# taz.de -- Rot-rot-grüne Landesregierung Berlin: Warten auf Betriebstemperatur | |
> Wie sieht die Halbzeitbilanz aus in einer Stadt, die viele in Deutschland | |
> inzwischen für gescheitert halten? Ein Blick ins Innenleben der Berliner | |
> Verwaltung. | |
Bild: Berlin vom Flugzeug aus: Weit genug weg, um noch als Sehnsuchtsort gelten… | |
Und plötzlich endet der Radweg im Nichts. Wer vom Hackeschen Markt in | |
Berlin-Mitte Richtung Prenzlauer Berg radelt, muss hinter dem Rosenthaler | |
Platz das Fahrrad auf dem Gehweg durch Touristenmassen balancieren – um | |
hinterher auf der Straße mit ihren Straßenbahnschienen zu landen. Würde | |
Boris Palmer, der pingelige Oberbürgermeister im schwäbischen Tübingen, | |
hier vorbeiradeln, hätte er einen neuen Beleg für [1][seine gar nicht so | |
neue These über Berlin]: „Achtung, Sie verlassen den funktionierenden Teil | |
Deutschlands.“ | |
Heinrich Strößenreuther, 51 Jahre alt, hochgewachsen, schwarzer Anzug, | |
kennt die Problemkreuzung. Strößenreuther ist Unternehmensberater und | |
Verkehrsexperte, vor allem aber ist er das Gesicht des „Volksentscheids | |
Fahrrad“ in Berlin. 2017 gelang es den Radaktivisten, in kürzester Zeit | |
mehr als 100.000 Unterschriften zu sammeln. Die rot-rot-grüne | |
Landesregierung, hervorgegangen aus den Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 18. | |
September 2016, übernahm daraufhin die Forderungen der Radfahrerlobby und | |
verabschiedete 2018 ein Mobilitätsgesetz, das Berlin zum Fahrrad-Mekka | |
machen soll. Doch die Kreuzung am Rosenthaler Platz ist noch immer nicht | |
entschärft. Entsprechend ernüchtert fällt die Halbzeitbilanz von | |
Rot-Rot-Grün für Heinrich Strößenreuther aus: „Der Senat hat sich erst | |
gefeiert und dann so gut wie nichts hingekriegt.“ | |
Vielleicht muss man mit einer Kreuzung wie der in Berlin-Mitte anfangen, um | |
von einer Koalition zu erzählen, die das Rad zwar nicht neu erfinden, aber | |
es wenigstens wieder zum Rollen bringen wollte. Die [2][Schulen endlich | |
sanieren], [3][bezahlbare Wohnungen] bauen, Berlin zur ökologischen | |
Vorzeigestadt machen will. Die Schluss machen wollte mit dem Sparkurs unter | |
dem langjährigen Regierungschef Klaus Wowereit und stattdessen ein | |
„Jahrzehnt der Investitionen“ ankündigte. Der am 8. Dezember 2016 vom | |
Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD), Kultursenator Klaus Lederer | |
(Linke) und Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) unterzeichnete | |
Koalitionsvertrag, das attestierten auch zahlreiche NGOs, sei einer der | |
besten, den Berlin je hatte. | |
Entsprechend hoch sind die Erwartungen. Ein Radweg, der irgendwo auf einem | |
belebten Gehweg ins Nichts führt, wäre unter der rot-schwarzen | |
Vorgängerregierung schulterzuckend zur Kenntnis genommen worden. Nun ist er | |
für Radaktivisten wie Heinrich Strößenreuther ein Symbol nicht eingelöster | |
Versprechen. | |
## Rechenraum der deutschen Hauptstadt | |
Wie aber sieht es dort aus, wo nicht Erwartungen und Emotionen herrschen, | |
sondern Akten mitgezeichnet und weitergeleitet werden? Wo 118.000 | |
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im öffentlichen Dienst das alltägliche | |
Leben der 3,7 Millionen Berlinerinnen und Berliner verwalten? Besuchen wir | |
also den Rechenraum der deutschen Hauptstadt, in dem sich am Ende erweisen | |
wird, ob der rot-rot-grüne Koalitionsvertrag mehr wert ist als die 190 | |
Seiten Papier, auf denen er gedruckt ist. | |
