# taz.de -- Die Wahrheit: Kindheit mit Gräfin | |
> Tagebuch einer Dankbaren: Ein Kinobesuch löst heftige Erinnerungen aus an | |
> schwerchaotische Jugendtage im Tanten- und Oma-Kreis. | |
Draußen wird die zaghafte Hoffnung auf Frühling unter Schneeflocken | |
begraben. Das einzig Gute am rundum nutzlosen Monat Januar ist die Zahl | |
sehenswerter Filme, die vor den Oscars in die Kinos kommen. So landete ich | |
neben allerlei englischen, amerikanischen und japanischen Werken in der | |
Ruhrpottkindheit Hape Kerkelings, in der ich interessante familiäre | |
Parallelen entdeckte. | |
Die umfangreiche Sippe meiner Großmutter mütterlicherseits lebte zwar nicht | |
wie die Kerkelings in Recklinghausen, aber um die Ecke in Gladbeck, und | |
ihre älteste Schwester hieß wie eine der Kerkeling’schen Großmütter | |
ebenfalls Änne und war von ähnlich unbekümmerter Exzentrik. | |
Laut Überlieferung lernte sie als junge Frau in Gladbeck einen Italiener | |
kennen, der sich als verarmter conte herausstellte, und folgte ihm – | |
bereits schwanger – nach Italien. Fortan fühlte sie sich dem europäischen | |
Hochadel zugehörig, kehrte nach dem Tod des Ehemanns nach Gladbeck zurück | |
und überraschte die Daheimgebliebenen mit absinthgrün lackierten | |
Fingernägeln und einem aristokratischen „Mein Dank“, wenn man ihr bei Tisch | |
das Salz reichte. | |
Dazu gehörten sonntägliche Kutschfahrten wie bei Änne Kerkeling, während | |
derer huldvoll das Volk am Straßenrand gegrüßt wurde. Vornamen haben | |
offenbar Einfluss auf die Persönlichkeit. Eltern, vergesst, was gerade so | |
angesagt ist, und probiert’s mal mit Änne, der Name verspricht Abwechslung. | |
In späteren Jahren bildeten Großtante Änne und Oma ein duo infernal, das | |
während längerer Abwesenheiten meiner Mutter anrückte und deren Haushalt | |
auf den Kopf stellte, indem sie, wie sie es nannten, „mal wat Ordnung | |
machten“. | |
Meine Oma hatte es nicht so mit dem Adel, dafür aber drei andere | |
Leidenschaften: Zeitung lesen, den 1. FC Köln und ihren Frauen-Kegelclub. | |
Man traf sich donnerstags, die Wellen aus Kölsch und Schnaps, auf denen die | |
Damen durch den Abend ritten, schlugen meterhoch. Meinen ersten Vollrausch | |
im Alter von acht Jahren verdanke ich einer Siegsträhne meiner Großmutter, | |
die ich, angefeuert von der dicken Else – „Lass doch dat Kind, da sin | |
Fitamine drin!“ –, zur Schnapsprobe nutzte. Zu Hause bekämpfte meine Oma | |
dann mein Elend mit Klosterfrau Melissengeist, ihrem Allheilmittel. Ich | |
muss ein sehr starkes Kind gewesen sein. | |
Ab und zu unternahmen die Damen auch „wat Kulturellet“. Eines Tages lockte | |
Else die anderen aufgeregt zum gemeinsamen Kinobesuch: „Ein Musikfilm! | |
Französisch! Mit tanzen und allem!“ Meine Oma opferte ihre heilige | |
„Sportschau“ und so kam es, dass zwölf Damen zwischen Ende fünfzig und | |
Mitte siebzig den schönen Film „Der letzte Tango in Paris“ genossen. Oma | |
war bis zum Ende die Letzte. Ihr Kommentar danach: „Die schöne Butter! | |
Hätter doch Margarine nehm’n könn!“ | |
Die dicke Else war eingeschlafen. An Änne, Else, Omma, all die anderen und | |
ans Kino – „mein Dank“ für die Erinnerungen! | |
31 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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