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# taz.de -- Der Fall Jürgen N.: Zwangsgeräumt, obdachlos, tot
> Zwei Jahre nachdem er seine Wohnung verlor, starb in Hannover ein Mann.
> Welche Rolle spielte die Zwangsräumung bei seinem Tod?
Bild: Kein Einzelfall: Demonstration nach einer Zwangsräumung mit Todesfolge i…
Hannover taz | Die Todesanzeige klingt wie eine Anklage: „Im Alter von 64
Jahren erlag unser langjähriger Freund und Genosse ‚Bauer‘ der Kälte dies…
Stadt“, das schreibt die Partei Die Linke im hannöverschen Stadtteil
Linden.
Am 12. Februar ist Jürgen N. tot aufgefunden worden. Der Obdachlose, der
„Bauer“ genannt wurde, lag hinter einem städtischen Freizeitheim. „Eine
widerrechtliche Zwangsräumung vor zwei Jahren raubte ihm seine Wohnung.
Wohnungslosigkeit und Krankheit raubten ihm seinen Lebenswillen und die
Kraft zur Veränderung“, schreiben seine Freund*innen in der Anzeige weiter.
N. ist unverschuldet in die Obdachlosigkeit gerutscht. „Er wurde
getäuscht“, sagt Holger Rosemeyer, der N. in der Phase der Zwangsräumung
als Anwalt vertreten hat. Die Wohnung im Kötnerholzweg, Ecke Limmerstraße,
in der N. gelebt hatte, war eigentlich nur ein ehemaliger Kiosk: rund 25
Quadratmeter, drei winzige Zimmer, ein Bad, aber nicht mal eine Küche.
Ein Mieter aus dem Haus hatte den Kiosk zusätzlich zu seiner eigenen
Wohnung angemietet. Aber anstatt ihn wie mit dem Eigentümer abgesprochen
als Kiosk wiederzubeleben, habe er ihn an N. und einen weiteren Mann
untervermietet, sagt Rosemeyer. Den Mietvertrag habe er aber so aussehen
lassen, als wäre es ein Hauptmietvertrag. „Er hat eine Firma mit ‚Immo‘ …
Namen konstruiert“, sagt der Anwalt. „Es hatte den Augenschein, als wäre
das eine Immobiliengesellschaft.“ Nicht nur N. fiel darauf herein – auch
das Jobcenter, das die Miete für die Räume übernahm.
„Die Konditionen waren völlig überhöht. Die beiden Männer haben jeweils
fast 400 Euro mit Nebenkosten für die geringe Wohnfläche bezahlt“, sagt
Rosemeyer. Er glaubt, dass diese Masche noch Jahre hätte funktionieren
können, wenn der „betrügerische Vermieter seine eigene Miete nicht
irgendwann selbst nicht mehr gezahlt hätte“. So aber sei auch dieser
zwangsgeräumt worden. Da erst fiel dem Hauseigentümer auf, dass der Kiosk
bewohnt war: Jürgen N. und sein Mitbewohner hatten über zwei Jahre lang
ihre Miete bezahlt – aber eben nicht auf das richtige Konto.
Zweimal verhinderte Rechtsanwalt Rosemeyer die Räumung, weil es formale
Fehler in dem Verfahren gab. Beim dritten Versuch waren die
Gerichtsvollzieher*innen trotz Protesten erfolgreich. Laut der
[1][Hannoverschen Allgemeinen Zeitung ] wurden sie dabei von einem
Großaufgebot der Polizei unterstützt. Rosemeyer ist überzeugt, dass auch
diese Räumung rechtswidrig war. Für N. war die Zwangsräumung, die an seinem
63. Geburtstag stattfand, der Anfang vom Ende.
## Ein Leben lang hoch politisch
Jürgen Otte war 43 Jahre lang mit N. befreundet, gemeinsam mit ihm bei der
Linken aktiv. Wenn er über den Verstorbenen spricht, entsteht das Bild
eines schwierigen Charakters: still, nachdenklich, seit einem Schlaganfall
auch manchmal grantig und unzugänglich – aber sein Leben lang hoch
politisch. „Er ist innerlich daran zerbrochen, dass niemand sah, dass ihm
Unrecht getan wurde“, sagt der 63-Jährige. Er nennt die Räumung einen
„Gewaltakt“.
Monatelang hätten verschiedene Freunde N. aufgenommen, so Otte, auch er
selbst. Eine dauerhafte Lösung konnte das nicht sein, auf dem freien
Wohnungsmarkt hatte der Hartz IV-Empfänger mit dem Schufa-Eintrag aber
keine Chance. „Wir haben ihn einzeln nicht retten können“, sagt Otte, und
dabei bricht ihm die Stimme. „Es beschämt mich.“
N. hatte dann Kontakt zu Sozialarbeitern und schlief nachts in einer
Notunterkunft der Stadt. „Aber irgendwas um Weihnachten muss den Schalter
umgelegt haben“, sagt Otte: Er habe bemerkt, dass sein Freund draußen
geschlafen habe. „Er hat den Kontakt vermieden und sich zurückgezogen.“
Mitarbeiter*innen des Freizeitheims fanden am 12. Februar seine Leiche. Die
Polizei geht von einer natürlichen Todesursache aus. „Ohne diese
Zwangsräumung wäre er älter geworden“, glaubt Otte und fordert: „Es muss
ein einklagbares Grundrecht auf eine eigene, bezahlbare Wohnung geben. Dann
müsste der Staat für sozialen Wohnungsbau sorgen.“
Steffen Mallast vom Mieterladen in Hannover kannte N. aus den Beratungen
vor der Räumung. „Er hat sich danach aufgegeben“, das hat auch Mallast
beobachtet: Einem Mann über 60 werde mit einer Zwangsräumung auch die
Perspektive für das weitere Leben genommen. Ein paar Habseligkeiten habe N.
auf dem Dachboden des Mieterladens untergestellt – mehr sei ihm nicht
geblieben.
Doch auch für jüngere Betroffene bedeute die Zwangsräumung einen großen
Einschnitt und eine starke psychische Belastung. „Dass jemand keinen Weg
mehr in eine Wohnung findet, ist nicht häufig“, sagt Mallast. „Aber sie
müssen dann in einem völlig anderen Umfeld leben, meistens am Stadtrand, wo
die Mieten günstiger sind.“ Der Berater lehnt das Instrument daher
vollkommen ab. „Es ist auch nicht in Ordnung, dass man die Vermieter so
leicht aus der Verantwortung lässt“, sagt der 31-Jährige. Denn für
diejenigen, die zwangsgeräumt würden, gehe es um mehr als eine Wohnung.
Am kommenden Donnerstag wäre Jürgen N. 65 Jahre alt geworden. An diesem Tag
jährt sich auch seine Zwangsräumung. Seine Freund*innen wollen ab 17 Uhr
eine Mahnwache abhalten – „vor der Wohnung, die ihm entrissen wurde“.
4 Mar 2019
## LINKS
[1] http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/Uebersicht/Grossaufgebot-der-Poliz…
## AUTOREN
Andrea Maestro
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