Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Eine Weihnachtsgeschichte: Tante Margie
> Wir kannten sie nicht. Doch dann kam sie und blieb: meine seltsame Tante.
Bild: Sie erkannten sich natürlich nicht, denn er hatte kein Schild in der Hand
Anfang Dezember erhielt ich einen Brief von Margie Patschekowski, in dem
sie ihren Besuch ankündigte. In dem Brief standen nur fünf Sätze, in einem
davon teilte sie mir mit, dass sie ihre Angelegenheiten ordnen und mich aus
diesem Grund in Hamburg besuchen wolle.
„Was meinst du, worum es geht?“, fragte ich Jens.
„Ach Monika“, sagte Jens, „wann ordnet man denn seine Angelegenheiten? Sie
will dir was vererben!“
Margie Patschekowski war die Stiefschwester meiner Mutter. Ich hatte sie
gesehen, als meine Uroma Frieda Patschekowski beerdigt wurde, da war ich
sieben, und dann, als meine Mutter beerdigt wurde. Beim ersten Anlass war
ich zu klein, beim zweiten hatte ich keinen Sinn für Verwandte. Ich konnte
mich nicht an sie erinnern, aber ich wusste, dass meine Mutter sie nicht
leiden konnte. Margie war die Tochter Dieter Brenners, des späteren
Lebensgefährten meiner Großmutter, der ein Herumtreiber und Trinker gewesen
sein soll. Möglich, dass sie sich nach meinem strengen und fleißigen Opa
Heinz nach etwas anderem gesehnt hatte. Opa Heinz war ein anständiger
Mensch, wie es in der Familie hieß, wo jeder, der nicht mit diesem Adjektiv
bedacht wird, wenigstens ein Herumtreiber und Trinker ist. Er war Besitzer
einer Baumschule, betrieb die Friedhofsgärtnerei und war Protestant. Sein
Anstand schloss ein, Katholiken, Studierte und Ausländer zu verachten, aber
vor allem erstere. In seinen Augen waren Katholiken nichts als dumme Bauern
– gegen die er im Grunde nichts hatte, es sei denn, sie waren Katholiken –
die im Verborgenen perverse Schweinereien anstellten. Als Beispiel führte
er stets den Katholiken Wilfried Knaast an, von dem behauptet wurde, dass
er eine enge Beziehung zu seiner Kuh gehabt haben soll. Opa Heinz hatte
Prinzipien, Oma Frieda war ihm eine gute Ehefrau und lebte danach, bis zu
dem Tag, an dem sie ihn zu Grabe trug. Bald darauf geriet sie nämlich an
den konfessionslosen Dieter Brenner und zeugte mit ihm ein uneheliches
Kind, das in den Kreis der anständigen Patschekowskis nicht aufgenommen
wurde. Die Patschekowskis waren allesamt gute Protestanten, die ihrem Gott
dienten, indem sie möglichst wenig an ihn dachten. Fleiß, Sparsamkeit,
frühes Zubettgehen, seltener, aber effizienter Geschlechtsverkehr,
häusliches, samstägliches Trinken und allerhöchstens zwei Kinder, das waren
die Prinzipien. Mit den Kindern hatte meine Oma es zwar nicht übertrieben,
aber allen anderen Prinzipien wurde sie durch und mit Dieter Brenner
untreu. Sie reisten an den Comer See und mussten sich anschließend Geld
leihen. Sie feierten in seiner Gartenlaube Partys mit Leuten, die die
Patschekowskis noch nicht einmal kannten. Und schließlich ließ sie sich von
ihm dazu überreden, ihr Haar zu färben. Dieter Brenner betrieb eine Weile
einen erfolglosen Friseursalon und verlegte sich schließlich darauf, als
Vertreter für Haarpflegeprodukte durch die Lande zu reisen, bis er
schließlich irgendwo hängenblieb, vielleicht in Münster. Über Oma Frieda
hieß es in der Familie, und sie sagten es mit einem schmerzverzerrtem
Gesichtsausdruck: „Sie hat ihn geliebt.“
Das Kind dieser Liebe war also unsere Tante Margie.
