# taz.de -- Zurück ins elterliche Nest: Weihnachten und andere Krisen | |
> Viele um Autonomie bemühte Menschen verfallen an Weihnachten einem | |
> Zustand der Regression. Warum feiern sie immer noch Weihnachten bei ihren | |
> Eltern? | |
Bild: Der kindliche Mythos erreicht an Weihnachten seinen Höhepunkt | |
Hamburg taz | Wo bist du an Weihnachten? Diese Frage stellt sich jedes Jahr | |
aufs Neue, weil die Antwort nicht zu überzeugen vermag. Vielleicht aber | |
auch, weil wir abgleichen wollen: Hat jemanden ein besseres Konzept, als | |
das Weihnachtsfest im elterlichen Nest? | |
Nur wenige schaffen den Absprung. Für einen beachtlichen Teil einer | |
bestimmten Altersgruppe geht es Weihnachten zurück. Vielleicht wollen wir: | |
noch ein mal Küken sein, suchen Wärme und Geborgenheit. Doch diese paar | |
Tage, mit denen das Jahr zu Ende geht, befördern ungeahnte Aggressionen. | |
Ich nenne uns die Generation „Weihnachten bei Mami und Papi“ und meine | |
damit diejenigen, die ab den späteren 70ern und 80ern geboren sind und | |
nicht mit 25 oder 30 Kinder bekamen. Wir konnten noch ausufernd studieren | |
und wollten profitieren vom Fortschritt, den uns die 1968er bescherten, die | |
die Idee der vorbestimmten Rolle der Frau als Mutter für uns beerdigt | |
hatten. | |
Statt selbst eine Familie zu gründen, sind wir auf maximale Freiheit und | |
Unabhängigkeit bedacht, haben das Versprechen ernst genommen, dessen | |
Kehrseite die Unsicherheit und Flexibilisierung der Arbeitswelt ist, und | |
den schillernden Weg der Selbstverwirklichung beschritten – auch wenn wir | |
diesen Begriff im Studium mit [1][Gilles Deleuze] und [2][Michel Foucault] | |
zu dekonstruieren gelernt haben. | |
## Familiäres Trostpflaster | |
Weihnachten bricht alles zusammen. Wer nicht allein in der WG oder | |
verlassen in seiner Wohnung zurückbleiben will, weil sich alle Freunde gen | |
Heimat verabschieden, landet bei seinen Eltern. Aus der vermeintlichen | |
Autonomie wird fahle Einsamkeit, auf die das familiäre Weihnachten ein | |
Pflaster draufzukleben verspricht. | |
Wir erkennen, dass im Spätkapitalismus Arbeit alles bestimmt, dass wir | |
nicht wissen, wo unser Job uns in fünf Jahren hinführt, und dass die | |
Freiräume für die eigene Familienplanung immer kleiner geworden sind. Mit | |
dem Ergebnis: Wir schieben sie auf. | |
Weihnachten stellt uns vor ein reales Problem. Diese Tage sind symbolisch | |
aufgeladen: Es sind die Tage der liebevollen Nähe und Behaglichkeit in | |
einer ansonsten weitgehend durchrationalisierten Gesellschaft. Und dieser | |
symbolische Überschuss hat es in sich. Er führt uns in eine Krise, denn er | |
führt uns vor Augen, wie allein wir sind. | |
## Angst vor Einsamkeit | |
Die Festtage lassen uns keinen Ausweg: Wir gehen dahin, wo die Konflikte | |
schlummern; Tatsachen, über die wir das restliche Jahr nicht nachdenken | |
müssen, weil uns Arbeit, Fitness und ein bisschen Ablenkungsprogramm keine | |
Zeit dafür lassen. | |
Wir pfeifen aus dem letzten Loch. Und weil das so ist, wollen wir | |
wenigstens diese paar Tage mal nicht darüber nachdenken, ob wir die | |
richtigen Entscheidungen treffen. Der Angst der Einsamkeit so zu entgehen, | |
führt uns zurück zur eigenen Stammfamilie. | |
Sind wir regressiv? | |
Wir setzen uns auf Mutterns Sofa, wollen zugedeckt und gefüttert werden. | |
[3][Freud versteht Regression] als Rückfall in kindliches Verhalten einer | |
