| # taz.de -- Eine bemerkenswerte Frau: Eine richtige Weihnachtsgeschichte | |
| > Der Weihnachtsapfel kann nur ein wirklich perfekter Apfel sein und ihn zu | |
| > suchen, macht viel Mühe. Aber vielleicht ist noch wichtiger, mal drüber | |
| > gesprochen zu haben. | |
| Bild: Alle starren diese Frau an – heimlich, verstohlen | |
| Eine richtige Weihnachtsgeschichte hat eine Moral und erinnert uns daran, | |
| dass wir nackte, arme Menschlein sind, wie das kleine Jesulein, und dass | |
| wir die anderen nackten, armen Menschlein unterstützen und ihnen irgendwas | |
| geben, Sachen und Mitleid. | |
| Es fängt so an, dass Gabriela am Weihnachtsmorgen zum Einkaufen ins | |
| Wandsbek Quarree geht, und das ist erst mal keine Freude. Sie hat ihren | |
| Rucksack auf, ihre Tasche in der Hand, und ihr Sohn läuft neben ihr, ihr | |
| sechzehnjähriger Sohn. Es ist warm geworden, vierzehn Grad ungefähr, und | |
| weil sich die Leute nicht umstellen können und immer noch glauben, dass sie | |
| im Winter sind, tragen sie alle dicke Mäntel und Mützen. Gabriela trägt | |
| auch einen grauen Wintermantel und schwitzt unter den Armen, auch am | |
| Rücken, sie schwitzt. | |
| Die Straßen sind voller Verkehr, aber das Licht ist schön. Der Himmel ist | |
| wattig und grau und leuchtet, wie von innen, als wäre er mit Leuchtfarbe | |
| angemalt. Es ist ein graues Leuchten, und das ist das einzig Weihnachtliche | |
| an Weihnachten. Die Geschäfte sind bis an den Rand voll mit Menschen, sie | |
| sind so voll Musik und Plastiktanne, so voll Schweiß, und die Gesichter der | |
| Verkäuferinnen sind so weiß und müde, diese armen Verkäuferinnen, denkt | |
| Gabriela, und sagt, was sie alles braucht. | |
| Suppengemüse, zwanzig Mandarinen. Ananas. Sie sagte es am Gemüsestand, wo | |
| sie einem alles abwiegen und wo sie alles haben. Alles haben sie da. Es ist | |
| dieser Gemüsestand, ein vollständiges Abbild unseres Planeten, was dieser | |
| Planet auf seinen Feldern hat, das gibt es dort. Es ist dieser Gemüsestand | |
| auch in Wirklichkeit viel größer, als es scheint, sie können ihn öffnen, | |
| sie können kleine Treppen hinuntersteigen und aus tiefen Höhlen winzige | |
| Bananen heraufholen, Gurken vom Nordpol, Kräuter aus Afghanistan, kein | |
| Problem. Wird alles gewogen und abgepackt. Eine Frau steht neben ihr, die | |
| verlangt einen Apfel. Sie nimmt diesen Apfel entgegen, sie betrachtet ihn. | |
| „Nein, danke“, sagt die Frau. „Ich möchte ihn doch lieber nicht.“ | |
| Gabriela wendet sich dieser Frau zu, ihr Sohn ebenso, der verstohlen neben | |
| ihr steht, er steht immer so neben oder hinter ihr, verstohlen. Es liegt an | |
| seinem Alter. Er kann überhaupt keine Dinge anders tun als verstohlen. | |
| „Möchten Sie denn einen anderen?“, fragt der Gemüsemann. | |
| „Vielleicht“, sagt die Frau. | |
| Er gibt ihr einen anderen, sie betrachtet ihn, dreht ihn, schüttelt traurig | |
| den Kopf. „Hätten Sie noch einen?“ | |
| „Jetzt ist aber mal genug“, sagt der Gemüsehändler nach fünf Äpfeln. | |
| Und aus diesem Grund starren jetzt alle diese Frau an, heimlich, | |
| verstohlen, wie Gabrielas Sohn. Es ist eine Frau mit einer großen gelben | |
| Mütze auf dem Kopf, zottiges, gelbes Kunstfell, sie ist ungefähr | |
| siebenundsiebzig Jahre alt. Sie dreht sich um und geht. | |
| ## Es freut die Leute, wenn sie sich in irgendwas einig sind | |
| Der Gemüsemann zuckt mit den Schultern. Die Leute sehen sich an. Es freut | |