„Schreib ihr, sie kann bei uns wohnen“, sagte Jens, er ist immer so
freundlich, und das ist auch ein Grund, dass ich mich für ihn entschieden
habe. Damit mein Leben etwas von diesem warmen Licht der Güte abbekommt,
denn ich habe den misstrauischen Protestantismus unserer Familie mit auf
den Weg bekommen.
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist“, sage ich zu Jens. „In
diesen Zeiten. Wir treffen kaum noch jemanden, schränken unsere Kontakte
ein, und dann kommt diese … Frau hier plötzlich angereist. Sie ist ja auch
gar keine richtige Patschekowski.“
„Gut“, sagte Jens.
Ich lud sie also ein, und sie schickte eine Postkarte: Komme am siebenten
Dezember mit dem Zug um 12:13 Uhr aus Köln, Gleis 8, Gruß – Margie.
Tatsächlich holte Jens sie dann ab. Er fühlte sich verpflichtet, wegen der
genauen Angaben, die sie über ihre Ankunft gemacht hatte. „Und wenn“, hatte
ich gesagt, „sie kann doch nicht erwarten, dass wir uns wegen ihr
freinehmen. Zwölf Uhr dreizehn, da arbeiten Menschen normalerweise.“ Wegen
des Virus arbeiteten wir beide im Homeoffice und waren für jede Abwechslung
dankbar. Wir stritten uns darum, wer einkaufen gehen durfte. Wir arbeiteten
und wohnten zusammen in unserer Wohnung und jeder von uns hätte wenigstens
den Einkauf gern allein erledigt. Aber wenn die Auseinandersetzung
entschieden war, sagte plötzlich jeweils der, der in diesem Kampf unterlag:
„Ach, ich komme mit.“ Tja, deshalb lohnte sich dieser Kampf im Grunde gar
nicht.
So war die Lage, als unsere Tante Margie am siebenten Dezember von Jens vom
Hauptbahnhof abgeholt wurde. Sie erkannten sich natürlich nicht, denn er
hatte kein Schild in der Hand, auf dem „Willkommen Tante Margie“ stand. Er
hatte ihr nur angekündigt, dass er eine blaue Jacke tragen würde. Ich hatte
zu diesem Plan nur höhnisch gelacht und er hatte das höhnische Lachen
ignoriert. So sind wir, so gehen wir miteinander um und es hat sich
bewährt. Wir lieben uns immer noch.
Es klingelte und eine raue Stimme krächzte durch die Sprechanlage.
„Kannst du mir eben helfen? Ich habe einiges an Gepäck dabei.“
Tatsächlich standen drei riesige Koffer vor der Tür. Tante Margie trug
einen grauen Pelzmantel und Lacklederstiefelchen. Ihr Haar sah wie orange
eingefärbte Zuckerwatte aus, ihr Gesicht war in kräftigen Farben
geschminkt, sie rauchte gierig und hustete, als sie mich sah.
„Meine Liebe!“ Trotz Corona drückte sie mich an ihren mächtigen Pelzbusen
und blies mir ihren Zigarettenatem ins Gesicht. „Ich konnte nicht ewig
warten. Männer mit blauen Jacken gibt’s wie Sand am Meer.“
„Bist du denn mit dem Gepäck zurechtgekommen?“ Ich versuchte, zwei der
Koffer hochzuheben, gab es aber gleich wieder auf.
„Ach, man fragt eben um Hilfe“, sagte sie. „Und so schwach bin ich auch
noch nicht.“ Aber außer ihrer Handtasche trug sie nichts weiter in den
vierten Stock unseres Genossenschafts-Altbaus. Jens rief an und ich sagte,
„Sie ist da. Beeil dich, die Koffer stehen unten vor der Tür.“
„Drei Koffer“, fragte ich Tante Margie, „was hast du noch vor?“
„Ach, man braucht so dies und jenes“, sagte sie und sah sich in Sarahs
ehemaligem Kinderzimmer um, das uns als Büro und Gästezimmer diente. „Hier
soll ich also leben“, sagte sie. Der Ausdruck „leben“ beunruhigte mich
etwas. „Gefällt es dir nicht?“, fragte ich rasch, „sonst müssen wir dir…
Hotelzimmer finden.“ „Weißt du, das ist derzeit gar nicht so einfach“,
sagte Tante Margie und ließ sich auf das Bett plumpsen, in dem unsere
Tochter Sarah mit ihrem Handy einen Großteil ihrer frühen Jugend verlebt
hat.