früheren Entwicklungsstufe. Dem Begriff Regression haftet etwas | |
Pathologisches an, denn wir sollen im Sinne der Psychoanalyse | |
eigenverantwortlich und entsprechend unseres eigenen Entwicklungsstandes | |
agieren. Das Ziel einer Analyse ist, diese Phasen bei sich zu erkennen und | |
sich zu korrigieren, statt sich ihrer hinzugeben. | |
## Als seien wir krank | |
Wir wollen an Weihnachten aber trotzdem so behandelt werden, als seien wir | |
krank. Ob wir das in dieser Gesellschaft nicht alle sind, sei | |
dahingestellt. Wahrhaben wollen wir das aber nicht, wir suchen nur | |
Erholung. | |
Es ist einfach zu verlockend: endlich mal nicht funktionieren und mal | |
nichts darstellen zu müssen. Denn eine Familie kreiert etwas und fühlt sich | |
verbunden. Und im Gesamtbild der Gesellschaft macht das auch noch ganz viel | |
Sinn. Welchen Zweck sollte es haben, sich in einer totalen Arbeitswelt, dem | |
letzten Rückzugs- und Erholungsraum zu entsagen? Wir brauchen ihn ja. | |
Also fahren wir voller Erwartung nach Hause, sehnen uns nach Sorglosigkeit | |
und Erlösung. | |
## Geschenke bringt der Weihnachtsmann | |
Wir suchen ein Zurück in die Kindheit, eine Abwesenheit dieser lästigen | |
Zwänge, die wir als Erwachsene längst internalisiert haben. Als Kind | |
mussten wir nicht darüber nachdenken, wie wir die nächste Miete bezahlen | |
und bis wann wir die Steuererklärung abgeben müssen. Kinder bekommen ein | |
Eis, ohne ans Bezahlen denken zu müssen. Der kindliche Mythos erreicht an | |
Weihnachten seinen Höhepunkt: Geld spielt keine Rolle, die Geschenke bringt | |
der Weihnachtsmann. | |
Doch für dieses Spiel sind wir zu alt. Die Eltern fragen, wie es beruflich | |
läuft oder ob man nicht mit dem Partner langsam mal über das Zusammenleben | |
nachdenke. „Ihr wäret bestimmt tolle Eltern!“ Auf dem Sofa sitzt es sich | |
weniger unbeschwert, die Mutter erwartet uns in der Küche. | |
Vielleicht wird es für die, die jetzt Kinder sind, diese Konflikte später | |
nicht mehr so geben. Das Kindsein hat sich verändert, Kinder werden mehr | |
wie kleine Erwachsene behandelt. Wenn wir früher nach einem Lolli fragten, | |
antworteten die Eltern noch „Ja“ oder „Nein“. Heute heißt es: „Hat d… | |
nicht viel zu viel Zucker?“ Oder: „Du kannst den haben oder die | |
Fruchtzwerge – beides geht nicht“ Oder: „Wir haben nur noch zehn Euro, | |
überlege, wie wichtig dir der Lolli ist.“ | |
## Zu groß für das Nest | |
Unsere Kindheit war noch ein bisschen mehr Schutzraum vor den Härten des | |
Lebens. Das macht den Wunsch, dahin zurückzukehren, umso stärker. | |
Doch dieser Wunsch wird nicht erfüllt. Erwachsen fühlen wir uns an | |
Weihnachten aber auch nicht. Das führt uns vor Augen, dass wir mit unserer | |
Selbstständigkeit scheitern. Das macht uns wütend. Wir sind ja viel zu groß | |
für dieses Nest. | |
Es gibt für Weihnachten keine Alternative, zumindest keine ganz | |
zufriedenstellende. Das Fest ist eine kleine Insel. Doch der Wasserspiegel | |
steigt. | |
22 Dec 2018 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bpb.de/apuz/208257/der-nomade-als-theoriefigur-empirische-anrufu… | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/eine-lange-nacht-ueber-michel-foucault-die-s… | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Regression_(Psychoanalyse) | |
## AUTOREN | |
Lena Kaiser | |
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