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# taz.de -- Die Zukunft des Lesens: Und das Sams verstaubt im Regal
> Der Hamburger Kinderbuchverlag Oetinger ist durch Pippi Langstrumpf und
> das Sams groß geworden. Gut verkaufen sich diese Heile-Welt-Geschichten
> heute nicht mehr
Bild: Heute auf dem Buchmarkt nicht mehr gefragt: Das Sams. Kann dafür in der …
Hamburg taz | Alles begann mit einer Reise nach Schweden. Es war das
Frühjahr 1949, Friedrich Oetinger machte sich von seinem damaligen Wohnort
Ahrensburg auf den Weg nach Stockholm. Seit drei Jahren führte der
Buchhändler und Antiquar nun seinen kleinen Verlag, in dem er wirtschafts-
und sozialpolitische Schriften herausgab. Am 12. Juni 1946 hatte er von der
britischen Besatzungsbehörde die Lizenz zum Verlegen erhalten.
Damals erledigte Oetinger seine Verlagsgeschäfte noch in einer
Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Trotz der Papierknappheit und der
Wirtschaftsreform brachte der junge Verleger es im Jahr 1948 auf rund 100
Veröffentlichungen. Ein Jahr später beschloss Friedrich Oetinger eine neue
Linie. Alles Alte und Pädagogisierende sollte der Vergangenheit angehören.
Es war Zeit für Neues.
In Schweden, so hatte Oetinger von einem befreundeten schwedischen
Buchhändler erfahren, seien sie literarisch weiter. „Es gibt viele
talentierte, verlegenswerte schwedische Jugendbuchschriftsteller“, sagte
der Freund. An dessen Namen erinnert sich heute niemand mehr, aber für
Friedrich Oetinger war sofort klar: Diese Jugendbuchautoren wollte er
haben. Die Suche nach ihnen war Zweck der Reise.
Vorbereitet hatte er sie gründlich: Mehrmals fuhr er nach Kiel, wo die
britische Besatzungsbehörde stationiert war, um seinen Pass zu beantragen.
Auch die Einladung des Buchhändlers musste Oetinger vorweisen. Im Frühjahr
1949 konnte er endlich nach Schweden.
Dort, in Sandbergs Buchhandel in Stockholm, fiel ihm gleich ein kleines
Buch ins Auge. Auf dem Cover ein rothaariges Mädchen mit Zöpfen,
längsgestreiften Strümpfen und einer blau-weiß gepunkteten Hose: Pippi
Langstrumpf. Der schwedische Buchhändler erzählte von Astrid Lindgren, der
talentierten Autorin, die gleich um die Ecke des Ladens wohnte. Das wohl
legendärste Treffen in der Oetinger-Verlagsgeschichte sollte kurze Zeit
später folgen.
Lindgren und Oetinger trafen sich in einem Lokal in der Innenstadt.
Oetingers Erscheinung verwunderte die junge Autorin. „Ein Herr mit einem
ziemlich kümmerlich wirkenden Wintermantel. Aber was konnte man anders
erwarten, so kurz nach dem Kriege? Doch er sah auffallend freundlich und
gelockt aus, Franz Schubert ähnlich“, berichtete sie später.
Lindgren war verwundert, dass sich dieser sonderbare Herr für Pippi
Langstrumpf interessierte. Immerhin hatten bereits fünf deutsche Verlage
das Buch abgelehnt, und selbst in Schweden war Pippi Langstrumpf
umstritten. Doch Oetinger war begeistert von diesem Mädchen, das so
bestimmend und frech war, das ohne Eltern lebte und mit zwei ganz normalen
Kindern befreundet war, Tommy und Annika. Oetinger versprach Lindgren
wiederzukommen.
## Pippi wird zum Erfolg
Das tat er auch, mit Folgen: Im September 1949 erschien der erste Band in
Deutschland. Es war ein Erfolg, zumindest im Norden. Im Süden dauerte es
Jahre, bis Pippi Langstrumpf ankam. 1969 war das, als der „Pippi
Langstrumpf“-Film mit Inger Nielsen in die deutschen Kinos kam. Das Eis war
gebrochen, die Verkaufszahlen stiegen. Es war einer der größten Erfolge des
Oetinger-Verlags. Seither hat sich vieles verändert.
Verlagschefin Silke Weitendorf sitzt in ihrem Büro in Hamburg-Duvenstedt.
Ihre Mutter Heidi trat 1948 in den Oetinger-Verlag ein, zunächst als
Sekretärin. Später verliebte sie sich in Friedrich Oetinger – und er sich
in sie. Die beiden heirateten und führten fortan gemeinsam den Verlag.
Weitendorf wuchs mit dem Verlag auf. Seit ihrem 14. Lebensjahr war sie auf
jeder deutschen Buchmesse, sie hegt eine Leidenschaft für Kinder- und
Jugendbücher. Sie lektorierte preisgekrönte Werke von Paul Maar über Astrid
Lindgren bis zu Cornelia Funke.