„Ich weiß“, sagte ich traurig. „Ich weiß.“
Jens brachte keuchend, einen nach dem anderen, die Koffer hoch.
„Sie hat dich nicht erkannt“, sagte ich, als er wieder zu Atem gekommen
war, „trotz der guten Beschreibung.“
„Ich bin fast verrückt geworden mit diesen ganzen blauen Jacken“, kreischte
Tante Margie und drückte Jens die Hand. „Kann denn ein Mann auch noch was
anderes tragen als eine blaue Jacke?“
„Ich bin modisch eher unaufgeregt“, sagte Jens. Das stimmte und obschon ich
mich kurz freute, weil ich sein Scheitern vorausgesehen hatte, wurde ich
rasch wieder gerecht. Jens war vielleicht modisch unaufgeregt, aber er war
mein Mann und ich liebte ihn. Darum sagte ich, „Über Geschmack lässt sich
nicht streiten, sonst würde ich vielleicht etwas zu deinem Mantel gesagt
haben, Tante Margie.“
„Hach“, kreischte sie, „eine Grüne! Holt die Farbbeutel raus!“
In den nächsten Tagen breitete sich Tante Margie in unserer Wohnung aus.
Sie hatte so ihre Angewohnheiten. Sie rauchte. Wir legten ihr nahe, draußen
oder wenigstens am geöffneten Fenster zu rauchen. Aber sie sagte, „Herz, es
ist doch so kalt!“ „Aber du hast doch den schönen, warmen Mantel“, wandte
ich ein.
„Ich rauche doch nicht in meinem Mantel, stell dir vor, da fliegt was von
der Glut drauf. Das ist echtes Kanin.“
„Kanin?“
„Und wir haben sie alle selber gegessen“
Hatte ich angesichts des Pelzmantels Hoffnungen gehabt, erstarben sie
jetzt. Wie viel konnte Kanin schon wert sein? „Jens, es ist Kaninchenfell“,
sagte ich abends im Bett. „Und sie haben sie alle selbst gegessen.“ „Aha�…
sagte Jens, „dann ist es ja nicht so schlimm, oder?“ „Schlimm?“ „Es w…
doch immer so argumentiert, dass der Pelz von Pelztieren so verwerflich
wäre, weil diese Tiere nur wegen des Pelzes getötet würden. Aber wenn man
die Tiere auch isst, wie zum Beispiel Kühe, dann ist die Verarbeitung der
Haut oder des Pelzes eben nicht so schlimm.“ „Aber Jens, das ist doch nicht
der Punkt!“, sagte ich. „Wenn es nur Kaninchenfell ist, dann hat sie doch
vielleicht gar kein Geld. Ich meine, sie trägt Kaninchen, wer trägt denn
Kaninchen? Das kommt mir mehr wie … wie …, das hat doch keine Klasse!“
„Dann wäre es dir lieber, wenn sie Nerz trüge?“ „Im Grunde schon“, sa…
ich. „Nicht, weil ich es befürworten würde, aber es wäre ihr schlechter
Charakter. Ich würde nur unschuldig erben. Das hast du doch gemeint, dass
sie gekommen ist, um mir etwas zu vererben.“
Jens drehte sich im Bett von mir weg. „Ein bisschen zweifele ich an dir,
Monika“, sagte er. „Ob du wirklich so ein guter Mensch bist, wie du es
vorgibst zu sein.“
„Ich bin gut“, sagte ich.
Tante Margie schlief stets lange, dann saß sie lange in der Küche und
schlürfte lange Kaffee und irgendwann verließ sie das Haus. Wir wussten
nicht, wohin sie ging, wir waren nur dankbar, weil wir uns dann in unserer
Wohnung frei fühlten. Wir arbeiteten. Wenn sie wiederkam, legte sie sich
für ihren Mittagsschlaf hin, und etwa ab vier oder fünf wurde sie gesellig.
Wir führten eine Menge Gespräche mit Tante Margie. Sie redete gern und viel
und wir erfuhren Dinge, die wir vielleicht gar nicht hätten wissen wollen.
