# taz.de -- Geflüchtete in Ägypten: Vom Mittelmeer an die Ufer des Nils | |
> Wohin mit Geflüchteten, die im Mittelmeer gerettet werden? Ein Besuch bei | |
> Menschen in Kairo, die am Rand der Gesellschaft leben. | |
Bild: Alleinerziehende Mütter auf der Flucht haben es besonders schwer | |
KAIRO taz | In Europa ist Ägyptens Präsident ein gern gesehener Gast, | |
zuletzt beim [1][Wiener Afrikagipfel im Dezember]. Seit Jahren vermarktet | |
Abdel Fattah al-Sisi sein Land erfolgreich als Partner der Europäer im | |
Antiterrorkampf und der Migrationspolitik. Bundeskanzlerin Angela Merkel | |
sprach ihm Anerkennung aus, weil es „de facto keine Migration von Ägypten | |
nach Europa gibt, obwohl dort viele Flüchtlinge leben“. | |
Auch der österreichische Kanzler Sebastian Kurz erklärte während der | |
österreichischen EU-Ratspräsidentschaft, dass man mit Ägypten über „eine | |
vertiefte Zusammenarbeit verhandelt, um die illegale Migration | |
einzudämmen“. Seit Ende 2016 fahren auf Druck der EU kaum mehr | |
Flüchtlingsboote von der ägyptischen Küste los, weil diese stärker | |
kontrolliert wird. | |
Zwar scheint die Diskussion über [2][„Ausschiffungsplattformen“ in | |
Nordafrika] vom Tisch, auf die sich die EU-Regierungschefs in einer | |
dramatischen Gipfelnacht in Brüssel im Juni geeinigt hatten. In diese | |
Einrichtungen sollten die auf dem Meer Geretteten gebracht werden. Nun ist | |
hinter den Kulissen die Rede davon, dass die ägyptische Küstenwache auch | |
die benachbarten libyschen Gewässer kontrollieren könnte. Doch die Frage | |
bleibt: Wohin mit den aufgebrachten Flüchtlingen? Zurück nach Libyen, von | |
wo sie gekommen sind? Die verheerenden Verhältnisse in dem Bürgerkriegsland | |
sprechen dagegen. Die Alternative wäre Ägypten. | |
Im Land am Nil beginnt das Chaos derweil bereits bei den Zahlen. Wie viele | |
[3][Flüchtlinge schon jetzt in Ägypten leben], weiß niemand genau. 240.000 | |
sind bei der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR registriert, vor allem Syrer, | |
Iraker, Sudanesen, Eritreer, Äthiopier und Somalier. Hilfsorganisationen | |
schätzen, dass mindestens 1 Million Flüchtlinge im Land leben. Und die | |
Regierung spricht von 5 Millionen. | |
## 30 Dollar im Monat für vier Kinder | |
Flüchtlingslager gibt es in Ägypten keine. Die meisten Flüchtlinge leben in | |
den Armenvierteln Kairos. Die UNO ist für ihre Registrierung und Versorgung | |
zuständig. Doch beim UNHCR in Ägypten herrscht Geldmangel. Weniger als 60 | |
Prozent des geforderten Budgets seien im vergangenen Jahr gedeckt gewesen, | |
sagt die UNHCR-Sprecherin Christine Beshay in Kairo. „Wir würden gerne alle | |
Flüchtlinge, die in Not sind, unterstützen, aber wir müssen auswählen und | |
Prioritäten setzen.“ | |
Was das bedeutet, weiß die österreichische Sozialarbeiterin Pamela Groder | |
von der Hilfsorganisation Stars in Kairo: „Eine alleinerziehende Mutter mit | |
drei Kindern bekommt keine Unterstützung. Die Hilfe fängt normalerweise | |
erst an, wenn sie vier Kinder hat.“ Dann bekommen die Mütter 30 Dollar im | |
Monat. Viele Mütter seien gezwungen, arbeiten zu gehen, sagt Groder. „Oft | |
sperren sie ihre kleinen Kinder währenddessen zu Hause ein.“ | |
Zu den Alleinerziehenden gehört die Sudanesin Umm Hussain Harun. Ein Kind | |
hat sie auf dem Arm, ein anderes an der Hand, das dritte läuft allein. So | |
laviert sie sich und ihre Kinder Tag für Tag eine gute Stunde durch den | |
dichten Kairoer Verkehr hin zu einem von der sudanesischen Gemeinschaft | |
selbst organisierten Kindergarten im Armenviertel Ain Schams. | |
## Sexualisierte Gewalt im Alltag | |
Hier geben einige Sudanesinnen ihre Kinder ab, bevor sie meist als | |