| die Leute ja immer, wenn sie sich in irgendwas einig sind. | |
| Der Gemüsemann bringt den letzten Apfel wieder weg. Er legt ihn vorsichtig | |
| zu den anderen Äpfeln, wie ein Baby bettet er ihn, damit er keine | |
| Druckstellen kriegt. | |
| „Was war das denn?“, sagt Gabrielas Sohn. | |
| Gabriela zuckt mit den Schultern. Dann treffen sie die Frau bei der Bahn. | |
| Sie steht plötzlich neben ihnen, als gehörte sie heute zu ihnen. | |
| „Warum haben Sie die Äpfel alle nicht gekauft?“, fragt Carl, so heißt | |
| Gabrielas Sohn. | |
| „Ich weiß, es sieht komisch aus“, sagt die Frau. | |
| „Aber?“, fragt Carl. | |
| „Es ist nicht der Weihnachtsapfel gewesen“, sagt die Frau. | |
| Sie steigen zusammen mit der Frau in die U-Bahn. Sie fahren eine Station. | |
| Es sind viele Leute in der U-Bahn, es ist voll. Die Leute schwitzen und | |
| reißen sich ihre Mützen vom Kopf. Sie haben alle viel eingekauft, denn es | |
| gibt ja drei Tage nichts einzukaufen. Die Frau mit der gelben Mütze reißt | |
| ihre Mütze auch vom Kopf. Sie hat dünnes, bläulich gelocktes Haar, das | |
| verschwitzt an ihrem Kopf anklebt. Sie versucht mit einer Hand, es ein | |
| wenig anzuheben. Aber es hat keinen Sinn. | |
| Als sie aussteigen, auch die Frau steigt aus, ist es ein wenig dämmrig | |
| geworden. Es ist erst Mittag, aber die Dämmerung hat sich schon in den Tag | |
| geworfen. Sie ist ein gern gesehener Gast an Weihnachten. Sie kündigt die | |
| Heilige Nacht an. | |
| Gabriela kann nicht an sich halten, sie fragt die Frau, „Ein | |
| Weihnachtsapfel, sagen Sie?“ | |
| Die Frau hat sich ihre Mütze wieder aufgesetzt, die Mütze sieht aus wie | |
| eine gelbe Flamme. | |
| „Es ist unsere Tradition“, sagt die Frau. | |
| „Aber jetzt haben Sie keinen“, sagt Carl. | |
| Die Frau schüttelt den Kopf. Sie gehen zusammen den Weg von der Bahn. Die | |
| Frau immer dabei. Das Haus vom Sportverein steht still und dunkel, keiner | |
| treibt heute Sport. Auch beim Physiotherapeuten ist das Licht aus. Aber in | |
| den Wohnhäusern tanzen die kleinen, blinkenden Weihnachtsmänner und | |
| flimmern festlich die Fernseher. Es ist warm und diesig, und in der | |
| Dämmerung huschen die Leute mit ihren vollen Taschen herum und freuen sich | |
| auf einen langen Abend mit dem festlichen Fernsehprogramm und dem | |
| besonderen Essen. | |
| „Hier möchte ich mich verabschieden“, sagt die Frau an einer Straßenecke. | |
| „Wir haben auch Äpfel gekauft“, sagt Carl. „Vielleicht haben wir den | |
| Weihnachtsapfel.“ Er reißt seinen Schulrucksack auf, der voller Äpfel ist. | |
| Er ist ein großer Apfelesser. Äpfel sind fast das einzige Obst, das er | |
| isst. Er isst sie hintereinander weg, und in seinem Zimmer liegen Schüsseln | |
| voller Griebsche. | |
| Die Frau starrt ihn an. Sie hat ein kantiges Gesicht, eine lange Nase und | |
| einen ganz kleinen Mund. Sie sieht ein wenig aus, wie eine Handpuppe, eine | |
| charaktervolle Handpuppe, sie sieht so aus, als sei ihr Gesicht überstark | |
| modelliert und bunt angemalt. Tränen stehen in ihren Augen. Sie sind so | |
| plötzlich herausgeschossen, wie aus einer Wasserpistole. | |
| „Ich kann ja nicht…“, sagt sie. „Drin rumwühlen“, sagt sie. | |
| „Aber“, sagt Carl, „Sie können mit hochkommen. Dann packen wir die Äpfel | |
| auf den Tisch und dann können sie sehen, ob er dabei ist.“ | |
| „Ja, das können Sie wirklich machen“, sagt Gabriela. Sie liebt ihren Sohn | |
| über alles. Er ist so ein prächtiger Junge. Er kifft leider, aber er isst | |