„Sie hatte einen großen sexuellen Appetit“, sagte Tante Margie über ihre
Mutter, „und dein Opa Heinz war dafür nicht der richtige Mann.“ Sie faltete
die Hände und sah uns beide nacheinander prüfend an. „Sie hatte Glück, dass
sie meinen Vater kennenlernte. Wisst ihr, er war ein freundlicher Mensch
und so lebenslustig!“
„Mein Gott, das haben wir alles gar nicht gewusst“, sagte Jens.
„Und du meinst, das stimmt alles?“, sagte ich, denn ich mag es nicht, wenn
meine Familie in irgendeiner Weise schlechtgemacht wird.
„Aber ja, sie hat es mir doch erzählt“, sagte Margie.
„Deine Mutter hat mir dir über ihre Sexualität gesprochen?“
„Das ist eine gute Sache“, sagte Jens.
„Das ist keine gute Sache“, erregte ich mich. „Das ist überhaupt keine g…
Sache. Denkst du, ich möchte etwas über den sexuellen Appetit meiner Mutter
wissen? Oder meiner Großmutter?“
Tante Margie steckte sich ein Stück Dresdener Stollen in den Mund.
„Aber Moni, warum denn nicht?“, fragte sie mit vollem Mund und sehr sanft.
Sie war ein Berg von Fleisch in unserem weißen Ikea-Sessel, sie füllte ihn
ganz aus. Ihr Busen bebte unter einer Art buntem Kaftan und ihre Füße
steckten in silbern bestickten Pantoffeln mit kleinen Absätzen und einem
(Kaninchenfell?-)Puschel obenauf. Ihr Parfum brachte einen fast um. Ich
wurde plötzlich von so einer Schwäche erfasst, dass ich am liebsten geweint
hätte. Seit Wochen hatte ich nicht mehr mit Jens geschlafen. Dieses
ständige Zusammensein, sogar im Supermarkt, das machte uns zu Geschwistern,
zu asexuellen Arbeitskollegen, unsere gereizten Auseinandersetzungen, die
sonst immer das Feuer entfacht und unsere Sexualität am Leben erhalten
hatten, verpufften müde. Warum sollte man nicht mit anderen Menschen über
seine sexuellen Probleme reden, und warum nicht mit seiner Mutter?
Weil ich darauf keine Antwort wusste und fühlte, wie ich ins Hintertreffen
geriet, spielte ich meinen Trumpf aus. Ich fragte, „Warum bist du
eigentlich hier, Tante Margie?“
Sie legte ihre Hand auf meinen Arm.
„Ich möchte meine Angelegenheiten klären.“
„Und die wären?“, fragte ich fuchtig.
„Monika, nun werd nicht gleich unhöflich“, sagte Jens.
„Sie ist nicht sehr ausgeglichen“, sagte Tante Margie und zündete sich eine
Zigarette an. Die Kerzenflamme zischte und versank im Wachs. Jemand warf im
Hof Glas in den Container. Dann hörte ich nur noch meinen eigenen Atem, wie
er hübsch rein- und rausging. Auch Jens war gespannt, ich sah es ihm an.
Sie musste auch ihm auf die Nerven gehen.
Schließlich drückte sie die Zigarette auf ihrem Kuchenteller aus. Der Qualm
ringelte sich romantisch über dem Adventskranz zur Decke hoch.
Sie klatschte einmal munter in die Hände, hielt die Hände dann fest und
knetete sie.
„Ich denke, es ist an der Zeit … euch mitzuteilen, dass ich … Ich hatte
einfach ein gutes Angebot, und da dachte ich, wenn man ein gutes Angebot
hat, dann muss man es eben annehmen. Sie wollten es und ich habe es
verkauft.“
„Was?“, fragte Jens.
„Mein Haus.“
„Du hast ein Haus, in Köln?“
„Lüghausen, Hoffnungstal in Rösrath im Rheinisch-Bergischen Kreis bei Köln.
Siebenunddreißig Jahre hatten wir es, ein Endhaus.“
„Ein Endhaus? Und nun hast du es also nicht mehr?“, fragte Jens.
Sie schüttelte den Kopf, dass die Zuckerwatte bebte.
„Wenn ihr es wissen wollt: Ich habe kein Dach über dem Kopf. Ich bin
obdachlos.“ Sie lachte dröhnend und zündete sich noch eine Zigarette an.