Sören Benn hat sein Büro im ersten Stock des Rathauses in der Breiten | |
Straße in Berlin-Pankow. Der 50-jährige Linken-Politiker ist | |
Bezirksbürgermeister des am schnellsten wachsenden Bezirks der Hauptstadt. | |
Über 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt der Großbezirk, zu dem auch | |
der einst hippe, aber inzwischen in die Jahre gekommene Prenzlauer Berg | |
gehört. Wäre Pankow kein Berliner Verwaltungsbezirk, sondern eine | |
Großstadt, läge sie bei Nummer 16 in Deutschland, hinter Duisburg und noch | |
vor Bochum. | |
„Es ist schwierig, den Hebel umzulegen“, sagt Benn. Stellen gibt es genug, | |
im öffentlichen Dienst wird wieder eingestellt, auch in Pankow. „Wir haben | |
derzeit 2.200 Stellen, von denen aber 175 nicht besetzt sind.“ Um zu | |
erklären, warum eine Stellenbesetzung in Pankow im Schnitt vier Monate | |
dauert, muss Benn etwas ausholen. Ein Grund sei, dass sowohl der | |
Personalrat als auch die Gleichstellungs- und Behindertenbeauftragten einer | |
Neubesetzung zustimmen müssen. „Da geht die Vorlage an den Ersten, und zwei | |
Wochen später an den Nächsten, bis alle irgendwann zugestimmt haben.“ Benn | |
schlägt dagegen ein „Sternmodell“ vor, bei dem alle gleichzeitig prüfen | |
sollen. Statt nach sechs oder acht Wochen wäre eine Stellenbesetzung dann | |
nach zwei Wochen durch die Gremien. | |
## Das liebe Geld | |
Hört sich einfach an, ist es aber nicht. „Wir haben jahrelang gespart, und | |
nun sollen wir wieder einstellen. Aber dafür haben wir keine routinierten | |
Abläufe mehr, keine Leute, die eine Stellenbewertung vornehmen“, sagt Sören | |
Benn. | |
Es klingt nicht wie eine Klage, eher wie eine erklärende Feststellung. Und | |
Erklärungen dafür, warum in Berlin alles länger braucht, gibt es viele. Zum | |
Beispiel: das liebe Geld. Wer in einem der zwölf Bezirke der Hauptstadt | |
anheuert, verdient oft weniger als in einer Senatsverwaltung, von einer | |
Bundesbehörde ganz zu schweigen. | |
Daran wird auch der neue Tarifvertrag wenig ändern, den die Gewerkschaft | |
Verdi und die Länder Anfang März abgeschlossen haben. 8 Prozent mehr gibt | |
es für den öffentlichen Dienst, verteilt auf drei Jahre. Doch das | |
Lohngefälle zwischen Berlin und Bayern, zwischen Bezirken und | |
Senatsverwaltungen bleibt. „Hinzu kommt“, sagt Sören Benn, „dass auch die | |
Privatwirtschaft wieder einstellt, da können wir oft nicht mithalten.“ | |
Personalengpässe wird es also weiter geben, trotz der neuen Stellen. | |
Immerhin hat sich die [4][Lage in den Bürgerämtern entspannt]. 2016 noch | |
gab es freie Onlinetermine frühestens 60 Tage nach dem Aufruf der | |
Bürgeramtsseite. Den Ausweis zu verlängern dauerte also fast genauso lange | |
wie die Wartezeit auf einen Termin beim Facharzt. Und manchmal flatterte | |
denen, die die Verlängerung verpassten, die Androhung eines | |
Ordnungswidrigkeitsverfahrens ins Haus. | |
Am Anfang von Rot-Rot-Grün stand deshalb ein Versprechen. In der taz | |
kündigte Finanzsenator Matthias Kollatz im Dezember 2016 an, dass künftig | |
keiner länger als zwei Wochen auf einen Termin im Bürgeramt warten müsse. | |
Dieses Ziel ist mittlerweile erreicht, bestätigt Pankows Bürgermeister | |
Sören Benn. Tatsächlich gibt es manchmal sogar freie Termine noch am selben | |
Tag. Aber bei den Standesämtern seien die Wartezeiten immer noch sehr lang. | |
„Die Standesbeamten wachsen nicht auf den Bäumen“, sagt Benn. „Es gibt in | |
Deutschland nur eine Stelle, die Standesbeamte ausbildet.“ Soll heißen, | |
