# taz.de -- Wohnungslosigkeit in Hannover: Masse statt Klasse | |
> Die Notunterbringung der Stadt Hannover für Wohnungslose im | |
> Naturfreundehaus soll schließen. Betroffene sollen zurück in | |
> Massenunterkünfte. | |
Bild: In Hannover fordern Wohnungslose eine „menschenwürdige Unterbringung“ | |
HANNOVER taz | Der Mann am Mikrofon hat zwei Rucksäcke und einige Tüten | |
dabei. Er steht mit seinem Hab und Gut auf dem Trammplatz in Hannover. Vor | |
ihm ragt das Neue Rathaus mit seinen Türmchen und der großen Kuppel empor. | |
„Wir haben etwas anderes verdient!“, ruft er in Richtung des dort tagenden | |
Bauausschusses. „Ich habe nur noch Tränen in meinem Leben, nimm meine | |
Tränen wahr, nimm sie wahr!“ | |
Die Stimmung ist angespannt. Eine Hand voll Menschen ist am vergangenen | |
Mittwoch dem Aufruf der Initiative „Armut stinkt“, einem Bündnis der | |
Selbstorganisierten Wohnungslosenhilfe (SeWo) und anderer Träger*innen der | |
Wohnungslosenhilfe, gefolgt. | |
Sie protestieren gegen mangelnde Corona-Schutzmaßnahmen in Unterkünften und | |
dagegen, dass am kommenden Donnerstag die eigens in der Pandemie | |
eingerichtete [1][dezentrale Unterkunft] im Naturfreundehaus geschlossen | |
wird. | |
Es ist bereits die vierte Demo dieser Art in den vergangenen Monaten. An | |
einem kleinen Pritschenwagen hängt ein Banner mit den Worten: „I want | |
change.“ Eine Frau mittleren Alters richtet sich auf Polnisch an die | |
Anwesenden und weist auf ihre besonders bedrohliche Lage hin: Als | |
Migrant*in und als Frau* sei sie als Wohnungslose besonders gefährdet. | |
Arbeitsmigrant*innen trügen zwar zur sozialen und wirtschaftlichen | |
Entwicklung einen großen Teil bei, seien aber nicht gegen Schicksalsschläge | |
abgesichert, sagt sie. „Wie andere auch verdienen wir die Hilfe der | |
Stadtverwaltung und eine Chance auf ein menschenwürdiges Leben.“ | |
## Obdachlose gehören zur Risikogruppe | |
Markus Bauer lebt in einer städtischen Unterkunft. Als er am Mikro steht, | |
zitiert er aus einem Schreiben des Gesundheitsamtes: „[2][Wohnungs- und | |
Obdachlose] gehören aus zahlreichen Gründen der Hochrisikogruppe von | |
SARS-COv-2 an“, liest er vor. Und weiter: „Zur Unterbrechung von Kontakt- | |
beziehungsweise Infektionsketten ist eine Einzelunterbringung mit | |
konstanten Hygienemöglichkeiten vorzusehen.“ Das aber ist nicht der | |
tatsächliche Stand in den Unterkünften der Stadt, sagen die Betroffenen. | |
Zu Beginn der Coronapandemie musste die Stadt zahlreiche Angebote für | |
Wohnungslose schließen – es gab damals noch kein Hygienekonzept. Doch der | |
öffentliche Druck stieg und die Stadt reagierte: In Zusammenarbeit mit | |
Diakonie und Caritas wurde eine dezentrale Unterbringung für einige | |
Wohnungs- und Obdachlose in angemieteten Hotels und Jugendherbergen | |
organisiert. Als diese auslief, schuf die Stadt für 28 Menschen Raum im | |
Naturfreundehaus. | |
Doch nicht nur, dass es an dieser Unterbringung Kritik gibt, in dieser | |
Woche soll sie gänzlich schließen – bisher ohne Alternative, obwohl die | |
kalte Jahreszeit beginnt: „Es ist ein Skandal, dass die Stadt auch nach | |
Monaten immer noch kein coronagerechtes Konzept zur Einzelunterbringung | |
entwickelt hat“, sagt Bauer. Dass die Bewohner*innen zu zweit oder dritt | |
ein Zimmer teilen müssten, sei die Regel, sagt er. | |
Mehrere Sozialarbeiter*innen der SeWo berichten, dass die Stadt auf Fragen | |