Und dann sagte Jens langsam, „Du kannst ja … erst mal … bei uns wohnen.“
In der Nacht weinte ich leise. Um halb vier rüttelte ich Jens wach. „Was
hast du mit ‚erst mal‘ gemeint?“, fragte ich.
„Sie ist obdachlos“, murmelte er. Seine Augen waren klein und verschlafen
und ich wusste, er würde sie auch für immer bei uns wohnen lassen, weil er
nun einmal so ist. So ist sein Wesen. Er ist gut und stark, obwohl er
überhaupt nicht so aussieht. Er ist klein und nicht sehr muskulös, er hat
einen großen, runden Kopf, eine spitze Nase und schmale Augen, die zu dicht
beieinanderstehen, so dass es aussieht, als sei ein zu kleines Gesicht in
einen zu großen Kopf gefügt worden, er ist sehr niedlich.
„Das weiß ich auch“, sagte ich, „aber sie kann doch nicht bei uns wohnen…
Ich fing wieder an zu weinen.
„Liebling“, sagte Jens, „wir finden ihr schon was.“
Ich klammerte mich an ihm fest und schlief wieder ein.
Dann kamen mir Zweifel. Wir kannten sie doch gar nicht. War Tante Margie
wirklich Tante Margie und wenn ja, hatte sie wirklich ein Haus besessen,
das sie verkauft hatte? Und warum hatte sie es verkauft, ausgerechnet jetzt
und bevor sie überhaupt eine neue Bleibe gefunden hatte? Was hätte sie denn
getan, wenn wir sie nicht aufgenommen hätten? Während ihrer Abwesenheit
durchwühlte ich ihre Sachen. In einem Buch unter ihrem Kopfkissen fand ich
einen zusammengefalteten Briefumschlag, der adressiert war an „Hannelore
Prenz“.
„Was sagst du nun? Das habe ich in ihrem Buch gefunden.“ Ich flatterte mit
dem Briefumschlag vor Jens’ Nase herum. „Das besagt nichts“, sagte Jens. …
ging in ihr Zimmer und kehrte mit dem Buch zurück. „Siehst du? Das habe ich
mir gedacht. Es ist ein Bücherei-Buch. Vielleicht hat der Umschlag schon im
Buch gesteckt? Und sieh doch mal, wenn sie es ausgeliehen hat, dann muss
sie es auch zurückgeben. Sie hat gar nicht vor, ewig hier zu bleiben.“
„Weißt du, dass man Bücher zweimal verlängern lassen kann? Sie hat drei
Monate Zeit, es zurückzugeben“, sagte ich.
„Du bist immer so negativ.“
Während sie ein Bad nahm, durchwühlte ich ihre Handtasche und ihr
Portemonnaie. Auf allen ihren Dokumenten stand „Hannelore Prenz“, mit ihrem
Personalausweis lief ich zu Jens.
„Ich kann es nicht glauben, dass du ihre Sachen durchwühlst“, sagte er.
„Ja, aber zu Recht“, sagte ich.
Als Tante Margie mit einem Handtuch um den glühenden Kopf gewickelt in
einem hellblauen Morgenmantel aus dem Bad kam, lauerte ich ihr schon im
Flur auf.
„Oh, Tante Margie“, sagte ich, „oder soll ich lieber sagen: Hannelore
Prenz?“,
„Tante Margie ist mir recht“, sagte sie.
„Du heißt aber doch Hannelore Prenz?“
Sie stand dicht vor mir und sah mir direkt und unbefangen ins Gesicht.
Alles an ihr war rosig und duftete nach Badeschaum. Sie musste Unmengen an
Badeschaum benutzen, sich cremen, ölen und mit literweise Parfum besprühen.
Sie war ein wandelnder Allergieauslöser. Aber sie war auch köstlich wie ein
Pfefferkuchen. Sie brachte tausend Gewürze in unser Leben, das so sauber,
dezent und wohl temperiert war. Sie war nicht geschmackvoll, sie war eine
Wundertüte. Sie war etwas, das unserer Familie gefehlt hatte. All das ging
mir mit leichtem Bedauern durch den Kopf. Weil ich überzeugt war, sie jetzt
wieder verlieren zu müssen. Ich war nicht wirklich traurig darüber. Es
waren nur Überlegungen, keine Gefühle im Spiel.