| ja auch sehr viele Äpfel, und das gleicht das Ungesunde am Rauchen wieder | |
| aus. | |
| Sie nehmen die Frau mit, und im Treppenhaus sagt sie, dass sie | |
| Elisabeth-Maria Berlhoff heißt. | |
| „Und was ist es mit dem Weihnachtsapfel, was ist das für eine Tradition?“, | |
| fragt Gabriela Elisabeth-Maria. | |
| Da sind sie schon in ihre Stube getreten, wo der Weihnachtsbaum geschmückt | |
| ist. Es ist ein kleines, kahles Ding, Carl hat ihn geholt. Sie haben so | |
| viel rangehängt, wie geht. An ihrem kleinen, kahlen Baum hängt so viel Zeug | |
| wie andere nicht an einen großen angebracht hätten. Es ist ein Baum, von | |
| dem man vorher sagt, „Gott, den will doch keiner“. Aber nachher sagt man, | |
| „Man, das ist aber ein Teufelsbaum!“. | |
| Carl holt die Äpfel aus seinem Rucksack. Er legt sie vorsichtig alle auf | |
| den Esstisch. Einen nach dem anderen. Zwei holt er noch vom Obstteller. Die | |
| legt er dazu. | |
| Elisabeth-Marie zieht wieder ihre Mütze von ihren feinen, bläulichen | |
| Haaren. | |
| „Wie kriegen sie ihr Haar so blau?“, sagt Gabriela. | |
| „Dazu später“, sagt Elisabeth-Maria. Sie betrachtet sorgfältig jeden Apfe… | |
| Sie sagt, „Man müsste sie einzeln sehen, getrennt von den anderen.“ | |
| „Tja, das ist aber wirklich…“, sagt Gabriela. Die Frau geht ihr langsam a… | |
| die Nerven. Obwohl sie auch etwas an sich hat. Ihre Puppenhaftigkeit. Sie | |
| ist wie eine Figur vom Weihnachtsteller, mit ihren roten Bäckchen. | |
| „Wir hatten immer einen Weihnachtsapfel“, sagt Elisabeth-Maria. „Meine | |
| Mutter hatte einen Weihnachtsapfel, meine Großmutter, meine Urgroßmutter, | |
| es ist eine Tradition. Es kommt von ganz früher her. Es ist sehr wichtig.“ | |
| „Aber was machen Sie mit dem Apfel?“, fragt Carl. | |
| „Wir legen ihn auf einen Teller. | |
| „Wird er gegessen?“ | |
| ## Der Apfel darf in Ruhe verschrumpeln | |
| „Er wird nicht gegessen. Er darf in Ruhe verschrumpeln.“ | |
| „Und wie wird er präsentiert?“, fragt Gabriela. Sie sieht, wie | |
| Elisabeth-Maria jeden einzelnen Apfel sorgfältig betrachtet. | |
| „Er kommt auf einen Teller, der auf einem Fuß steht. Es ist ein vererbter | |
| Teller. Alt. Sehr alt.“ | |
| „Und warum nehmen Sie nicht irgendeinen Apfel? Ich meine, wir nehmen doch | |
| auch irgendeinen Baum. Jedes Jahr haben wir einen anderen Baum. Manchmal | |
| haben wir einen großen, manchmal einen kleinen, öfter mal einen kahlen, | |
| oder auch einen schiefen. In der Abwechslung liegt ja die Freude. Es wäre | |
| doch sonst alles immer gleich. Immer der gleiche Baum. Da könnte man sich | |
| ja gleich einen Plastikbaum kaufen. Da hätte man dann jedes Jahr den | |
| gleichen Baum. Aber wer will das?“ | |
| „Einen Baum haben wir nicht“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| „Nicht?“ | |
| „Ist es so, dass Ihnen der richtige Apfel sofort ins Auge springt? Mir | |
| springt der richtige Baum auch ins Auge“, sagt Carl. „Der hat so ’nen | |
| Zauberschein um sich rum. Ich seh’ den, hier, geil, das isser. So knallt | |
| der in mich rein. Ich finde den einfach. Ich nehm’ ja nicht jeden. Früher | |
| wollte ich immer große. Aber jetzt nehm’ ich lieber kleine, mickrige oder | |
| krumme oder kahle. Ich hab’ ’ne andere Sichtweise entwickelt. Ich möchte | |
| mehr so in diese Richtung gehen.“ | |
| „In die kleine, mickrige oder krumme und kahle Richtung?“, fragt Gabriela. | |
| Sie ist etwas misstrauisch, aber sie findet auch, dass das Gespräch sich in | |
