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# taz.de -- Die Wahrheit: Edelboten ersetzen Eilboten
> Vor den geschenkreichen Festtagen gibt es endlich Paket- und
> Lieferdienste mit ethisch hervorragenden Arbeitsbedingungen.
Bild: Ein Hü und Hott: Vor Weihnachten herrscht schwerer Lieferverkehr an alle…
Früher war die Welt noch in Ordnung: Weihnachtsgeschenke wurden nicht im
Internet bestellt, und bei der Bundespost transportierten gut besoldete
Beamte vor den Feiertagen lediglich Grußkarten und „Päckchen nach drüben�…
Doch seit DDR und Post privatisiert wurden und der Weihnachtsmann seinen
Dienst quittiert hat, steigt die Zahl der Paketlieferungen Jahr für Jahr
und damit der Bedarf an Lieferanten.
Die Arbeitsbedingungen bei den großen Paketzustelldiensten sind miserabel.
Überstunden, schlechte Bezahlung sowie ein undurchsichtiges System aus
Subunternehmen mit noch schlechteren Arbeitsbedingungen lassen
moralsensible Kunden verzweifeln: Wie sollen sie ihre Weihnachtsgeschenke
versenden, ohne sich am Ausbeutungszirkus mitschuldig zu machen?
Glücklicherweise regelt der heilige St. Markt auch diesen Fall, und so
entstehen derzeit überall im Land Start-ups mit dem Versprechen ethisch
astrein gelieferter Pakete.
Einer, der die Postwertzeichen der Zeit erkannt hat, ist der Lübecker
Jungunternehmer Ferdinand Niemeyer. Nach entbehrungsreichen Jahren als
Hilfszusteller mit eigenem Hackenporsche bei verschiedenen Paketboten wagte
der optimistische Zahnarztsohn vergangenes Frühjahr den Sprung in die
Selbständigkeit. Startkapital: die Kutsche seiner Großeltern und ein Sack
voll Hosenknöpfe. Die Hosenknöpfe tauschte er gegen zwei Pferde, mit dem
Gespann fuhr er von Haus zu Haus und bot seine ökologisch und menschlich
tadellosen Dienste an.
Besonders reiche Leute zeigten sich von der Idee begeistert, für eine
Versandmethode aus dem 19. Jahrhundert viel Geld zu bezahlen. „Je mehr ich
verlangte, desto beliebter wurde mein Service“, erinnert sich Niemeyer und
rückt Frack und Zylinder gerade. „Für viele ist es eine Möglichkeit, der
Geschwindigkeit und Rationalität unserer modernen Welt etwas
entgegenzusetzen, wenn sie Tausende Euro Porto für ein Päckchen bezahlen,
das mit Glück in drei Wochen ankommt.“
## Slow food, slow life, slow delivery
Um anspruchsvolle Kundschaft zufriedenzustellen, hat Niemeyer die Kutsche
mit Verzierungen aus der Biedermeierzeit schmücken lassen, bei Ankunft
ertönt das Posthorn, gegen Aufpreis rezitiert er im Überbringen der Sendung
Gedichte von Eichendorff oder Mörike. „Slow Delivery“ nennt der
Studienabbrecher (Philosophie) seine Philosophie: „Ich möchte die
Zeitlichkeit des Weges und die Tugend der Großzügigkeit ins Zentrum meines
Gütertransports stellen, das Verschicken und Empfangen von Paketen wieder
als bewussten Prozess der Geld- und Zeitverschwendung etablieren.“ Dann
lässt er von seinem Schülerpraktikanten anspannen, besteigt den Kutschbock
und zuckelt gemächlich Richtung Augsburg, ein Marzipanbrot zu überreichen.
Die Kunden schätzten die neue Angebotsvielfalt, ein jeder findet sein
Lieblings-Start-up. Ob die Zustellung antiquiert zeitaufwendig erfolgt wie
bei Niemeyer oder modern per Direktschuss aus dem Bordraketenwerfer eines
ausrangierten Kampfhubschraubers – was zählt, ist das gute Gefühl,
angemessenen für eine Dienstleistung zu bezahlen, die zur eigenen
Persönlichkeit passt.
Mariella Karmelin raucht auf dem Kanapee im Westflügel ihrer Heidelberger
Villa feinsten mauretanischen Tabak und spielt mit ihren dunklen Locken.
Sie erinnert sich noch gut an die Gewissensbisse, wenn sie wieder einmal
Babyrobbenpelze oder Elfenbeinbrieföffner im Otto-Katalog bestellt hatte,
obwohl sie eigentlich nichts davon brauchte. Denn sie wusste um die
grausame Ausbeutung des Personals bei den Logistikfirmen und suchte lange
nach einer moralisch akzeptablen Alternative.
## Die DHL verdient schnell
Inzwischen hat Karmelin ihre Stammpaketbotin gefunden, eine Familienmutter,
die kürzlich in der Nachbarschaft gebaut hat und im Porsche zustellt. Der
persönliche Kontakt ist beiden wichtig. „So weiß ich, wo mein Geld hingeht,
und wenn Irene mal Sorgen hat, kann sie auch die jederzeit bei mir
abladen“, sagt Karmelin mit Überzeugung in der Stimme. Über jene, die
mittels Discountporto die Verelendung des Botenproletariats vorantreiben,
kann Karmelin nur den Kopf schütteln: „Wir haben es doch in der Hand, ob
Arbeit anständig bezahlt wird, indem wir schlecht entlohnende Unternehmen
boykottieren. Wer Ausbeutung unterstützt, darf sich nicht wundern, selbst
ausgebeutet zu werden.“
Bei den Branchenriesen betrachtet man die Start-up-Konkurrenz mit Sorge.
Eine Liefermanufaktur wie die von Ferdinand Niemeyer überbringt zwei bis
drei Pakete pro Monat und kann unterwegs mehrere Reisende mitnehmen.
Jährlich entgehen so allein der DHL hundert Euro, vielleicht sogar
hundertzwanzig. Geld, das sie ihren Mitarbeitern vom Gehalt abziehen muss.
Doch das Argument, am Minilohn der abhängigen Paketboten Schuld zu tragen,
lässt Niemeyer nicht gelten: „Das wäre ja noch schöner, brrrrr!“ Knirsch…
hält sein Fuhrwerk vor der Herberge für die Nacht. Ein heller Stern
leuchtet über dem Giebel, der Wirt bringt guten Wein. Da klopft ein
Paketbote und liefert frische Gänse für die Küche. In Düsseldorf raucht
Mariella Karmelin Tabak und hört die Englein singen. Es weihnachtet sehr –
für einen Moment scheint die Welt wieder in Ordnung.
18 Dec 2018
## AUTOREN
Valentin Witt
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