nach einem Hygienekonzept in der Mehrbettunterbringung nur lapidar | |
geantwortet hätte: Man solle doch lüften. | |
Die Stadt Hannover bewertet die bisherige Unterbringung hingegen positiv: | |
„Die Nothilfe für Obdachlose in Hannover während der Akut-Phase der | |
Corona-Pandemie ist ein Erfolgsmodell“, heißt es in einer Pressemitteilung. | |
„Sie gibt hilfreiche und ermutigende Hinweise für weitergehende Konzepte | |
zur Betreuung von obdachlosen Menschen.“ Die Unterbringung im | |
Naturfreundehaus sei von vornherein befristet gewesen. | |
Man arbeite für das kommende Jahr an einer nachhaltigeren Lösung und suche | |
eine Immobilie. Auch mit Blick auf den kommenden Winter gibt sich die Stadt | |
positiv: „Die gewohnten und etablierten Anlaufstellen für Obdachlose in | |
Hannover sind auf die aktuellen Herausforderungen vorbereitet. | |
Hygienekonzepte wurden über den Sommer hinweg angepasst.“ Es stünden 220 | |
Betten in Notschlafstellen bereit. | |
Jan Ulrichs möchte diese Darstellung nicht unwidersprochen stehen lassen. | |
Während die Aktivist*innen draußen vor der Tür skandieren, sitzt er in der | |
Bürger*innenfragestunde des Bauausschusses der Stadt. Ulrichs ist | |
Geschäftsführer der Sewo. Wie die Betroffenen beklagt er den Mangel an | |
Hygienekonzepten und Kapazitäten. Er und seine Kolleg*innen täten alles, um | |
die städtischen Hygieneempfehlungen in den Tagesaufenthalten und | |
Unterkünften einzuhalten. Dennoch zweifele er an deren Wirksamkeit. | |
So sei ihm der Fall einer unter Fieber leidenden Frau bekannt, die ohne | |
Coronatest einer Massenunterkunft zugewiesen wurde. „Mir drängt sich die | |
Frage auf, wie in Zukunft verhindert werden kann, dass mit Corona | |
infizierte Menschen das Virus in die Unterbringungen bringen.“ | |
## Wohin im Winter? | |
Laut Ulrichs sichere das Jobcenter zwar zu, eine Hotelunterbringung zu | |
übernehmen, wenn diese als ordnungsrechtliche Unterbringung deklariert | |
werde. „Das passiert aber durch die Stadt Hannover nicht und scheitert an | |
Unwillen“, kritisiert Ulrichs. „Die Situation ist identisch wie vor der | |
Pandemie.“ | |
[3][Und wo sollten die Menschen bleiben], für die nun kein Platz mehr sei? | |
Aufgrund von Corona könne man weniger Menschen tagsüber einen Ort des | |
Rückzugs bieten. Im letzten Winter hätten aber etwa 2.000 Personen Angebote | |
wie den Tagestreff am Nordbahnhof wahrgenommen. | |
Ein Mitarbeiter der Stadt äußerte sich im Ausschuss zu den Schilderungen | |
Ulrichs und versicherte, es gäbe ausreichend Plätze in städtischen | |
Unterbringungen. Abstands- und Hygienemaßnahmen könnten eingehalten werden. | |
Zudem würden Möglichkeiten geprüft, um tagsüber weitere Einrichtungen zu | |
öffnen. Gemeinsam mit der Region Hannover seien Quarantänestandpunkte | |
geschaffen worden. Doch: „Eine standardisierte Eingangstestung ist bisher | |
noch nicht leistbar.“ | |
Der betroffene Bauer ärgert sich über diese Einschätzung der Stadt: | |
„Solange es keine vernünftige Perspektive gibt und sich Verantwortliche der | |
Verantwortung entziehen, braucht sich der ‚Normalbürger‘ nicht mokieren, | |
wenn er die ‚Penner‘, ‚Obdachlosen‘, ‚Faulenzer‘ und ‚Habenichtse… | |
der Stadt vor dem eigenen zu Hause oder in der persönlichen Komfortzone | |
ertragen muss.“ Er fordert, dass „menschenunwürdige Unterbringungen“ | |
abgeschafft werden. | |
13 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Michael Trammer | |
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