| eine schöne, philosophische Richtung entwickelt. | |
| ## Antikapitalistisch, krummen Bäumen eine Chance zu geben | |
| „Ja, das ist antikapitalistisch. Dass man diesen Bäumen auch eine Chance | |
| gibt. Dass man sie ehrt.“ | |
| „Das finde ich gut“, sagt die Frau Elisabeth-Maria. „Mit dem Apfel ist es | |
| allerdings anders. Er ist perfekt.“ | |
| „Finde ich nicht so gut“, sagt Carl. | |
| Die Frau nickt. | |
| „Wissen Sie, dass die Äpfel im Supermarkt fast alle gleich aussehen? Ich | |
| nehm’ immer welche, die verschieden aussehen, ganz natürliche, kleine | |
| unbehandelte Äpfel, Bioäpfel.“ | |
| Gabriela drückt ihren Jungen an sich. Sie weint fast vor Stolz. | |
| Elisabeth-Maria nickt. Sie setzt sich. | |
| „So gesehen“, sagt sie. | |
| „Sie sollten Ihre Einstellung ändern“, sagt Gabriela. „Das macht es viel | |
| einfacher. Einfach mal sich von diesem Perfektionsdruck befreien.“ | |
| „Du vergisst, dass sie nur einen Apfel haben“, sagt Carl. „Keinen Baum. D… | |
| ist schon, auch wenn sie sehr auf einen perfekten Apfel aus sind, also es | |
| ist schon sehr antikapitalistisch.“ | |
| „Wie ist es mit Geschenken?“, fragt er Elisabeth-Maria. | |
| „Wir schenken uns Obst und Nüsse“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| „Obst und Nüsse!“, schreit Carl. „Das ist geil.“ | |
| „Ich glaube nicht, dass du das geil fändest“, sagt Gabriela. Er bekommt ein | |
| Ipad. Er weiß es noch nicht. Aber er braucht eines. | |
| „Wir sind zu dritt“, sagt Elisabeth-Maria. „Meine Schwester und meine | |
| Mutter. Wir schenken uns Obst und Nüsse. Das ist so, bei uns.“ | |
| „Sind Sie arm?“, fragt Carl. | |
| Gabriela macht sich Sorgen, ob die Frau gekränkt ist. | |
| „Ich weiß nicht“, sagt die Frau, „Ich glaube nicht. Wir könnten uns was | |
| anderes schenken. Einen Pullover oder eine Gitarre. Ich hätte gerne eine | |
| Gitarre.“ | |
| „Aber können sie sich auch selber kaufen“, sagt Carl. | |
| Sie nickt. Sie steht auf. | |
| „Keiner dabei?“, sagt Carl. | |
| Sie schüttelt den Kopf. | |
| „Sie sind halt natürlich, natürliche Äpfel“, sagt Carl stolz. „Ich hab… | |
| extra so ausgesucht.“ | |
| Als die Frau weg ist, schmücken sie den Weihnachtsbaum. | |
| „Komische Tradition, richtig komisch“, sagt Carl. | |
| „Es kommt darauf an, wie man es betrachtet“, sagt Gabriela. „Ein Baum ist | |
| auch komisch, wenn man darüber nachdenkt. Also einen Baum abzusägen und ihn | |
| sich in die Wohnung zu stellen. Wenn man drüber nachdenkt… ist es nicht | |
| komischer als ein Apfel?“ | |
| „Ich weiß nicht. Schon. Aber einen Apfel… Man kann überhaupt nichts mit i… | |
| machen. Man kann ihn nicht schmücken. Und… Äpfel liegen doch immer rum. Bei | |
| mir liegen immer Äpfel rum. Das ist doch echt abgefahren, wegen einem | |
| Apfel, also.... Wo soll die Tradition denn herkommen? Ich glaub’ das nicht. | |
| Die machen das doch gar nicht wirklich. Die haben doch keinen Apfel statt | |
| ’nem Baum.“ | |
| Gabriela sieht ihn ernsthaft an. Bedeutet ihm das denn so viel, dass er | |
| sich aufregt? In seinem Alter? Oder hat er noch nicht begriffen, lernt er | |
| jetzt erst, wie Menschen sein können, wie unverständlich, wie anders? | |
| ## Die Alster ist eine riesige Pfütze | |
| Dann treffen sie sie am nächsten Tag auf der Brücke Richardstraße. Sie sind | |
| unterwegs mit Gabrielas neuem Freund Bert und Ellie, ihrer Schwester, und | |
| ihrer beider Vater Alfred und Ellies Tochter Regine und deren Freundin | |
| Birgit. Sie vertreten sich die Beine nach dem Essen, sie wollen zur | |
