um eine Familie zu
gründen. Wenn dort heute Wahlen sind, hofft sie, dass sich eine Partei
durchsetzt die für die Zwei-Staaten-Lösung ist.
Noch aber will Odel Geffen bleiben in dem Land, in dem so viele Juden
ermordet worden sind und das sie doch näher zu ihrem Jüdischsein gebracht
hat. Lachend wirft sie die Haare in den Nacken. Erst in der Fremde in
Deutschland habe sie dieses Gefühl ergriffen: dass sie die Geschichte eines
ganzen Volkes auf dem Rücken trage. Es gibt da eine besondere Verbindung
zwischen Israel und Deutschland, sagt sie.
Diese Verbindung sieht auch Josef Ben-Lulu, der Freitagnachts gerne zu
Elektromusik tanzt. Auch er sagt, erst in Berlin habe er verstanden, dass
er Jude ist. Obwohl er nie Schabbat feiert. Der Israeli mit Stoppelbart
streift an diesem Abend durch die Sonnenallee im Stadtteil Neukölln, vorbei
an Shisha-Bars und arabischen Gemüseläden. Dicht neben ihm sein Mann, ein
schlaksiger Typ aus Brandenburg.
## Lieber aus Haifa
Josef Ben-Lulu, der seinen echten Namen nicht nennen möchte, sagt lieber,
dass er aus Haifa kommt, statt aus Israel. Nicht weil er Angst vor
Antisemitismus hat, sondern weil er sich nicht gern Israeli nennt, wegen
dem, was in den palästinensischen Gebieten passiert, sagt er. In der
Hafenstadt im Norden klappt es mit dem friedlichen Zusammenleben von
Arabern und Juden ganz gut. In seinem arabischen Lieblingsrestaurant in
Berlin riecht es nach Falafel. Der Politikstudent mit dem schüchternen
Lächeln tunkt ein Stück Brot in den Hummus vor sich. Hummus ist einer der
wenigen Dinge, die er an Israel vermisst.
Vor knapp zehn Jahren wurde ein Freund von ihm in Tel Aviv ermordet. Ein
Attentäter stürmte in ein Jugendzentrum für Schwule und Lesben, schoss mit
einem Maschinengewehr um sich, zwei Menschen starben, viele wurden
verletzt. Der Täter ist bis heute nicht gefasst. Da weiß Josef Ben-Lulu,
dass er weg will, weil er sich in Israel nicht sicher fühlt. Auch für ihn
ist Berlin ein Traum der unbegrenzten Möglichkeiten. Familiengeschichte –
eine Großmutter, die die Nazis in ein Arbeitslager steckten, die Großtante,
die von Deutschen umgebracht wurde – sie ist für ihn Teil der
Vergangenheit, nicht des Alltags.
Für einen Moment legt er die Hand auf dem Knie seines Mannes ab. Hinter den
beiden sitzen ältere arabische Männer und junge Hipster, Händchenhalten
würde er hier nicht, sagt Josef Ben-Lulu, aber auch sonst nirgendwo
öffentlich. Er sagt: Schwulenfeindlichkeit gibt es ja überall. Letzten
Sommer hat er seinem Ehemann im Standesamt von Schöneberg das Ja-Wort
gegeben.
## Jüdischsein ist komplex
Jude unter Nichtjuden sein – auch der zurückhaltende Israeli merkt in
Deutschland zum ersten Mal, was das ist. Wenn Deutsche, die seinen
hebräischen Akzent hören, ihn nach Chanukka fragen, das jüdische
Lichterfest. Feiert er nicht. Religion ist ihm egal. So sei das eben mit
dem Jüdischsein, komplex. „Manchmal weiß ich selbst nicht, was das heißt,
Jude zu sein.“ An den Wahlen wird er bewusst nicht teilnehmen, anders als
Odel Geffen, die es nicht einrichten kann, extra nach Israel zu fahren.
Josef Ben-Lulu liebt Kreuzberg und Neukölln, wo unterschiedliche Menschen
auf engem Raum zusammenleben. Das gibt ihm das Gefühl, jenseits von
Kategorien wie israelisch, jüdisch, schwul er selbst sein zu können.
Besonders wenn er sich ins Berliner Nachtleben stürzt: Das sei immer eine
Reise ins Unbekannte, sagt er.
Samstagabend, kurz nach sieben. Während Josef Ben-Lulu sich vielleicht
gerade irgendwo für die Clubnacht fertig macht, schaltet Odel Geffen in
ihrer Wohnung ihr Handy wieder an. Der Schabbat ist vorbei. Für sie beginnt
die neue Woche.
8 Apr 2019
## AUTOREN
Lucia Heisterkamp
## TAGS
Jüdisches Leben
Juden
Jüdinnen
Parlamentswahl
Homosexualität
Orthodoxe Juden
Berlin
Lesestück Recherche und Reportage
Antisemitismus
Maxim Gorki Theater
Jüdische Gemeinde
## ARTIKEL ZUM THEMA
Senat: Berlin für Juden sicherer machen
Die rot-rot-grüne Landesregierung beschließt ein neues Konzept gegen
Antisemitismus. Zentraler Punkt ist ein besonderer Beauftragter für das
Thema.
Yael Ronens neue Inszenierung in Berlin: Eigentlich zum Heulen
„Third Generation – Next Generation“ knüpft im Gorki-Theater an den
2008er-Erfolg „Third Generation“ an – in einer anderen BRD.
Feiern in Berlin zur Staatsgründung Israels: Lieber ein säkulares Leben
Berlin hat die zweitgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands. Doch nur ein
Viertel der jüdischen Berliner sind darin organisiert. Eine
Bestandsaufnahme.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.