# taz.de -- Die Wahrheit: Tristesse mit Rehen | |
> Warum die Autofahrernation Deutschland ein Tempolimit von 130 | |
> Stundenkilometern nicht verkraften würde? Das zeigt nun eine Dystopie. | |
Bild: Niederwild wurde hierzulande hauptsächlich von pfeilschnellen Autofahrer… | |
Die Sonne scheint auf den Parkplatz „Gallensteiner Bruch“ an der A7. Ruhe | |
liegt über der Szenerie, die lediglich vom Gesang kopulationswilliger Vögel | |
gestört wird. Rehe trinken aus dem Bach hinter den verwaisten Klohäuschen. | |
Vorbeirasende Autos sind nicht zu hören, nur ein paar Parkplatzsex-Fans | |
sorgen für erhöhtes Verkehrsaufkommen. | |
Seit der improvisierten Pressekonferenz eines schwer verkaterten | |
Abteilungsleiters des Verkehrsministeriums („Das tritt nach meiner Kenntnis | |
… ist das sofort, unverzüglich.“) vor einer Woche gilt ein Tempolimit von | |
130 Stundenkilometern auf allen deutschen Autobahnen. Sieben Tage, die das | |
Land, in dem bisher Benzin und Motoröl flossen, veränderten. Viele | |
Tankstellen, früher Sehnsuchtsorte der Deutschen, sind seither nicht nur | |
finanziell abgebrannt. Der Umsatzeinbruch zwingt viele Betreiber zum | |
Versicherungsbetrug durch Brandstiftung. | |
## Freiheit im Schnellzug? | |
Und nicht nur der ADAC klagt über zunehmenden Frust der motorisierten | |
Verkehrsteilnehmer. „Wozu braucht man ein Auto, wenn man die Karre nicht | |
mehr auf 340 Sachen treten darf, um sich als halbwegs freier Mensch zu | |
fühlen?“, barmt ein Fahrer über das verlorene Leben auf der Überholspur. | |
Viele Geschwindigkeitsfreunde sind schon auf Schnellzüge umgestiegen und | |
halten bei Tempo 300 den Kopf aus eingeschlagenen Fenstern fahrender ICEs, | |
um wenigstens einen Funken Leben in sich zu spüren. Zumindest, bis ein | |
entgegenkommender Zug diesen Funken erstickt. | |
Auf den Autobahnen herrscht dagegen Tristesse. Die Polizei berichtet von | |
Pendlern, die sich bei der ungewohnt geringen Geschwindigkeit zu Tode | |
gelangweilt haben. Der ADAC rät deshalb, während langer Autofahrten die | |
Konzentration mit rasanten Manövern zu schärfen. „Fahren Sie möglichst nah | |
auf, ziehen abrupt auf eine andere Spur und hupen Sie, was das Zeug hält“, | |
heißt es in einer Broschüre. „Machen Sie also alles wie gewohnt, bloß etwas | |
langsamer.“ | |
## Unbeugsam Schrittgeschwindigkeit | |
Auch das Handy am Steuer soll zur Pflicht werden, um den Nervenkitzel zu | |
erhöhen. „Wenn man nebenbei Candy Crush spielt, kommt einem Tempo 130 | |
doppelt so schnell vor“, stöhnt der Fahrer aus dem Wrack seines Autos, das | |
er zielsicher um den einzigen Baum im Umkreis von Kilometern gewickelt hat. | |
Andere Autoreisende stellen sich Denksportaufgaben bei der Fahrt, machen | |
ihre Steuererklärung oder schneiden schon einmal das Gemüse fürs | |
Abendessen. Doch bei all der Langeweile gibt es ein viel größeres Problem: | |
Deutschland ertrinkt in einer Welle aus Verspätungen. Ganz Deutschland? | |
Nein, ein unbeugsames Bundesland leistet Widerstand, denn auf den | |
überfüllten Autobahnen Nordrhein-Westfalens gilt nach wie vor die gute, | |
alte Schrittgeschwindigkeit. | |
## Widerstand der Waschstraße | |
Die Verspätungen missfallen besonders der Deutschen Bahn, die darin ein | |
Plagiat und eine Beschädigung ihres Markenkerns sieht. Ihr Pressesprecher | |
gibt sich entsprechend schroff: „Eine Äußerung meinerseits entfällt wegen | |
Verzögerungen im Betriebsablauf!“ Ein bundesweiter Warnstreik | |
verspätungsaffiner Lokführer ist bereits geplant, ebenso Maßnahmen der Bahn | |
zur Verdopplung des eigenen Zeitrückstands. | |
Aber auch beim ADAC, in der illegalen Rennszene und auf dem | |
Waschstraßenstrich der Vororte brodelt der Widerstand. Eine weitere | |
katastrophale Woche wird die Geschwindigkeitsbeschränkung kaum überstehen. | |
„Wir planen eine Sternfahrt sämtlicher deutscher Autofahrer nach Berlin“, | |
erklärt ein organisierter Motorsport-Freund im tiefergelegten Wagen, der | |
auf dem Asphalt zu schwimmen scheint. | |
## Beschwerliche Reise | |
Wegen des Tempolimits sei die Reise jedoch beschwerlich und könne Tage, | |
wenn nicht gar Wochen dauern. Deswegen gelte es erst einmal, Proviant zu | |
beschaffen sowie PS-schwache Kfz-Halter vor dem Trip aufzupäppeln oder | |
gleich auf dem Rastplatz auszusetzen. „Sicher, es werden nicht alle | |
überstehen. Aber sie werden ihr Leben für eine gute Sache lassen!“, fügt | |
der Bolidenfreund hinzu und lässt den Motor aufheulen. | |
Die Rehe auf dem Parkplatz an der A7 ahnen nichts von alledem. Einige von | |
ihnen überschreiten gar keck die Autobahn. Was soll ihnen auch passieren? | |
Noch herrscht ein Tempolimit von quälend langsamen 130 Stundenkilometern. | |
Noch. | |
8 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Felix Bartsch | |
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