| Alsterperle, einen Glühwein trinken und auf die traurige Alster schauen. | |
| Sie leuchtet immer so schön unter dem schweren, grauen Himmel, sie leuchtet | |
| wie aus sich heraus und sie glänzt von den ganzen Lichtern um sich herum, | |
| und sie hat ja auch keine wirkliche Tiefe. Sie ist nur eine riesige Pfütze, | |
| auf deren Grund lauter Müll liegt. | |
| Auf der Brücke steht Elisabeth-Maria mit einem dieser zweifarbigen | |
| Einkaufswägelchen auf zwei Rädern, in dem was Dickes steckt. Sie trägt | |
| wieder ihre zottelige gelbe Mütze und sie hält sich mit einer Hand am | |
| Geländer fest, während sie versonnen auf den Kanal schaut. | |
| „Frohe Weihnachten!“, ruft Gabriela. Sie hat vom Wein ein frohes Gemüt. Und | |
| auch sonst. Sie mag Familie und Gruppen, die spazieren gehen wie ein | |
| Schwarm Enten oder eine Horde Rehe. Besonders an kalten, feuchten Tagen wie | |
| diesen, da spürt man doch die innere Wärme besonders. | |
| „Haben Sie den Apfel gefunden?“, fragt Carl. | |
| Die Frau starrt sie an. Sie kommt Gabriela verloren vor. Sie ist ja ihnen | |
| allen als Gruppe gegenüber auch im Nachteil. | |
| „Welchen Apfel?“, fragt Elisabeth-Maria. | |
| „Den Weihnachtsapfel“, sagt Carl. | |
| „Ich verstehe nicht“, sagt Elisabeth-Maria. „Kenne ich Sie?“ | |
| Gabriela sieht Carl an. Sie seufzt. | |
| „Sie waren doch gestern bei uns“, sagt Carl, in seiner unbarmherzig | |
| jugendlichen Aufrichtigkeit. „Wegen dem Weihnachtsapfel.“ | |
| „Wegen des Weihnachtsapfels!“, sagt Regine. | |
| „Wegen dem Weihnachtsapfel waren Sie bei uns doch in der Wohnung drin“, | |
| sagt Carl. | |
| „Lern Deutsch“, sagt Regine. | |
| „Alfred“, sagt Alfred und reicht Elisabeth-Maria die Hand. | |
| „Das ist ja mal eine Überraschung!“, sagt Elisabeth-Maria. „Dass ich dich | |
| hier treffe!“ | |
| „Kennt ihr euch?“, fragt Gabriela. | |
| „Ich bin der Vater“, sagt Alfred. | |
| „Angenehm“, sagt Elisabeth-Maria und reicht jetzt allen freundlich die | |
| Hand. | |
| „Wir wollen eben zur Alsterperle einen Glühwein trinken“, sagt Alfred. | |
| „Warum kommen Sie nicht mit?“ | |
| „Aber gerne doch“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| „Was haben Sie denn mit dem Wagen vor?“, fragt Carl. | |
| „Da ist ja mein Joseph drin“, sagt Elisabeth-Maria. Sie öffnet die Klappe | |
| und sie schieben alle ihre Köpfe über die Öffnung. Im Dunkeln hockt ein | |
| dicker, alter Hund, der böse knurrt. | |
| „Er mag es nicht, wenn ihn Leute angucken.“ | |
| „Kann er nicht mehr laufen?“, fragt Carl. | |
| „Er kann schon“, sagt Elisabeth-Maria, „aber er möchte nicht.“ | |
| Elisabeth-Maria hat sich bei ihnen eingereiht. In ihrer warmen Gruppe. Sie | |
| schnattert munter als wäre es ihre Familie. Sie erzählt von ihrer Heiligen | |
| Nacht, in der sie immer eine Weihnachtsnuss hätten. Das wäre nun mal die | |
| Tradition. | |
| „Eine Weihnachtsnuss?“ Gabriela ist ein bisschen aufgebracht. „Sie sprach… | |
| doch von einem Weihnachtsapfel. Was denn nun?“ | |
| „Es geht ja beides“, sagt Carl. | |
| Er legt ihr den Arm über die Schulter. Er ist so groß und so dünn. Er ist | |
| wie ein großer dünner Baum. So heiter und so ehrlich. Sind Bäume ehrlich? | |
| Bäume sind unbedingt ehrlich. Sie können ja nicht lügen, oder was? | |
| ## Eine Weihnachtsnuss … oder? | |
| „Wir haben eine Weihnachtsnuss“, sagt Elisabeth-Maria. „Und dazu haben wir | |
| noch … lassen Sie mich nachdenken.“ Sie bleibt stehen, und sobald sie | |