Heute leitet sie mit ihrem Sohn Till den Oetinger-Verlag. Sie hat die
großen Erfolge und auch die Misserfolge miterlebt. An diesem Nachmittag
erzählt sie viele Anekdoten über Erich Kästner, James Krüss, Michael Ende
und Astrid Lindgren. „Astrid war oft zu Besuch im Wohnhaus meiner Mutter“,
sagt sie. „Sie haben auch regelmäßig telefoniert und am Telefon gelacht,
geweint und gesungen. Astrid sang sehr gerne.“ Mit Paul Maar pflegt
Weitendorf eine enge Freundschaft, genauso mit Cornelia Funke. James Krüss
schrieb zur Geburt ihrer Kinder jedes Mal eine Geschichte. „Das sind
Verbundenheiten, die gewachsen sind“, sagt sie.
Heute hat sich der Verlag vergrößert, jedes Jahr kommen etliche Autoren
hinzu. Mittlerweile verlegt der Oetinger-Verlag 60 Bücher pro Saison. Da
bleibt kaum Zeit, jeden Autor persönlich zu betreuen.
Auch inhaltlich hat sich der Verlag gewandelt. Bereits in den 1970er- und
1980er-Jahren orientierte sich der Verlag am digitalen Wandel und arbeitete
mit der deutschen Grammophon, an Schallplatten- und
Kassettenveröffentlichungen. Mitte der 1990er kamen die CD-ROMs; sieben
Jahre später gründete der Verlag ein eigenes Label und gab seither etliche
DVDs, CDs und E-Books heraus.
Heute spezialisiert sich Oetinger auch auf Kinderbuch-Apps wie etwa das
Super-Buch. Mit dieser Augmented-Reality-App können Kinder mit Hilfe ihres
Smartphones neue Inhalte in den Büchern entdecken. „Wir haben gemerkt, dass
das Digitale das Gedruckte befruchtet – und andersherum“, sagt die
Verlagschefin. Sie selbst lese am liebsten auf Papier, sagt sie, ein
Lesegerät besitze sie nicht: „Ich bin da sehr altmodisch.“
## Keine Zeit mehr zum Lesen
Anders sei das bei der Zielgruppe des Verlags. „Viele junge Leser haben gar
keine Zeit mehr zum Lesen“, sagt Weitendorf. E-Books allerdings seien kein
Thema. Kinder und Jugendliche läsen auf Smartphones oder auf Papier. Auch
halte sich eine Lesegemeinde, die „zum gedruckten Buch gefunden hat und
sich seither vom Buch fangen lässt“. Insgesamt läsen die Menschen aber
schon weniger als früher. Vor allem Sachbücher hätten es schwer, Wikipedia
sei Dank. Deshalb hat Oetinger seine Sachbuchreihe eingestellt. Die
Alternative: mehr spannende Inhalte, mit denen sich die Zielgruppe
identifizieren könne.
Aber welche können das sein? Auf dem Fensterbrett von Silke Weitendorfs
Büro stehen Puppen, Figuren und Kuscheltiere. Pippi Langstrumpf sitzt am
Fenster, daneben das Sams, die Olchis. Sie wirken verstaubt. „Heutzutage
gibt es in den Büchern inhaltlich keine Tabus mehr“, sagt Weitendorf.
Das habe Anfang der 2000er angefangen, als erste Bücher über
Scheidungskinder erschienen. Danach weitete sich das Spektrum:
Alkoholismus, Drogen, Süchte, Sex, gleichgeschlechtliche Liebe. Doch es
gebe Grenzen. „Alles, was mit Gewalt oder Gewaltanwendung zu hat, würden
wir nicht verlegen“, sagt Weitendorf. Auch keine politisierenden oder
religiös-politisierenden Titel. „Letztendlich haben wir eine Aufgabe als
Kinder- und Jugendbuchverleger“, sagt sie. Dazu gehöre die Vermittlung von
Werten.
Also doch zurück zu Pippi und Sams? Nein, diese Werke liegen heute nur noch
in den obersten Regalen der Buchhandlungen, sind längst keine
Kassenschlager mehr. Allerdings, nicht nur die Inhalte haben sich
gewandelt, sondern auch die Sprache. „Früher mussten wir jedes Buch vor der
Veröffentlichung an den Jugendschriftenausschuss schicken“, sagt die
Verlagschefin. „Wir warteten immer gebannt auf dessen Urteil.“ Deswegen
habe der Verlag jeden Text genau auseinandergenommen. Weitendorf erinnert
sich noch gut an stundenlange Besprechungen mit Autoren, Lektoren und
Händlern.
Heute gebe es solche langwierigen Diskurse überhaupt nicht mehr; alles sei
schnelllebiger geworden. Auch müsse man sich auf „immer weiter einbrechende
Märkte einstellen“, sagt Weitendorf. Das liege aber weniger am technischen
Wandel, als an den Veränderungen im Buchhandel, findet Wetendorf. Kleinere
Buchhandlungen schlössen, große Ketten verkleinerten ihre Verkaufsflächen
und füllten sie mit Geschenkartikeln. „Für das Buch bleiben vielleicht noch
70 Prozent der Flächen“, sagt Silke Weitendorf. „Davon nehmen Kinder- und
Jugendbücher nur noch knapp ein Drittel ein.“
8 Aug 2016
## AUTOREN
Anna Gröhn
## TAGS
Kinderbuch
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Smartphone
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Astrid Lindgren
Hexen
Astrid Lindgren
Maulwurf
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Märchen
Sharon Dodua Otoo
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