# taz.de -- Berlinale „Mid90s“: Devianz unter kalifornischer Sonne | |
> Ein Teenie entflieht der Familienhölle und gewinnt Streetsmartness in der | |
> Skaterszene. Über das Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill. | |
Bild: Die Skaterclique aus „Mid90s“ | |
Grind heißt das archetypische Geräusch des Skateboards: ein schleifendes | |
Kreischen, hervorgerufen durch die Wheels, die Gummireifen der Rollbretter, | |
wenn sie auf Asphalt und Beton quergestellt werden, über ebene Flächen | |
kratzen. „Mid90s“, das Spielfilmregiedebüt des US-Schauspielers Jonah Hill, | |
hat auf der Tonspur reichlich Platz für Grinds. | |
Irgendwo in der Suburbia um Los Angeles, im Geflecht der Freeways, | |
vierspurigen Avenues und Bungalow-Siedlungen, lebt der 13-jährige Stevie | |
zusammen mit seinem älteren Bruder Ian und der alleinerziehenden Mutter | |
Dabney. | |
Der 16-jährige Ian ist ein „Jock“, ein Testosteron-geladener Collegeboy mit | |
Hockey-Hair (Vokuhila), Bodybuilding-Fimmel und HipHop-Tape-Sammlung; | |
Dabney ist berufstätig, hat Liebeskummer und ein schlechtes Gewissen, was | |
die mangelnde Betreuung ihres jüngsten Sohnes anbelangt. | |
Und Ian, der ein bisschen Vater-Ersatz mimt, vertrimmt Stevie, wenn dieser | |
in seinem Zimmer schnüffelt, heimlich Tapes durchhört oder die penibel im | |
Regal angeordneten Basecaps anprobiert. Die dumpfen Schläge, die peinvollen | |
Verfolgungsjagden im Haus, die quälende Folter des Schwitzkastens, Ian | |
kostet seine Macht mit Sadismus aus. | |
## Höheren Bullshit palavern | |
Das hierarchische Gefüge ändert sich, als Stevie auf dem Boulevard nahe | |
seinem Zuhause einen Skateshop entdeckt und in die Subkultur abtaucht: Im | |
Hinterzimmer hockt eine Posse, Blunts rauchend, Orangensaft aus | |
Plastik-Kanistern trinkend und höheren Bullshit palavernd: 4th Grade, | |
Fuckshit, Ray und Ruben, eine ziemlich diverse Clique. Alle vier älter und | |
cooler als Stevie. | |
In den tribalistischen Zeichensystemen von Skateboards, Punk und HipHop | |
sind sie zu Hause. Ihretwegen lernt Stevie Skateboarden und bekommt bei | |
einer quasiphilosophischen Diskussion über Rassismus einen Spitznamen | |
verpasst, weil er wissen möchte, ob Schwarze auch Sonnenbrand bekommen: | |
Sunburn. Als Sunburn entfremdet sich Stevie von seinem Bruder und der | |
Mutter. | |
Und hier beginnt der choreografische Teil von „Mid90s“: Die kinetische | |
Energie des Skatens, das Anschieben, Abspringen und Austricksen, was | |
mangels Half Pipes und Bahnen im illegalen Aneignen von städtischer | |
Infrastruktur fruchtet. | |
## Katz-und-Maus-Spiel | |
Man sieht die Posse beim Skaten an öffentlichen Gebäuden, Treppengeländern, | |
auf Schulhausdächern und dem Mittelstreifen mehrspuriger Straßen inmitten | |
von kalifornischer Autokultur und der Monotonie des ewigen Sommers. Und das | |
ist das Verdienst des Films, der die Ästhetik des Skatens nicht zu stark | |
betont und das anarchische Element dieser Kultur anschaulich vermittelt. | |
Was hierzulande mit dem Begriff „Fun Sport“ eingehegt ist, ist in den USA, | |
besonders in der kalifornischen Suburbia, Ausdruck von Devianz. Ein Sport | |
ist es schon, aber ohne Vereine und Verbände. Mehr geht es um Mutproben und | |
das Steigerungspotenzial absurder Geschicklichkeit. Die Posse liefert sich | |
ein Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei und privaten Wachdiensten, Lehrern und | |
Eltern. Je mehr „Sunburn“ von der Streetsmartness der Skater lernt, desto | |
weiter entfernt er sich von der Familie. | |
Die Darsteller sind teils aus der Skaterszene gecastet, Laienschauspieler. | |
In den Dialogen bekommt das akrobatische Lebensgefühl des Skatens Farbe. | |
Schwächen zeigt „Mid90s“ ausgerechnet dann, wenn er versucht, über den von | |
Trent Reznor zusammengestellten Soundtrack Codes herzustellen. Das wäre gar | |
nicht nötig gewesen, denn die Grinds sind Musik genug. Ein Happy End gibt | |
es nicht, aber es ist eine der poetischsten Codas seit Langem. Nach alter | |
kalifornischer Skaterehre wird sie natürlich nicht gespoilert. | |
12 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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