Hausmädchen arbeiten gehen. „Meine Kinder sind psychisch angeschlagen, weil | |
ich sie früher immer eingesperrt habe“, erinnert sich Umm Hussain Harun an | |
die Zeit vor dem Kindergarten. „Besonders einer wollte mich nie gehen | |
lassen. ‚Warum sperrst du uns ein?‘, hat er geschrien.“ Wenn die Mütter | |
ihre Kinder nachmittags abholen, setzten sich viele kurz hin, um zu | |
verschnaufen, erzählt Shazlia al-Naim Muhammad, die Leiterin des | |
Kindergartens. „Immer wieder kommt es vor, dass eine anfängt zu weinen, | |
weil sie sexuell belästigt oder um ihren Tageslohn betrogen wurde.“ | |
[4][Sexualisierte Gewalt gehört für viele zur Tagesordnung]. | |
„Alleinerziehende Mütter haben es besonders schwer“, berichtet eine | |
Eritreerin aus einem Armenviertel in Süd-Kairo. Ein Autorikscha-Fahrer habe | |
ihre Freundin einmal zur Arbeit gefahren, ihr auf dem Rückweg aufgelauert | |
und sie vergewaltigt. „Als sie erfuhr, dass sie schwanger war, trank sie | |
Chlorreiniger, um sich umzubringen.“ Dann macht die Frau, die ihren Namen | |
nicht in der Zeitung lesen will, eine Pause. Tränen laufen über ihr | |
Gesicht. „Zuvor war meine Freundin noch bei mir, um sich zu verabschieden.“ | |
Und auch sie selbst sei vergewaltigt worden. Nun habe sie Angst, dass das | |
Gleiche ihrer 13-jährigen Tochter zustößt. | |
Durch den Geldmangel beim UNHCR ist auch die medizinische Versorgung der | |
Flüchtlinge eingeschränkt. Eine Grundleistung sei gewährleistet, sagt | |
Groder. Was darüber hinausgehe, könne aber nicht finanziert werden, mit | |
Ausnahme von lebensrettenden Operationen. Immer wieder komme es vor, dass | |
ein Mensch nicht medizinisch versorgt werde, bis seine Organe versagen. | |
Weil dann eine lebensrettende OP notwendig werde, zahle das UNHCR | |
schließlich doch. | |
## Keine angemessene medizinische Versorgung | |
Langwierige und teure medizinische Behandlungen seien aber ausgeschlossen. | |
„Wenn eine Person unter Krebs leidet“, erklärt Groder, „wird im Glücksf… | |
noch die erste Sitzung der Chemotherapie bezahlt. Danach muss sie schauen, | |
wie sie selbst bezahlt, was in vielen Fällen einem Todesurteil | |
gleichkommt.“ | |
Mit der Sudanesin Muhasen, die nur ihren Vornamen veröffentlicht sehen | |
will, bekommen diese Fälle ein Gesicht. Mit drei Kindern und ihrer Mutter | |
lebt sie in einer bescheidenen Wohnung in Kairo. Muhasen hat Lungenkrebs, | |
doch das UNHCR finanziert ihre Behandlung nicht. „Mein Traum ist, an einem | |
Ort zu leben, an dem ich eine angemessene Behandlung bekomme“, sagt sie. | |
Dass Muhasen sich diesen Wunsch erfüllt und einen Schlepper bezahlt, um | |
sich auf den Weg nach Europa zu machen, darüber muss man sich in Europa | |
aber keine Sorgen machen. „Manchmal fehlt mir sogar das Geld für die Fahrt | |
zum Arzt.“ | |
Während immer klarer wird, dass die Europäer in Libyen – von | |
[5][zwielichtigen Milizen] und einer einflusslosen Regierung abgesehen – | |
keinen Ansprechpartner haben, soll nun Ägypten der europäische | |
Musterschüler in Sachen Flüchtlinge in Nordafrika werden. „Ägypten ist ein | |
Land mit wenigen Ressourcen“, sagt Sozialarbeiterin Groder. „Nun soll es | |
nicht nur die Flüchtlinge aus all den umliegenden Krisengebieten aufnehmen, | |
sondern auch noch Flüchtlinge vom Mittelmeer. Das, sagt Groder, könne auf | |
Dauer nicht gut gehen. | |
3 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Migrationspakt-der-Vereinten-Nationen/!5545500 | |
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[4] /Gewalt-gegen-weibliche-Fluechtlinge/!5268705 | |
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## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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