# taz.de -- Die Wahrheit: Wichtigdrängler | |
> Tagebuch einer Wintermüden: In Berlin bröckeln die Steine aus dem Gehweg. | |
> Nur eine der Folgen einer langsam unzeitgemäßen Jahreszeit. | |
Die Tage werden heller, bald grinsen wieder Eis schleckende Mädchen unter | |
der Überschrift „Sarah und Leonie (17) genießen den Frühling“ von den | |
Titelseiten. Aber bevor es soweit ist, muss ich beim inneren Frühjahrsputz | |
noch Reste von Winterunmut loswerden. | |
Neulich erhielt Boris Palmer, der Öko-Sheriff aus dem funktionierenden Teil | |
der Republik, von Burkard Dregger, dem Funktionstüchtigkeitsexperten des | |
Berliner Abgeordnetenhauses, eine Führung durch Berlin. Leider hatte man | |
versäumt, vorher meine Expertise einzuholen, und so inspizierte das Duo, | |
statt der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, Schnarchorte wie die Messe und | |
den zeitweise von Dealern bereinigten Görlitzer Park. | |
Die deutsche Hauptstadt versinkt derweil im märkischen Treibsand wie | |
Venedig in der Lagune. Berlin hat nämlich einen Haufen Steine locker. Unter | |
seinen Bürgersteigen und dem historisch korrekten, leider aber sehr lose | |
sitzenden Pflaster Marke „Unser Dorf soll schöner werden“ tummelt sich | |
bereits ein Heer argloser Bürger, die des Nachts bei schummriger | |
Beleuchtung von einem der zahllosen Krater verschluckt werden. Und die | |
Liste verschollener Passanten wird täglich länger. | |
Inzwischen ist man als Bewohner ja darin geübt, Defiziten Positives | |
abzugewinnen. So bedient man sich bei den hier beliebten Attacken auf | |
Rettungsdienste aus den wachsenden Steinhaufen. Wegen Größe und Gewicht | |
eignen sich die handlichen Quader für Kinder und zur Nachwuchsausbildung. | |
Aber auch Sanitäter und Feuerwehr halten sich mit Übungen „Wie arbeite ich | |
effizient im Steinhagel“ für ihre Einsätze fit. Wissenschaftliche Studien | |
zur Statistik laufen: Legt man alle Steine aneinander, reichen sie dann bis | |
nach Tübingen? | |
Meine persönlichen Forschungsprioritäten liegen allerdings bei meinen | |
Lieblingsthemen „Drängler“ und „Handy-Gequake“, gern auch in Kombinati… | |
Die kennt der Tübinger wahrscheinlich nicht, da die schwäbische Neigung zu | |
Höflichkeit und Rücksichtnahme noch nicht von der sich überregional | |
ausbreitenden Berliner Art des Wortlos-aus-dem-Weg-Pflügens übertrumpft | |
wird. Andere Kulturen kündigen ihre Überrumpelungsabsichten wenigstens | |
vorbeugend an und nehmen dann „Scusi!“ oder „Pardon!“ die Abkürzung. | |
Der Hauptstadtdrängler quetscht sich unter maximaler Ausnutzung seiner | |
Körperoberfläche stumm an einem vorbei und brüllt einem anschließend im | |
friedlichen Café sein Wichtigschissgebrabbel ins Ohr. Beschwerden kontert | |
er mit herablassend wedelnden Handbewegungen und einem zwischen | |
Termingezocke, falschen Anglizismen und Renditezahlen beschwichtigendem | |
„Dauert nicht mehr lange“. Was genau an dieser Antwort beruhigend sein | |
soll, bleibt sein Geheimnis, wo doch jedes Kind weiß, dass es erst richtig | |
losgeht, wenn der Arzt „Es pikst nur ein bisschen“ sagt. | |
Aber bald ist ja Frühling, alle essen glücklich Eis, und dabei schmerzen | |
nur noch die Zähne. | |
28 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
## TAGS | |
Berlin | |
Wichtigheimer | |
Winterfolgen | |
Fasten | |
Spandau | |
Familie | |
taz.gazete | |
Handy | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Fasten mit drei F | |
Tagebuch einer Normala: An einer kleinen Hör- und Verstehschwäche zu | |
leiden, kann Wirrungen über Ernährungsideologien nach sich ziehen. | |
Die Wahrheit: Im Glückskeksmekka | |
Tagebuch einer Yogaschwester: Mit seiner aufregenden Foodszene stellt der | |
Bezirk Spandau sogar Weltmetropolen in den Schatten. | |
Die Wahrheit: Kindheit mit Gräfin | |
Tagebuch einer Dankbaren: Ein Kinobesuch löst heftige Erinnerungen aus an | |
schwerchaotische Jugendtage im Tanten- und Oma-Kreis. | |
Die Wahrheit: Mensch, ärgere dich | |
Tagebuch einer Spielerin: Dass soziale Konflikte mit harten Bandagen | |
ausgefochten werden, lässt sich auch am Gesellschaftsspiel studieren. | |
Die Wahrheit: Digitale Leiden | |
Tagebuch einer Handy-Werferin: Erst lassen die Splitter im Bildschirm die | |
Finger und dann die Kosten für die Reparatur das Herz bluten. |