| # taz.de -- Film der japanischen Regisseurin Hikari: Yuma macht sich endlich fr… | |
| > Im „Panorama“ der Berlinale: „37 Seconds“ erzählt liebevoll eine zwi… | |
| > Abhängigkeit und Ausbruch verlaufende Mutter-Tochter-Beziehung. | |
| Bild: Yuma (Mei Kayama) wird von ihrer Mutter (Misuzu Kanno) kaum aus den Augen… | |
| Gut, wenn jemand da ist, der sich um einen kümmert. Mütter tun so etwas. | |
| Auch bei Yuma. Und da Yuma seit ihrer Geburt an Zerebralparese leidet und | |
| sich nur im Rollstuhl fortbewegen kann, hilft die Mutter ihr bei den | |
| täglichen Verrichtungen. Sie duscht die Tochter ab, hilft ihr über den | |
| Wannenrand – in Japan wäscht man sich vor dem Baden – und bringt sie | |
| morgens zum Bus. | |
| Eigentlich kann Yuma sich nicht beklagen. Bloß ist sie 23 Jahre alt und | |
| damit „technisch“ gesehen erwachsen, wie sie von sich sagt. Einen Job hat | |
| sie auch. Als Comiczeichnerin ist sie die eigentliche kreative Kraft hinter | |
| ihrer Chefin Sayaka (Minori Hagiwara), die mit ihren pastellfarbenen | |
| Gothic-Mädchenkostümen im „Fairy Kei“-Stil eine erfolgreiche Karriere als | |
| Manga-Künstlerin und Bloggerin bestreitet – auf Kosten Yumas, die schlecht | |
| bezahlt als ihre „Assistentin“ im Hintergrund arbeitet. | |
| Yuma, von Mei Kayama virtuos gespielt mit heiser-gehauchter Piepsstimme, | |
| die auf irritierende Weise anrührend klingt, lässt das alles mit sich | |
| machen. Will aber irgendwann nicht mehr. Zaghaft versucht sie, bei Sayakas | |
| Verleger einen Comic unter ihrem Namen zu veröffentlichen. Und wird | |
| freundlich abgewiesen: Sie zeichne einfach „zu nah“ an Sayakas Stil. | |
| Die japanische Regisseurin Hikari beginnt ihren Spielfilm „37 Seconds“ fast | |
| wie ein Jugenddrama, das die Schwierigkeiten eines Menschen zeigt, auf | |
| eigenen Füßen zu stehen, vor allem weil sein Umfeld es nicht zulässt. Die | |
| Mutter nicht, weil sie in ihrer großen Sorge um die Tochter überfürsorglich | |
| auf Yuma aufpasst, aber auch Sayaka nicht, weil sie Yuma das Gefühl | |
| vermittelt, nicht ohne sie und ihre öffentlichkeitswirksame Inszenierung | |
| als Künstlerin bestehen zu können. | |
| ## Mangas für Erwachsene | |
| Dann kippt der Film ins beinah Surreale: Yuma findet auf ihrer Suche nach | |
| einem Abnehmer für ihren Comic zufällig ein paar Mangas „für Erwachsene“ | |
| und beginnt, deren Verleger abzutelefonieren. Nach einigen Abwimmelungen | |
| wird sie schließlich vorgeladen, darf ihre Entwürfe präsentieren. Doch die | |
| Porno-Verlegerin findet die Sexszenen nicht authentisch genug. Sie gibt | |
| Yuma den Rat, erst ein paar „Erfahrungen“ zu sammeln, um aus eigener | |
| Anschauung zeichnen zu können. Die Konstellation hat allemal etwas | |
| Komisches. | |
| Denn die in vielen Lebensdingen – Liebesdinge eingeschlossen – unkundige | |
| Yuma macht sich fortan heimlich auf den Weg ins örtliche Rotlichtmilieu, um | |
| sich dort einen Mann zu suchen. Was als Handlungsstrang sehr doof hätte | |
| geraten können, wäre da nicht Mei Kayama, der Yuma so | |
| unschuldig-entschlossen auf Entdeckungsreise durch den Sperrbezirk und in | |
| Sexshops rollt, dass man dem Film manche sexfolkloristischen Schlenker | |
| verzeiht. Auch den Dildo, den sie für ihre Zeichenversuche erwirbt. | |
| Ohnehin hat die drastische Episode in erster Linie den Zweck zu | |
| verdeutlichen: Bei dieser Frau gerät etwas in Bewegung. Ob auch körperliche | |
| Intimität darunter sein wird, sei an dieser Stelle nicht weiter verraten. | |
| ## Ausbruchsversuch | |
| Und so konsequent, wie Hikari den Wechsel von Yumas Abhängigkeit von der | |
| Helikoptermutter, liebevoll-ängstlich gegeben von Misuzu Kanno, hin zum | |
| sexuellen Ausbruchsversuch, der in seiner Unbedarftheit zum Scheitern | |
| verurteilt ist, erzählt, wechselt sie im abschließenden Teil des Films noch | |
| einmal komplett die Richtung. | |
| So wird Yuma im Finale eine Reihe von Erfahrungen machen, aus denen sie | |
| eigenständiger, erwachsener und wissender hervorgeht. Sie beginnt, der | |
| eigenen Geschichte nachspüren, erhält Antworten auf Fragen, die sie der | |
| Mutter nie gestellt hätte, einfach weil über bestimmte Dinge, so erfährt | |
| man, zu Hause nie gesprochen wurde. | |
| Und irgendwann dreht sich auch das Kräfteverhältnis zwischen Mutter und | |
| Tochter. Zum Guten. Ein leicht versöhnlicher, von seiner Hauptdarstellerin | |
| getragener Film, der die Außenseiterin Yuma nicht als anders ausstellt, | |
| sondern an einem extremen Beispiel vorführt, wie Erwachsenwerden ermöglicht | |
| oder verhindert werden kann. | |
| 13 Feb 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
| Japan | |
| Manga | |
| Mutter-Tochter-Beziehung | |
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