| stehen bleibt, knurrt der Hund. „Wir haben, glaube ich, auch einen | |
| Weihnachtsapfel. Einen Weihnachtsapfel und eine Weihnachtsnuss.“ | |
| „Beides. Sag ich doch“, sagt Carl. | |
| „Haben Sie auch einen Baum?“, fragt Alfred. | |
| „Einen Baum, ich glaube nicht.“ | |
| „Wissen Sie es denn nicht?“, fragt Regine. | |
| „Ich bin mir nicht sicher“, sagt Elisabeth-Maria ein wenig traurig. Sie | |
| kratzt sich unter ihrer Mütze. Der Hund knurrt. „Aber spielt das denn eine | |
| Rolle?“, fragt sie. | |
| Sie sagen alle, nein, das spielt keine Rolle, das ist gar nicht wichtig, | |
| alle durcheinander, und das hört sich an wie ein großes Gemurmel, und das | |
| bringt den Hund auf, er bellt, aber dann beruhigt er sich wieder und knurrt | |
| nur noch. | |
| „Hier lasse ich ihn immer raus“, sagt Elisabeth-Maria an der Kuhmühle und | |
| da bleiben sie alle stehen. Sie beugt sich über den Wagen und zieht | |
| stöhnend den dicken Hund aus dem Wagen. Der Hund blinzelt ins Licht. Er | |
| tritt als erstes an Alfred heran und schnüffelt an seinem Bein. | |
| „Guter Junge“, sagt Alfred und beugt sich runter. | |
| „Nicht anfassen“, sagt Elisabeth-Maria. „Er ist ein Beißer.“ | |
| „Und dann lassen Sie ihn einfach so rumlaufen?“, fragt Regine. | |
| „Er ist ja im Wagen. Da ist er in Sicherheit“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| „Vielmehr die anderen Menschen“, sagt Alfred. | |
| „Wie bitte?“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| Aber es ist schön zu sehen, wie der Hund das Gelände abschnüffelt, auf eine | |
| sehr gründliche und aufmerksame Art und Weise. Versuchsweise trabt er ein | |
| Stück, rennt dann ein bisschen und macht sogar einen kleinen Hüpfer. Er | |
| entleert sich an einem Baum. Elisabeth-Maria beseitigt den Kot geschickt | |
| mit einer kleinen Tüte. Dann stopft sie den Hund wieder in den Wagen. Der | |
| Hund ist damit einverstanden. Er knurrt nur ein bisschen. | |
| „Wollten denn ihre Schwester und ihre Mutter nicht mitkommen?“, fragt | |
| Gabriela. | |
| „Ich habe keine Schwester. Mutter ist tot. Sie starb ’87 im Schwarzwald. | |
| Sie ist angeschossen worden und danach ist sie vor Kummer gestorben. | |
| Angeschossen vom eigenen Mann. Ist das zu glauben?“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| „Aber sie sagten doch…“, Carl verstummt. Jetzt, denkt Gabriela, hat der | |
| einfältige Junge es erst begriffen, oder auch erst ansatzweise erfasst, wie | |
| es steht, mit dieser Elisabeth-Maria. Sie erreichen derweil die | |
| Alsterperle. Da stehen viele reiche Menschen und trinken Sekt, in ihren | |
| guten Mänteln, und haben auch vereinzelt kleine, flauschige Hunde dabei und | |
| grüßen sich, an diesem düsteren, festlichen Abend auf eine aufgekratzte Art | |
| und Weise. | |
| „Mögen Sie Glühwein?“, sagt Alfred. | |
| „Mit Ihnen trinke ich immer gern“, sagt Elisabeth-Maria und lächelt ihn an. | |
| Sie hat sich bei ihm eingehakt und Alfred scheint es recht zu sein. | |
| „Sie erinnern mich an jemanden“, sagt Alfred. „Fast möchte ich sagen, ein | |
| bisschen erinnern Sie mich an meine verstorbene Frau.“ | |
| „Vater!“, sagen Ellie und Gabriela fast zur gleichen Zeit. „An Mutter nun | |
| doch gar nicht“, sagt Ellie. | |
| „Das hast du doch nicht zu bestimmen, an wen mich diese Frau erinnert“, | |
| sagt Alfred. | |
| Er reicht Elisabeth-Maria den Glühwein. | |
| „Sie haben dieselbe Art… ich weiß auch nicht. Irgendwas an ihrem Frohsinn�… | |
| Gabriela bestellt sich mit Schuss. Carl, sieht sie, drängt sich an seines | |