Ich folgte ihr in unser Arbeitszimmer, „Das Spiel ist aus.“
„Kind“, sie ließ sich auf unser Gästebett plumpsen. „Das lässt sich al…
leicht erklären.“ Dann fiel ihr Blick auf ihre geöffnete Handtasche, auf
ihr Portemonnaie und den Ausweis, der auf dem Schreibtisch lag.
„Sollte ich mich schämen?“, fragte ich rasch, „vielleicht“, gab ich mir
selbst als Antwort. „Aber ist es denn nicht mein Recht, mich vor Betrügern
zu schützen, in meinem eigenen Heim? Du kommst daher, nistest dich hier
ein, für längere Zeit, vielleicht für immer, und gibst dich als jemand aus,
der du gar nicht bist, und wir … wir sollen nichts dagegen tun?“
Sie nickte langsam, bis das Handtuch sich löste und ein verklebtes Gewirr
rötlichen Haares zum Vorschein kam.
„Als Hannelore wurde ich geboren“, sagte sie und rubbelte ihre Haare ab.
„Aber sie nannten mich Margie. Dieter, du weißt, das ist mein Vater
gewesen, ihm hat Margie einfach besser gefallen, alle nannten mich so, ich
bekam das erst in der Schule mit, dass ich eigentlich Hannelore heiß. Und
dann hab ich Herbert Prenz geheiratet. Darum Hannelore Prenz.“
„Was erzählst du denn da?“ Ich war verzweifelt.
„Sie nennen dich Margie. Da bist du es eben. Du kennst es nicht anders.
Weißt du, ich finde Hannelore auch nicht so besonders.“
„Und wo ist dieser Herbert Prenz jetzt?“, fragte ich.
„Tot.“
„Das hast du dir doch alles hübsch ausgedacht“, sagte ich.
„Das hat sie sich ausgedacht“, sagte ich abends im Bett zu Jens. „So etwas
gibt es doch gar nicht.“
„Mein Cousin Meinhard wurde von allen Jimmy genannt“, sagte Jens. „So?“,
sagte ich wütend und boxte ihm in die Seite. „Das sagst du doch jetzt bloß
so.“ Ich war schon wieder den Tränen nahe.
„Er wurde nach unserem Großvater benannt, aber mein Onkel konnte den Namen
eigentlich nicht leiden. Und er war Fan von Jimmy Hendrix. Aber sie konnten
ihn ja nicht wirklich Jimmy nennen.“
„Warum nicht?“
„Sie hätten es natürlich gekonnt, aus heutiger Sicht. Aber sie haben ihn
eben Meinhard genannt. Wegen der Tradition.“
„Das ist so … sinnlos“, sagte ich wütend.
„Ja“, Jens schüttelte traurig den Kopf.
„Haben sie dich auch anders genannt?“
„Jensi“, sagte Jens.
„Schlaf gut, Jensi“, sagte ich.
Am Samstag stellten wir Tante Margie oder Hannelore zur Rede.
„Wie stellst du dir das vor?“, sagte ich zu ihr. „Wie lange denkst du, da…
du bei uns wohnen kannst? Wir können dich natürlich nicht hinauswerfen.“
„Und das wollen wir auch gar nicht“, beeilte sich Jens zu sagen, „aber wir
möchten dir natürlich helfen, bald eine Wohnung zu finden, in Köln und
Umgebung.“
Tante Margie lächelte.
„Das ist lieb von euch. Sehr lieb. Aber ich suche gar keine Wohnung in Köln
und Umgebung. Ich suche hier. Ich habe mir schon einiges angesehen.“
„Hier? In Hamburg?“ Ich schluckte.
„Am liebsten in eurer Nähe. Ich habe ja sonst niemanden mehr.“
Eine Weile sagte niemand etwas. Über uns ratterte die Waschmaschine der
Frederkings, und von der Straße hörte man die Bässe aus einem Autoradio
wummern.
„Niemanden?“, fragte ich schließlich.
Sie schüttelte ihren Kopf. Die Zuckerwatte bebte, die Armreifen klirrten.
„Wegen uns willst du hierherziehen?“, fragte ich. „In unsere Nähe?“
Sie nickte wieder. Und das Beben und das Klirren wiederholten sich.