nicht jedes Warten auf Termine in den Ämtern ist ein Berliner Problem. | |
Und dann erzählt der Pankower Rathauschef noch eine Anekdote, die sich | |
anhört wie ein Schildbürgerstreich im 21. Jahrhundert. „Wir müssen unsere | |
Betriebssysteme in diesem Jahr auf Windows 10 umstellen. Ob das klappt, | |
kann ich aber nicht sagen.“ Nicht das Geld ist der Grund, sondern ein | |
Einwand des Personalrats. Der nämlich will prüfen, ob ein neues | |
Betriebssystem nur ein Update ist, oder ob es wegen der Veränderungen im | |
Arbeitsablauf eine neue Betriebsvereinbarung braucht. „Berlin ist ein | |
Tanker“, sagt Benn. | |
Inzwischen sitzt Sören Benn in einer von drei Arbeitsgruppen, die in Berlin | |
die Umsetzung der Empfehlungen der sogenannten Alt-Kommission berät. Der | |
ehemalige Vorstand der Arbeitsagentur, Heinrich Alt, hatte neun Monate lang | |
eine Gruppe von zwölf Experten um sich geschart und im Juni 2018 einen | |
100-seitigen Bericht zur „Verbesserung der gesamtstädtischen | |
Verwaltungssteuerung“ vorgelegt. Dieser Bericht hatte es in sich. | |
## Sehnsuchtsort Berlin | |
„Glaubt man auch der internationalen Presse, ist Berlin zum Sehnsuchtsort | |
für Menschen aus aller Welt geworden“, heißt es in Alts Abschlussbericht. | |
„Dieser Strahlkraft einer wachsenden Metropole muss auch die Verwaltung | |
Berlins gerecht werden.“ Und: „Bürgerinnen und Bürger sowie die hiesigen | |
Unternehmen erwarten zu Recht kompetente und leistungsstarke Behörden mit | |
einer hohen Kundenorientierung. Diesen berechtigten Erwartungen kommt die | |
Berliner Verwaltung in Teilbereichen nur bedingt nach.“ | |
Zwar hatte die Kommission den Auftrag, die Zweistufigkeit der Berliner | |
Verwaltung – also das Nebeneinander von Landes- und Bezirksbehörden – nicht | |
anzutasten. Aber auch ohne die Abschaffung der Bezirke gibt es reichlich | |
Luft nach oben. So schlugen die Expertinnen und Experten vor, die Berliner | |
Verwaltung „deutlich attraktiver“ zu machen. Mehr Geld, schnellere | |
Besetzung von Stellen, bessere Karrierechancen sind die Stichworte. Darüber | |
hinaus sollen Genehmigungen schneller erteilt werden, was vor allem den | |
Wohnungsbau oder den Bau neuer Schulen und Radwege voranbringen würde. Und | |
auch die Chancen der Digitalisierung müssten genutzt werden. | |
Sören Benn weiß, dass das alles nicht von heute auf morgen geht, auch | |
deshalb ärgert er sich über manch schnelles Urteil, das über Berlin gefällt | |
wird. Die Empfehlungen der Alt-Kommission begrüßt er aber, auch deshalb | |
macht er nun mit bei der Umsetzung in die alltägliche Praxis. Als | |
Bürgermeister hat er aber auch noch ein paar andere Punkte, die er wichtig | |
findet. „Wir brauchen dringend eine Führungskräfteakademie. Nicht jede | |
gute Fachkraft ist nämlich auch eine gute Führungskraft.“ Ein besseres | |
Arbeitsklima, das ist ein offenes Geheimnis in den Berliner Amtsstuben, | |
würde auch den Krankenstand verringern. In Pankow waren 2017 im Schnitt | |
12,2 Prozent der Beschäftigten krankgeschrieben. Das ist doppelt so viel | |
wie der Krankenstand aller Berliner Beschäftigten. | |
Vielleicht wird sich aber dank der Demografie bald vieles verbessern. | |
Alleine in Pankow sind fast zwei Drittel der Beschäftigten im öffentlichen | |
Dienst über 50 Jahre alt. In ganz Berlin scheiden bis 2021 rund 27.000 | |
Beschäftigte altersbedingt aus. Wenn die Berliner Verwaltung bis dahin | |
moderner ist, mobiles Arbeiten zum Alltag gehört und eine bessere Bezahlung | |
auch, hätten nicht nur die Berlinerinnen und Berliner, sondern auch der | |