| Opas Seite. | |
| „Wir konnten ja immer so gut miteinander“, sagt Elisabeth-Maria. | |
| „Ihr kennt euch doch gar nicht“, sagt Gabriela. | |
| „Sei doch nicht so böse“, sagt Carl. | |
| Dann stehen sie an der schmutzigen, grauen Alster, die tatsächlich von | |
| innen her leuchtet, wie ein großer, schmutziger Teller. Kleine Enten | |
| schaukeln auf den winzigen Wellen und außen herum leuchten die ganzen | |
| elektrischen Lampen der Großstadt, der Himmel ist orange getönt und kein | |
| einziger Stern ist zu sehen. | |
| „Schön ist das“, sagt Elisabeth-Maria. Als Menschen sich ihrem Wägelchen | |
| nähern, knurrt der unsichtbare Hund. | |
| „Er tut nichts“, sagt Alfred vorsorglich zu den Menschen. Er hat ganz die | |
| Verantwortung übernommen. Er führt Elisabeth-Maria am Arm zurück, und als | |
| sie in ihre Straße abbiegen wollen, sagt er, „geht nur, ich bringe die Dame | |
| eben noch nach Haus.“ | |
| „Kann es sein“, sagt Ellie, als sie außer Sichtweite sind, „dass er diese | |
| Verrückte mit unserer Mutter vergleicht?“ | |
| „Sie ist vielleicht nicht richtig verrückt. Sie ist vielleicht eher ein | |
| bisschen sehr fantasievoll“, sagt Birgit, Regines stille Freundin, und sie | |
| sagt es ganz still, aber umso wirkungsvoller ist es. Wenn so stille Leute | |
| plötzlich sehr still etwas sagen, dann ist es manchmal, als ob eine Bombe | |
| einschlägt. | |
| „Kind“, sagt Ellie, „ich verstehe ja, dass du dir das wünschst, aber | |
| zwischen fantasievoll und verrückt gibt es leider einen Unterschied, einen | |
| bedeutenden.“ | |
| „Das mit dem Weihnachtsapfel finde ich ganz schön“, mischt sich Carl ein. | |
| Sie sind die Treppe hochgestapft und hängen die Mäntel auf die überlastete | |
| Garderobe. In der Wohnung ist es heiß und stickig, es riecht nach allem zu | |
| viel. Nach Essen, nach Kuchen, nach Tanne, nach Menschen und Teppich und | |
| feuchten Füßen. | |
| „Aber es ist doch echt anstrengend, immer gerade nach dem richtigen Apfel | |
| zu suchen. Ich frag’ mich, ob sie auch nach der richtigen Weihnachtsnuss | |
| sucht. Das ist doch Stress. Und was ist mit ihrer Mutter und Schwester | |
| jetzt?“ | |
| Gabriela lässt sich in den Sessel fallen. Sie greift nach dem Weinglas auf | |
| dem Glastisch. | |
| „Junge“, sagt sie, „sie hat doch gar keine Schwester und die Mutter ist im | |
| Schwarzwald angeschossen worden, von ihrem Mann. Oder sie hat doch eine | |
| Schwester. Aber sie hat es vergessen. Dafür kann sie sich an deinen Opa | |
| ganz gut erinnern, und frag mich nicht woher. Sie ist, Junge …, sie ist …, | |
| einfach ’ne arme Sau.“ Nach dieser Rede ist die Luft aus ihr raus. Sie | |
| liegt fast im Sessel und ihre Arme und Beine sind schlaff. | |
| „Ich denke, du siehst das falsch, ich sehe das eher wie Birgit“, sagt Carl. | |
| „Du bist jung“, sagt Gabriela und lächelt Carl liebevoll an. | |
| Sie gestehen es sich vielleicht nicht ein, aber sie warten auf Alfred. Sie | |
| machen sich sogar Sorgen. Sie sehen sich alle zusammen „Ist das Leben nicht | |
| schön?“ an, aber keiner weint, als George gerettet wird und die Menschen | |
| das Geld spenden. | |
| „Was macht er denn so lange?“, sagt Ellie. „So weit kann es doch nicht | |
| sein.“ | |
| Bert erhebt sich. Er lässt den Mann raushängen. | |
| „Dann sollte ich ihn vielleicht suchen gehen“, sagt er. | |
| „Wo denn?“ sagt Ellie, hämisch grinsend. | |
| „In was sie ihn da wohl reingeritten hat?“, sagt Gabriela. Und zu Bert sagt | |