„Aber du kanntest uns doch gar nicht. Du wusstest doch gar nicht, ob wir
dir gefallen. Und wenn wir dir nicht gefallen hätten? Gefallen wir dir?“
„Mein Gott, Monika“, sagte Jens.
„Besonders gefallt ihr mir nicht“, sagte Tante Margie. „Durchwühlt meine
persönlichen Sachen. Bezeichnet mich als Lügnerin. Du nicht“, sagte sie und
sah Jens an, „aber du!“ Dabei sah sie mich an. „Nicht sehr ausgeglichen u…
sehr misstrauisch“, sagte sie.
„Wie es aussieht, werden wir das Weihnachtsfest mit ihr verbringen“, sagte
Jens. Wir spazierten die dunkle Straße entlang, der Wind drückte einen
feinen Regenschleier in unsere Gesichter. Seit Tante Margie bei uns wohnte,
gingen wir viel mehr miteinander spazieren. Und seit wir so viel
miteinander spazieren gingen, redeten wir auch viel mehr miteinander, das
tat unserer Beziehung wirklich gut.
„Das werde ich verhindern“, sagte ich, aber mein Widerstand klang matt und
war es auch. „Und Sarah?“, fragte ich schließlich. Sarah würde über
Weihnachten nach Hause kommen. „Wo soll sie wohnen?“
Je näher Weihnachten rückte, um so eisiger wurde die Stimmung zwischen
Tante Margie und mir. Sie schlief morgens noch länger, trank noch mehr
Kaffee und schränkte auch das Reden, zumindest mit mir, ein. Sie
verräucherte die Küche und aß viel süßes Gebäck, das sie in größeren Me…
im nahegelegenen türkischen Lebensmittelmarkt einkaufte.
Die Situation änderte sich, als Sarah eintraf. Sie war sofort, und aus mir
unverständlichen Gründen, von Tante Margie eingenommen. Sie schlief im
Wohnzimmer auf dem Sofa und verbrachte viel Zeit mit Tante Margie in ihrem
alten Zimmer, sie redeten und lachten und sahen sich Filme auf Sarahs
Laptop an. Bis schließlich der Geruch von Marihuana aus dem Zimmer drang.
Und ein wildes Schluchzen.
„Mama, komm“, sagte Sarah, „der Joint hat sie umgehauen.“ Ich eilte in …
Zimmer, da saß Margie auf dem Bett und weinte, mit über das Gesicht
gelegten Händen. „Sie hat vielleicht noch nie gekifft“, sagte Sarah, „wi…
bei jedem anders.“
„Mein Gott, Sarah“, sagte ich, „musste denn das sein?“
„Sie wollte es eben ausprobieren“, sagte Sarah, „ich hab sie nicht
gezwungen.“
Ich mühte mich, Tante Margie zu trösten, aber sie war untröstlich und
schluchzte, „Herb, Herb, du blöde Sau!“ Schließlich legten wir sie auf das
Bett und deckten sie zu.
„Sie hat das Haus noch gar nicht verkauft“, sagte Jens am nächsten Tag im
Supermarkt.
„Was?“, ich überschlug gerade den Kartoffelbedarf der nächsten Tage. „W…
weißt du das?“
„Es ist noch zu haben, es steht noch im Internet. Ich habe sogar den Makler
angerufen. Wir könnten es kaufen, wenn wir wollten.“
Ich blies mich auf, ich steigerte mich richtig rein: „Ich wusste, dass sie
lügt. Sie lügt und lügt und lügt! Aber wenn ich sie frage, Jens, dann wird
sie wieder eine Erklärung dafür haben. Darum frag ich sie auch nicht, mir
steht es bis hier. Und macht sich bei Sarah beliebt, die liebe Tante, Sarah
ist auch schon gegen mich, ich fühle es doch, dass sie gegen mich ist. Das
hat sie geschafft, dass meine eigene Tochter jetzt schon gegen mich ist.“
Es war eine trübe Vorweihnachtszeit. Täglich düstere Nachrichten, kein
Weihnachtsmarkt, immer noch Homeoffice, der Feind in der eigenen Wohnung.
