| # taz.de -- Lebensmittelretterinnen vor Gericht: Strafsache Lebensmittelrettung | |
| > Ein Richter in Bayern bestraft zwei Frauen, die Essen aus dem Abfall | |
| > fischen wollen. Ist weggeworfen weggeworfen? | |
| Bild: Alles gut: Gerettete Lebensmittel und Blümchen | |
| München/Berlin taz | Wenn Juristen die Formulierung „besonders schwer“, | |
| verwenden, erschrickt man immer ein bisschen. Ein besonders schwerer Fall | |
| von Diebstahl ist eben doch heftiger, als jemandem das Portemonnaie aus der | |
| Tasche zu ziehen – was schon verwerflich genug ist. | |
| Aber mit juristischen Bewertungen ist das so eine Sache. Einen besonders | |
| schweren Fall von Diebstahl hat im vergangenen Jahr die Staatsanwaltschaft | |
| zwei Frauen aus Olching vorgeworfen. Ihr Vergehen: Sie haben Lebensmittel | |
| aus dem Müllcontainer eines Supermarkts entwendet. Am Mittwoch wurde die | |
| Sache in Fürstenfeldbruck vor Gericht verhandelt. Heraus kam ein Urteil, | |
| das weder Kläger noch Beklagte zufriedenstellt. | |
| Caro und Franzi, so nennen sich die beiden Beschuldigten, wahlweise | |
| [1][auch die Olchis], nach dem gleichnamigen Buch von Erhard Dietl. Sie | |
| setzten auf einen Freispruch, akzeptierten weder die Strafbefehle über | |
| 1.200 Euro noch eine Einstellung des Verfahrens gegen gemeinnützige Arbeit. | |
| Schließlich ging es ihnen ums Prinzip: Das sogenannte Containern – so | |
| finden die beiden – kann nichts Strafbares sein. Schließlich könne es nicht | |
| angehen, dass Supermärkte noch genießbare Produkte wegwerfen. Wer nun | |
| containern geht, sei es aus Not oder aus Überzeugung, ist nach Ansicht der | |
| Frauen ein Lebensmittelretter. Aber kein Dieb. | |
| Sie selbst retteten in ihrer Logik in einer Sommernacht des vergangenen | |
| Jahres Obst, Gemüse und Milchprodukte aus dem Müll des Olchinger | |
| Edeka-Marktes. „Wir lieben Lebensmittel“, hat sich die Supermarktkette auf | |
| die Werbeflächen geschrieben, was aber offenbar nicht heißen muss, dass die | |
| geliebten Lebensmittel auch tatsächlich als Mittel zum Leben zum Einsatz | |
| kommen müssen. | |
| ## Warenwert gleich Null | |
| Als die beiden Frauen von der Polizei überrascht wurden, fanden die Beamten | |
| Waren im Wert von rund 100 Euro in ihren Rucksäcken. So argumentierte | |
| zumindest die Staatsanwaltschaft, die ihre Anklage wegen des „öffentlichen | |
| Interesses“ auch aufrecht erhielt, als der Marktleiter seine Klage schon | |
| längst zurückgezogen hatte. Vermutlich auch wegen des zu großen Interesses | |
| der Öffentlichkeit. Eine Rechnung, die der Richter jedoch nicht | |
| nachvollziehen konnte. 100 Euro, das sei vielleicht der Wert gewesen, den | |
| die Waren noch im Laden gehabt hätten, befand er. Zum Zeitpunkt des | |
| Diebstahls seien Bananen, Salat und das übrige Diebesgut aber praktisch | |
| wertlos gewesen. Müll eben. | |
| Das Urteil war denn auch milde, aber eben kein Freispruch. Der Richter | |
| sprach die Frauen des gemeinschaftlichen Diebstahls schuldig und verwarnte | |
| sie. Eine Geldstrafe von je 225 Euro setzte er zur Bewährung aus. Acht | |
| Stunden müssen die beiden bei der örtlichen Tafel helfen. | |
| In Olching kamen am Mittwoch rund hundert Leute zu einer | |
| Solidaritätsveranstaltung zusammen. „Kann Containern Sünde sein?“ oder | |
| „Taste the waste“ hatten sie auf ihre Schilder geschrieben. Oder: „Essen | |
| auf den Teller, Kapitalismus in die Tonne“. Für das leibliche Wohl war | |
| gesorgt – aus Containerware, versteht sich. | |
| Die [2][Verschwendung von Lebensmitteln] ist ein enormes Problem vor allem | |
| in den Industriestaaten. Laut FAO, der Ernährungs- und | |
| Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, werden derzeit im Jahr | |
| rund 1,3 Milliarden Tonnen essbare Lebensmittel weggeworfen. In Deutschland | |
| liegen die Schätzungen jedes Jahr zwischen 11 und 18 Millionen Tonnen | |
| [3][für Lebensmittel, die im Abfall landen]. | |