Schwabe Boris Palmer weniger Grund zum Granteln. | |
Wäre Sabine Smentek etwas jünger, würde sie als Berliner Göre durchgehen. | |
Inzwischen aber ist die ehemalige Unternehmensberaterin, Gründerin des | |
Frauengewerbehofs „Weiberwirtschaft“ und Stadträtin von Berlin-Mitte, 58 | |
Jahre alt und hat einen Job, um den sie die wenigsten beneiden. Seit | |
Rot-Rot-Grün Berlin regiert, ist Smentek Staatssekretärin für Informations- | |
und Kommunikationstechnik. | |
Ein Nerd ist sie freilich nicht geworden, die „Göre“ hat sich Herz und | |
Schnauze bewahrt. Ein Berliner Urgestein, das die Berliner Verwaltung, auch | |
so ein Urgestein, ins Zeitalter der Digitalisierung führen soll. | |
„Meine persönliche Halbzeitbilanz ist genau so, wie ich gehofft und | |
befürchtet hatte“, sagt die Sozialdemokratin, die ihr Büro beim Berliner | |
Innensenator hat. „Ich habe gehofft, dass wir den politischen Willen haben, | |
in die Verwaltung zu investieren und sie auf den Stand des 21. Jahrhunderts | |
zu bringen.“ Dass der politische Wille, sprich das Geld, da ist, ist | |
gewissermaßen die gute Nachricht. Und die weniger gute? „Ich habe | |
befürchtet, dass es nicht schnell genug geht. Auch das ist eingetreten.“ | |
Gerade deshalb kann Smentek auch jene verstehen, die immer wieder beklagen, | |
was in Berlin nicht funktioniert. „Wir tragen die Bürde, dass in Berlin | |
viel zu lange gespart wurde und bei den Bürgern viel Vertrauen verloren | |
gegangen ist. Wir müssen uns nun kräftig nach der Decke strecken, um dieses | |
Vertrauen zurückzugewinnen.“ Für eine „Failed Stadt“, wie das | |
Nachrichtenmagazin Spiegel einmal ätzte, hält sie Berlin dennoch nicht. | |
„Wir dürfen nicht nur auf das schauen, was nicht klappt, sondern auch auf | |
das, was funktioniert.“ Sie selbst, sagt Smentek, habe in ihrer bisherigen | |
Amtszeit „zwei Warteschlangen weggeräumt“. Die in den Bürgerämtern und d… | |
in den KfZ-Zulassungsstellen. „Wenn Sie Ihr Auto anmelden wollen, geht das | |
innerhalb von ein bis drei Tagen“, freut sich Smentek. Als sie ihr Amt | |
antrat, waren es bis zu vier Wochen. | |
## Die elektronische Akte | |
In Smenteks Zuständigkeit fallen vor allem zwei Dinge. Die | |
Vereinheitlichung der Informationstechnik in den Verwaltungen und das | |
E-Government. Auch da hat sie wieder eine eher gute und eine eher schlechte | |
Nachricht. „Die elektronische Akte“, ist Smentek optimistisch, „werden wir | |
in Berlin bis Ende 2022 eingeführt haben.“ Dann soll mit der Umlaufmappe | |
Schluss sein. Mitzeichnungen werden dann auf dem PC erledigt. Die schlechte | |
Nachricht: Bis aus diesem PC für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst | |
der angestrebte „Berlin PC“ wird, der auf dem gleichen Betriebssystem läuft | |
und zentral betrieben wird, werden noch einige Jahre die Spree | |
hinabfließen. „Die beschlossene Umstellung auf Windows 10 muss jede der | |
über hundert Dienststellen im Land Berlin in diesem Jahr selbst | |
bewerkstelligen.“ | |
Nicht nur Sören Benn und seine Verwaltung in Pankow haben Probleme mit dem | |
Personalrat, sondern auch andere Behörden. Hinzu komme, dass in alten | |
Verwaltungsgebäuden oft erst neue Leitungen verlegt werden müssten. „Wir | |
haben da einen Flickenteppich vorgefunden“, sagt Smentek. Sie hofft, dass | |
es den „Berlin PC“ bis 2026 geben wird. | |
Etwas optimistischer ist die IT-Staatssekretärin beim E-Government. „Uns | |
hilft sehr, dass das Abgeordnetenhaus 2016 ein Gesetz verabschiedet hat, | |
