# taz.de -- Die Wahrheit: Im Glückskeksmekka | |
> Tagebuch einer Yogaschwester: Mit seiner aufregenden Foodszene stellt der | |
> Bezirk Spandau sogar Weltmetropolen in den Schatten. | |
Was früher der Kegelverein war, ist heute die Yogagruppe. Die | |
Kegelschwestern meiner Oma fuhren zur gemeinschaftlichen Erholung ins | |
italienische Abano Terme und badeten ihre müden Knochen in heißen Quellen, | |
die Fantasien meiner Yogaschwestern kreisen hauptsächlich ums Essen. So kam | |
es, dass ich Spandau entdeckte, den neuen „Place to be“. | |
Für all jene da draußen in der Welt, die jetzt nicht wissen, wovon ich | |
spreche: Liebe Leser, Spandau ist entgegen einer weit verbreiteten Annahme | |
kein verzichtbarer Vorort Berlins, sondern künftiges Zentrum der hipsten | |
Stadt der Welt! | |
Zugegeben, von Weitem erinnert Spandau an ein mäßig aufregendes Archiv mit | |
Anschauungsmaterial für alles, was mal Westberlin war: ein restaurierter | |
Kern, umgeben von vielen Kilometern verkehrsverstopfter Straßen und mehr | |
oder weniger scheußlichen Siebzigerjahrebauten. Trotzdem bleibe ich bei | |
meiner Prognose, dass Spandau in kürzester Zeit Friedrichshain-Kreuzberg | |
als Epizentrum urbanen Lebens ablösen wird. | |
Es bietet nämlich nicht nur Konzertveranstaltungen, für die einst in weiser | |
Voraussicht eine ganze Zitadelle gebaut wurde, es mangelt auch nicht an | |
Ufern und Wasserwegen, die nur darauf warten, endlich von den allsommerlich | |
in Berlin einfallenden Park-und-Seen-Vermüllungstruppen besetzt zu werden. | |
Vor allem verfügt Spandau über das Wichtigste, was ein Metropolen-Mekka | |
bieten muss: eine veritable Foodszene. | |
Diese wird vollständig und allein von einem chinesischen Etablissement | |
abgedeckt, das keine Wünsche offen lässt. Auf einer Fläche von den Ausmaßen | |
des Olympiastadions breitet sich ein „All you can eat“-Fantasialand | |
chinesischer Klassiker aus. Herden von Schweinen, Lämmern und Rindern | |
schwimmen in temperierten Metallwannen voll brauner Soße, nichts für vegane | |
Weicheier. | |
Der kulinarisch noch auf die deutsche Leitkultur konditionierte Gast muss | |
aber nicht zu Hause bleiben, sondern stillt den kleinen Hunger | |
zwischendurch mit chinesischer Currywurst, chinesischem Schnitzel plus | |
Pommes, und zum Nachtisch tropft der Schokobrunnen auf chinesische | |
Windbeutel. | |
Wenn Huawei verspricht, Deutschland ebenso flächendeckend mit schnellem | |
Internet zu versorgen wie dieser Laden halb Spandau und seine Besucher mit | |
seinem Mix aus Dumplings und Spaghetti Bolognese, könnte man der Versuchung | |
erliegen, den Zuschlag ohne weiteren Vergabewettbewerb zu erteilen. | |
„Glückliche Sache wird über dich bald fallen“, prophezeit mir mein | |
Glückskeks zum Abschied, auf dem Heimweg bleibe ich gespannt. | |
Ödon von Horvath wurde seinerzeit auf den Pariser Champs-Élysées von einem | |
Baum erschlagen, in Spandau von einem Ast gefällt zu werden, wäre zwar ein | |
Ereignis, aber weder ein glückliches noch ein international bedeutendes. | |
Ich halte mich lieber an den nächsten Glückskeks, der mir und Spandau | |
„Geschenk Sie eine glänzende Zukunft!“ verspricht. | |
28 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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