| ## Apps gegen Lebensmittelverschwendung | |
| Die Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag bis 2030 die | |
| Lebensmittelverschwendung pro Kopf halbieren und gleichzeitig Verluste bei | |
| Produktions- und Lieferketten verringern. Dafür setzt | |
| Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) auf die | |
| Informationskampagne „[4][Zu gut für die Tonne!]“, um Bewusstsein und | |
| Wertschätzung für Nahrungsmittel zu beschwören. Die Initiative ist das | |
| Herzstück der neuen „Strategie zur Reduzierung der | |
| Lebensmittelverschwendung“, die das Ministerium noch mit Ländern und | |
| Verbänden erarbeitet. Bereits ihr Vorgänger Christian Schmidt (CSU) hat auf | |
| solche Kampagnen gesetzt. Passiert ist letztlich nicht viel. | |
| Dafür haben Aktivist*innen die Rettung von Lebensmitteln zum | |
| Geschäftsmodell gemacht und etliche Firmen gegründet. Mit Apps wie | |
| „[5][TooGoodToGo]“ und „[6][ResQ Club]“ kann man sich noch die letzten | |
| Speisen aus Restaurants, Bäckereien und Cafés zur Verfügung stellen lassen. | |
| Lokale, die noch Mahlzeiten übrighaben, bieten sie über die Plattformen zu | |
| vergünstigten Preisen an, die Nutzer können sie sich dann in der Regel kurz | |
| vor Ladenschluss abholen. Im Onlineshop „[7][Sirplus]“, der mit Produzenten | |
| und Großhändlern zusammenarbeitet, kann man „gerettete“ Lebensmittel | |
| kaufen, zu reduzierten Preisen. Das Sortiment ist begrenzt, das | |
| Ladenkonzept hat aber bundesweit viele Fans. | |
| Das sogenannte Containern fällt in eine juristische Grauzone. Hier klettern | |
| Aktivisten in Abfallcontainer, um allerlei weggeworfene Lebensmittel zu | |
| bergen. Die Aktionen sind in der Regel nicht legal und gelten damit als | |
| Straftat. | |
| Wer das verzäunte – in der Fachsprache befriedete – Grundstück eines | |
| Supermarkts betritt, macht sich des Hausfriedensbruchs schuldig. Bricht ein | |
| sogenannter Mülltaucher dabei Schlösser und Container auf, begeht er auch | |
| noch Sachbeschädigung. Und nicht zuletzt steht der Vorwurf des Diebstahls | |
| im Raum, wenn das Essen eigentlich gerettet wird. | |
| Aber der Gesetzgeber lässt hier Spielräume zu. Es ist umstritten, ob | |
| weggeworfene Lebensmittel im juristischen Sinne „fremd“ und somit | |
| „diebstahlsfähig“ sind, solange der Supermarkt sein Eigentum, also die | |
| Lebensmittel, und seinen Besitzwillen daran noch nicht aufgegeben und die | |
| Waren somit „herrenlos“ gemacht hat. „Wann die Supermarktbetreiber das tu… | |
| ist weder höchstrichterlich noch in der juristischen Literatur geklärt“, | |
| schreibt das Onlinemagazin für Rechtsfragen Legal Tribute Online. | |
| Formal ist es zwar möglich, etwas zu stehlen, was andere weggeworfen haben. | |
| Aber Staatsanwaltschaften stellen solche Verfahren häufig eher ein, als sie | |
| lange Zeit weiter laufen zu lassen. Ihre Gründe: Es mangelt an Beweisen | |
| oder die Verfahren sind schlicht nicht wichtig genug. | |
| Caro und Franzi, die beiden verurteilten Mülltaucherinnen, haben indes eine | |
| Petition gestartet. Der Titel: „[8][Containern ist kein Verbrechen! Wir | |
| brauchen eine Gesetzesänderung].“ Dort heißt es: „Ist es gerecht, wenn in | |
| Zeiten der Klimaerwärmung und zunehmender Ressourcenknappheit die | |
| Verschwendung straflos bleibt und die Sparsamkeit zum Verbrechen wird?“ | |
| Fast 90.000 Menschen hatten bis Donnerstag bereits unterschrieben. | |
| 31 Jan 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-Zukunft-des-Lesens/!5329201 | |
| [2] /Gruene-Woche-Lebensmittel-retten/!5477876 | |
| [3] /Supermarkt-fuer-Foodsharer-in-Berlin/!5442798 | |
| [4] https://www.zugutfuerdietonne.de/ | |
| [5] https://toogoodtogo.de/de | |
| [6] https://www.resq-club.com/de/ | |
| [7] https://sirplus.de/ | |
| [8] https://weact.campact.de/petitions/containern-ist-kein-verbrechen-1 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
| Sinan Recber | |
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