auf das viele andere Bundesländer noch warten.“ Das Gesetz besagt, dass | |
jede Bürgerin und jeder Bürger ein Service-Konto bekommen kann, auf dem man | |
zum Beispiel sein Wohngeld online beantragen kann. Tatsächlich | |
kommunizieren in Berlin so viele Bürgerinnen und Bürger mit den Ämtern | |
online wie in keinem anderen Bundesland, freute sich gerade erst der | |
Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD). Die meisten Gänge zum Amt wird | |
das aber nicht ersetzen, dämpft Smentek die Erwartungen. „Wer seinen | |
Ausweis oder Pass beantragen will, muss weiter aufs Bürgeramt kommen.“ Der | |
Grund: die Sicherheitsvorschriften des Bundes. | |
Im Gegensatz zu Sören Benn hat Smentek weniger Sorge, gute Leute für den | |
IT-Bereich zu finden. „Berlin ist attraktiv und wir bieten auch attraktive | |
Arbeitsverhältnisse und Aufstiegsmöglichkeiten für junge Leute.“ Dazu | |
gehöre auch mobiles Arbeiten, wie es Smentek nennt, denn den Begriff Home | |
Office hat sie aus ihrem Vokabular gestrichen. „Mir ist es egal, ob jemand | |
auf einer Parkbank oder am Küchentisch arbeitet.“ | |
## Metropolenkritik aus den Zwanzigern | |
Berlin war schon immer eine weiße Leinwand, auf die jeder alles Mögliche | |
projizieren konnte. Die Filmwirtschaft ihre immer zahlreicher werdenden | |
Berlinfilme, weil sich die Stadt als Motiv verkauft wie keine andere. | |
Konservative frischen ihre Metropolenkritik aus den Zwanzigern auf, und | |
Nörgler wie Boris Palmer nutzen die Hauptstadt und den BER gerne, um sich | |
selbst in ein besseres Licht zu setzen. | |
Auf der anderen Seite haben natürlich auch diejenigen recht, die sagen, | |
eine 3,7 Millionen Menschen zählende Metropole sei nicht vergleichbar mit | |
einer schwäbischen Kleinstadt. Zumal Berlin wächst wie keine andere | |
deutsche Stadt. Alleine in den letzten Jahren sind jährlich 40.000 neue | |
Bewohnerinnen und Bewohner dazu gekommen. Sie alle sind Kundinnen und | |
Kunden einer Berliner Verwaltung, die selbst erst einmal das Wachsen wieder | |
lernen muss. | |
Dass die Halbzeitbilanz von Rot-Rot-Grün für Aktivisten wie Heinrich | |
Strößenreuther trotzdem so negativ ausfällt, hat deshalb nicht nur mit dem | |
Berliner Rechenraum zu tun, der trotz milliardenschwerer Investitionen | |
immer noch nicht auf Betriebstemperatur ist. Gerade beim Thema Radverkehr | |
liegt es auch an einer grünen Senatorin, die für viele inzwischen zum roten | |
Tuch geworden ist. | |
Tatsächlich gehört die Verkehrswende zu den ambitioniertesten Zielen der | |
Koalition. Bis 2030, so vereinbarten es SPD, Linke und Grüne, sollten | |
Radwege in der Länge von 4.000 Kilometern neu gebaut oder saniert werden. | |
Um den Bau von geschützten Radstreifen oder Radschnellwegen voranzubringen, | |
wurde die landeseigene Gesellschaft Infra-Velo gegründet. 70 Planerinnen | |
und Planer sollten die Arbeit zwischen Senat und Bezirken koordinieren und | |
die Ampeln im Fahrradverkehr auf Grün stellen. | |
Doch bis heute ist vom Versprechen so gut wie nichts eingelöst. Die meisten | |
Mittel, die zur Verfügung stehen, werden nicht abgerufen, weil der Senat | |
oder die Bezirke überfordert sind. Der erste Radschnellweg, so die jüngste | |
Hiobsbotschaft, soll erst 2023 fertig werden. Ein paar „protected bike | |
lanes“, insgesamt nicht einmal zwei Kilometer lang, können am desaströsen | |
Eindruck auch nichts ändern. Von Fahrrad-Mekkas wie Kopenhagen ist Berlin | |
noch Lichtjahre entfernt. Heute sagt Strößenreuther: „Rot-Rot-Grün hat sich | |
