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# taz.de -- Die Wahrheit: Weihnachten mit Anführungszeichen
> Ein Weihnachtshasser geht seinen ironischen Weg von Westfalen bis zum
> Prenzlauer Berg. Die wahre Adventsgeschichte.
Bild: Sächsische Sternsinger, voll ironisch unterwegs
„Ach, ich könnte noch so manche Schnurre über Weihnachten erzählen!“,
brummte der freundliche ältere Herr vor dem warmen Kamin in seinen Bart,
und es bestand kein Anlass, an seiner Aussage zu zweifeln, denn schließlich
war er der Weihnachtsmann. „Ach bitte, erzähl doch noch eine. Eine einzige
nur noch!“, bettelten die in seinem Wohnzimmer aufgeregt um ihn
herumspringenden und -balgenden Rentiere, und weil der Weihnachtsmann sich
sorgte, dass sie mit ihren Hufen noch sein ganzes Parkett verschandeln
würden, ließ er sich gar nicht lange bitten.
„Dann erzähle ich euch die Geschichte vom Weihnachtshasser Nepomuk“, hob
der Weihnachtsmann an, und sofort legten die Rentiere sich brav zu seinen
Füßen auf den Boden, um aufmerksam zu lauschen.
„Nepomuk wuchs in den siebziger Jahren auf, als ganz normales Kind irgendwo
in Westfalen. Alles war gut, jedes Jahr feierte er mit seiner Familie
Weihnachten, und ich musste ihm stets ganze Berge von Geschenken bringen,
denn Nepomuk war Einzelkind. Die Stube war stets festlich geschmückt, der
Weihnachtsbaum war die reinste Freude, mit einem goldenen Engel auf der
Spitze und mehr Lametta, als selbst früher üblich war.
Aber dann geschah, was so oft geschah in dieser Zeit: Nepomuk begab sich in
die Gesellschaft von langhaarigen, seltsam bekleideten Menschen,
protestierte gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Atomkraft, bekam wirre
Ideen und zog folgerichtig nach Berlin.“ Die Rentiere seufzten tief auf,
sie hatten schon reichlich viele traurige Geschichten gehört, die so oder
ähnlich anfingen.
## Die verlorenen Seelen von Kreuzberg
„Anfangs fuhr er Weihnachten noch nach Hause, um mit seinen Eltern zu
feiern, und obwohl sie stets über seine Frisur und seine ausgefransten
Pullis wehklagten, waren es doch letztlich schöne, versöhnliche Festtage.
Doch es kam, wie es kommen musste: Nepomuk lernte in Berlin neue Freunde
kennen, er verbrachte viel Zeit in Plena, Kneipen und auf WG-Partys, und
bald schon schimpfte er über die verlogene Festtags-Harmonie und die ganze
Konsumgesellschaft.“ Die Rentiere schauten betroffen zum Weihnachtsmann
hoch. Wieder eine verlorene Seele!
„Bald schon verbrachte er Weihnachten nicht länger zu Hause in Westfalen,
sondern traf sich mit Kumpels im Kreuzberger Ex, um sich die
Weihnachtslichter auszublasen, wie sie es nannten. Wenn im September wie eh
und je die ersten Lebkuchen und Spekulatius in die Geschäfte kamen, setzte
Nepomuk stets zu einer veritablen Wutrede darüber an, dass die ja jedes
Jahr früher kämen und es immer schlimmer würde mit der Kommerzialisierung
von Weihnachten. Wenn in der Adventszeit die ersten Lichterketten in den
Fenstern hingen, ereiferte er sich über den Kitsch, den Weihnachtsmärkten
warf er vor, dass sie nur dazu dienten, sich mit Billigglühwein abzufüllen,
während er und seine Freunde sich in Hausbesetzerkneipen mit Billigbier
abfüllten. Und so weiter, ihr kennt das ja.“ Die Rentiere nickten
bekümmert. Das kannten sie zur Genüge.
„Es wurde immer schlimmer. Bald schon begann er, Anti-Weihnachten zu
feiern.“ – „Anti-Weihnachten?“, fragten die Rentiere überrascht. Das
kannten sie noch nicht.
## Systemkritische Engelchen
„Ja, nachdem er und seine Freunde sich anfangs Heiligabend immer nur
irgendwo in der Kneipe verabredet hatten, wo sie sich dann als Zeichen
gegen Weihnachten gemeinsam betrunken haben, lud er sie später zu sich nach
Hause. Erst nur zum gemeinsamen Trinken, aber Jahr für Jahr wurde es immer
weihnachtskritischer. Sie stellten Kerzen in Totenschädel und behängten
einen großen Kaktus mit Lametta. Sogar mit Engel obendrauf, also genau
genommen: eine nackte Barbiepuppe, das fanden sie systemkritisch. Dazu
legten sie dann Death Metal oder ‚Hannes Wader singt Arbeiterlieder‘ auf,
irgendwas halt gegen den ganzen Weihnachtsterror. Schließlich aßen sie dann
etwas möglichst Unweihnachtliches, also Döner oder so. Dann fingen sie
eines Tages mit dem Schrottwichteln an. Sie brachten sich Geschenke mit,
die möglichst abwegig und hässlich, aber doch auch originell sein sollten.