| sie, „Du bleibst hier!“ Bert setzt sich wieder. Er hat ja auch seine | |
| Pflicht als Mann erfüllt. | |
| „Ihr solltet euch da mal besser keine Sorgen machen“, sagt Carl. | |
| Alfred kommt erst Stunden später wieder. | |
| „Eine bemerkenswerte Frau“, ist das erste, was er sagt, als er in die Stube | |
| tritt. | |
| „Wirklich?“, sagt Ellie. Aber alle warten auf das, was er zu erzählen hat. | |
| Er tritt in die Stube wie ein Weihnachtsmann. Und das ist er ja auch. Er | |
| ist dick und hat einen weißen Bart und weiße Haare, seine Wangen sind | |
| gerötet. | |
| „Sie hat sehr interessante Angewohnheiten. Sie packt doch das Leben auf | |
| eine ganz ungewöhnliche Art und Weise an. Ihr werdet es nicht glauben, ihr | |
| denkt vielleicht, sie ist arm, aber arm ist sie nicht. Sie hat ’ne | |
| Riesenbude am Kanal. Hochherrschaftlich. Sie wohnt da ganz alleine drin, | |
| aber überall stehen Sachen rum, Gegenstände, die ganz besonders sind. Ein | |
| Reh aus Stahl. Sie hat was übrig für Schönheit. Sie hat Geschmack. Was sie | |
| mir alles erzählt hat, Sachen!“ | |
| ## Ein Leben hat sie gehabt | |
| Er winkt ab. „Ein Leben hat sie gehabt. Sie ist Sängerin gewesen, singt | |
| immer noch sehr gut, wirklich. Sie hat mir vorgesungen. Toll!“ Alfred | |
| drückt seine Handflächen zusammen und lächelt ins Leere, in der wundersamen | |
| Erinnerung schwelgend. | |
| Dann fängt er sich wieder. „Sie hat eine große Familie gehabt, aber es sind | |
| ja alle schon tot. Und was für Geschichten, man glaubt es nicht, manche | |
| Familien trifft es doch auf eine ganz eigene Art und Weise. Jedenfalls …, | |
| wir wollen den Kontakt halten. Ich gebe zu, sie ist ungewöhnlich, sie | |
| vergisst auch viel, sie ist eine recht vergessliche Person, aber wisst ihr | |
| … sie erinnert mich in mancher Hinsicht so an eure Mutter! Mir ist ganz | |
| warm ums Herz geworden.“ | |
| Alle im Zimmer sehen sich an. | |
| „Vergesslich, Papa, du findest, sie ist ein bisschen vergesslich?“, sagt | |
| Gabriela. | |
| „Hat sie denn einen Weihnachtsapfel?“, fragt Carl. | |
| Alfred hebt die rechte Hand, Daumen und Zeigefinger bilden einen Kreis, | |
| „einen 1 A Weihnachtsapfel. Er liegt auf einem Teller, der auf einem | |
| goldenen Fuß steht. Und die Nuss liegt auf einem anderen Teller, sie ist | |
| versilbert, aber echtes Silber, nicht Silberpapier, wenn ihr das denkt. Und | |
| wenn ihr glaubt, sie spinnt, dann irrt ihr euch. Sie ist eine vollkommen | |
| normale Frau.“ | |
| „Na“, sagt Carl und klatscht in die Hände. „Dann ist doch alles super.�… | |
| springt auf und umarmt seinen Opa. | |
| Ein Prachtkerl ist er, denkt Gabriela, und wird immer prächtiger. Kann | |
| sogar schon Leute umarmen. Welcher Jugendliche kann so spontan und an der | |
| richtigen Stelle Gefühle zeigen? Die wenigsten doch wohl. | |
| „Und wisst ihr, was sie zum Schluss gesagt hat, als wir beide uns an der | |
| Tür verabschiedet haben?“, sagt Alfred, als sie alle zusammen den guten | |
| Brandy bis zum letzten Tropfen geleert haben. Alle roten Gesichter, bereit | |
| zu verzeihen, bereit die Welt so zu nehmen, wie sie ist, bereit, sich nicht | |
| mehr zu wundern und nicht zu verurteilen, richten sich ihm entgegen, wie | |
| Blumenköpfchen der Sonne. „Sie hat gesagt“, er wischt sich mit dem Ärmel | |
| über die Augen, „dass ich heute Abend ihr Jesuskind wäre.“ | |
| 23 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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