verzettelt. Boris Palmer hat recht, wenn er sagt, dass in Berlin wenig | |
funktioniert.“ | |
Und weiter: „Man muss das, was man umsetzen will, auch richtig anpacken. | |
4.000 Kilometer Radwege fallen nicht vom Himmel. Dafür braucht man doppelt | |
so viel Personal und eine Gesamtkonzeption.“ Die aber sei die von den | |
Grünen bestellte Verkehrssenatorin Regine Günther bislang schuldig | |
geblieben. „Politische Führung bedeutet, dass man Prioritäten setzt. Aber | |
anstatt nach einem tödlichen Unfall innerhalb von vier Wochen die | |
entsprechende Kreuzung sicherer zu machen, kümmert sich Frau Günther lieber | |
um Einwegkaffeebecher.“ | |
## Mobilitätsgesetz als ein echtes Markenzeichen | |
Der Verkehrssenatorin jedenfalls sagt Strößenreuther voraus, das Ende der | |
Koalition bei der derzeitigen politischen Bilanz politisch nicht zu | |
überleben. Für die Verkehrswende in Deutschland, meint er, sei Rot-Rot-Grün | |
aber eine Chance. Denn das Mobilitätsgesetz sei ein echtes Markenzeichen. | |
Berlin, schreibt Strößenreuther in einem gerade veröffentlichten Buch, habe | |
damit Standards gesetzt, an denen sich andere Städte orientieren können. | |
So fällt die Halbzeitbilanz von Rot-Rot-Grün durchaus gemischt aus. Wer | |
Schlagzeilen für eine „gescheiterte Stadt“ braucht, wird immer wieder | |
Beispiele dafür finden. Bis heute arbeiten manche Bezirke mit Outlook, | |
andere mit Group Wise, so dass die Beschäftigten untereinander nicht einmal | |
ihre Kalender synchronisieren oder ihre Mails mobil lesen können. | |
Auf der anderen Seite hat Berlin das Problem erkannt und arbeitet mit | |
Hochdruck an einer Lösung. „Wir haben jetzt den Erkenntnisfortschritt und | |
die Einsicht in die Komplexität“, nennt es IT-Staatssekretärin Sabine | |
Smentek. Noch im April soll es einen Verwaltungskongress geben, auf dem | |
Bezirks- und Landespolitiker zusammenkommen und aus den Empfehlungen der | |
Alt-Kommission verbindliche Schlüsse ziehen wollen. Ein Senatsbeschluss | |
soll folgen. | |
Nur umgesetzt werden muss das alles noch. Vielleicht würde das in Tübingen | |
schneller gehen. | |
15 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Boris-Palmer-besucht-Berlin/!5570859 | |
[2] /Schulsanierung-in-Berlin/!5524709 | |
[3] /Berliner-Wohnungspolitik/!5564040 | |
[4] /Freie-Termine-in-Buergeraemtern/!5379222 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
## TAGS | |
Berliner Bezirke | |
Finanzsenator Matthias Kollatz | |
Digitalisierung | |
Die Linke Berlin | |
Radverkehr | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wünsch dir was: Politknaller für 2020 | |
Neues Jahr, neue Vorsätze. Was sich fünf Bezirksbürgermeister wünschen. Die | |
Wunschliste ist so vielfältig wie das Leben in der Großstadt. | |
Landeshaushalt 2020/2021: Kein Blick in die Glaskugel | |
Die CDU-Fraktion wirft Rot-Rot-Grün Abkehr von seriöser Finanzpolitik vor. | |
Aber auch die Grünen kündigen Kritik an. | |
Eröffnung CityLab: Verwaltung bald digitalisiert ;) | |
Behörden in Berlin sollen schneller und digitaler werden. Die Ideen dafür | |
sollen aus dem neuen CityLab kommen. Bei Radwegen könnte WhatsApp helfen. | |
Fraktionsklausur der Berliner Linken: Ganz schön ausgenüchtert | |
Man könne sich leider nicht aussuchen, mit wem man regiert, bilanziert | |
Linken-Kultursenator Klaus Lederer auf der Fraktionsklausur seiner Partei. | |
Rad-Dialog gescheitert?: Unterbrechung der Fahrt | |
Um den kommenden Radverkehrsplan gibt es Streit: AktivistInnen haben die | |
Dialogrunde mit der Senatsverwaltung verlassen. |