Das war ein großer Spaß, aber bald schon reichte ihnen das nicht mehr. Sie
wollten das alles noch steigern.“
„Oha, aber wie kann man Anti-Weihnachten denn bloß noch weiter steigern?“,
fragten die Rentiere.
„Nun ja“, fuhr der Weihnachtsmann fort, „sie fingen an, die Wohnung
weihnachtlich zu schmücken. Also, ironisch natürlich, ist ja klar.“ –
„Ironisch schmücken?“ – „Ja, halt mit Leuchtkerzen und Watteschnee an …
Fenstern. Dann stellten sie Engelsfiguren auf, also richtige, aber sie
meinten das halt voll kritisch. Dann besorgten sie sich einen
Weihnachtsbaum, im ersten Jahr schmückten sie ihn noch mit Joghurtbechern
und so Sachen, aber bald schon kaufte Nepomuk auf dem Lucia-Lichtermarkt
eine große Auswahl Kugeln, glänzende Tierchen und Trompetenengelchen.“
„Trompetenengelchen?“, fragten die Rentiere verwundert. „Ja,
Trompetenengelchen! Natürlich gab es jetzt auch kein Schrottwichteln mehr,
sondern konsumkritische und nachhaltige Weihnachtsgeschenke. Also möglichst
werthaltig. Die kauften sie beim ‚Holy Shit Shopping‘ oder solchen
ironischen Veranstaltungen, und statt sich wie ihre Eltern braune Socken
oder Küchenmaschinen aus dem Kaufhaus zu schenken, schenkten sie sich bunte
Socken mit kritischen Motiven und handgefertigte Küchenmaschinen aus
Edel-Manufakturen, um damit ein Zeichen gegen den Massenkommerz zu setzen.
## Weihnachten mit Kollegah
Heiligabend gab es dann ein ironisches Weihnachtsmenü, mit Weihnachtsgans
oder Karpfen. Dazu legten sie ‚Weihnachten mit Freddy Quinn‘ oder mit Roy
Black oder Heintje oder Kollegah auf und haben sich darüber den ganzen
Abend lang beömmelt, weil sie es unglaublich lustig fanden, dass
ausgerechnet sie ‚Weihnachten mit Heintje‘ hörten.“
„Aha“, sagten die Rentiere und guckten ratlos.
„So ging das Jahr für Jahr weiter“, kam der Weihnachtsmann nun allmählich
zum Finale, „inzwischen hat Nepomuk eine eigene Familie und wohnt im
Prenzlauer Berg. Mit der feiert er natürlich auch Anti-Weihnachten. Anfang
September geht er am ersten Verkaufstag sofort in den Supermarkt und kauft
tonnenweise Weihnachtsgebäck, um dann den Saisonauftakt zu feiern,
natürlich nur, um sich darüber lustig zu machen. Mit Dominosteinen und
Lebkuchensuppe und Braten mit Spekulatiussoße.
Heiligabend ist Nepomuk jetzt einer der Letzten, der noch einen
Weihnachtsmann zur Bescherung bestellt. Da muss ich immer persönlich
erscheinen, mit besonders vielen Geschenken. Von außen, von der Straße aus,
ist kein Unterschied zu erkennen, wenn man vor dem Haus steht. Überall
leuchtet Weihnachtsschmuck, ich meine, siehst du ja nicht, ob der nun
satirisch blinkt und glimmt oder nicht, da musst du schon aufpassen, auch
die richtige Wohnung zu erwischen.
## Ho-ho-ho ist so 20. Jahrhundert
Und dann wird ironisch eine Bescherung inszeniert: Die Kinder spielen
Blockflöte, und die ganze Familie singt dazu. Ich komme anschließend zur
Stube rein, rufe laut Ho-ho-ho …“
„Echt? Ho-ho-ho? Das macht doch heutzutage niemand mehr!“ „Eben!“, sagte
der Weihnachtsmann schicksalsergeben, „aber bei Nepomuk gehört es zu
Anti-Weihnachten einfach dazu. Dann brennen in der ganzen Stube die Kerzen,
der Weihnachtsbaum ist wunderschön geschmückt, und ich muss allen ‚Frohe
Weihnachten‘ wünschen.“
„Einfach so ‚Frohe Weihnachten‘?“, fragten die Rentiere irritiert. „N…
natürlich nicht einfach so. Ich muss dazu Anführungszeichen mit den Fingern
in die Luft machen.“ Die Rentiere nickten verstehend.
17 Dec 2018
## AUTOREN
Heiko Werning
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