Kann man seine Abneigung so steigern, dass einem übel wird, wenn man
jemanden nur sieht? Mir war viel übel in jener Zeit, immer wenn ich den
rötlichen Wattebusch von Kopf sah, die flinken, hinterlistigen Äuglein
durch den Raum flitzen sah oder nur ihr Parfum roch! Ich wusste, was sie
über mich dachte, ich wusste es ganz genau, aber ich übte mich in
Beherrschung, ich wollte mich nicht in meiner eigenen Wohnung unterkriegen
lassen, von einer Fremden! Jens hatte versprochen, Tante Margie bei der
Wohnungssuche zu unterstützen, in unserem Interesse, wie er betonte, und
ich beobachtete, dass auch er im Verlauf dieser gemeinsamen Anstrengungen
sich mit ihr anzufreunden begann, wenn sie gemeinsam am Bildschirm saßen
oder zu einer Besichtigung fuhren. Ich begann eine gewisse Herzlichkeit in
ihrer beider Umgang wahrzunehmen. Und immer mehr fühlte ich mich als
Ausgegrenzte, weil ich die Gefühle meiner Familie gegenüber dieser
lügnerischen Frau nicht teilen konnte.
Am Vormittag des Heiligen Abends bereitete ich den vegetarischen Nussbraten
à la Jamie Oliver vor, da erreichte mich ein Anruf von der Rösrather
Polizei. Sie fragten nach meiner Tante, Hannelore Prenz, die seit Anfang
Dezember aus ihrem Haus verschwunden sei. Ihre Nachbarn hätten sich Sorgen
gemacht. „Oh, sie ist hier bei uns“, sagte ich, „das sind ja wirklich sehr
aufmerksame Nachbarn.“
„Na ja“, sagte der Polizist, „es ist ja nur, weil man nie weiß, in so ei…
Fall, wie der Mensch reagiert, nicht wahr.“
„In was für einem Fall?“, fragte ich und nahm einen großen Schluck vom
Kochwein.
„Wegen ihres Mannes, weil er doch gerade verstorben ist, daran eben, Sie
wissen doch.“
„Ach ja, daran“, sagte ich, denn ich konnte schlecht zugeben, dass ich gar
nichts wusste.
Früher waren immer Jens’ und meine Eltern gekommen, aber wegen Corona saßen
wir nun mit Tante Margie um den Baum. Sie machte uns allen sehr gute
Geschenke. Jens schenkte sie eine Wetterstation (und er interessiert sich
wirklich für das Wetter!), Sarah ein Schweizer Taschenmesser mit
dreiunddreißig Funktionen und mir ein Fußmassagegerät. Ich war überwältigt
und fühlte mich schlecht, weil ich nur einen karierten Schal für sie hatte,
der zur Hälfte aus Polyacryl war.
„Na ja“, sagte sie, als sie den Schal auswickelte, „du hast dich bemüht.…
Jens überreichte ihr eine große Schachtel mit Pralinen, und darüber war sie
schier außer sich.
„Du weißt, was Frauen mögen.“
„Pralinen?“, fragte ich. „Frauen mögen Pralinen?“
Gegen Mitternacht, wir saßen alle ein bisschen zusammengesackt vor dem
Fernseher, meine Füße wurden sanft summend massiert und ich war nicht
betrunken, aber fast, da kam es so über mich, dass ich mich plötzlich Tante
Margie sehr nahe fühlte. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, wie sie
müde eine Praline nach der anderen in ihren rot verschmierten Mund steckte
und ihr ab und an die Augen zufielen. Ich dachte an ihren Mann, über dessen
Tod sie uns nichts erzählt hatte. Ich dachte daran, dass sie sich hatte
retten wollen, über die Feiertage, zu uns, diesen fremden, misstrauischen
Menschen.
„Tante Margie“, sagte ich, „was meinst du? Wir hab’n uns ja noch gar ni…
richtich kenn’gelernt. Aber wenn das soweit is’, wirst du merken, ich bin
eigentlich hinterhältich. Und ich lüge. Ja, wirklich. Hättest du das
gedacht? Ich bin nicht immer so ein guter Mensch, wie du vielleicht gedacht
hast. Soll ich dir mal was sagen, Tante Margie? Als du uns geschrieben
hast, dass du kommst – weißt du, was ich da gedacht hab? Dass du uns was
vererben willst. Das war der einzige Grund, dass wir dich überhaupt
eingelad’n ham.“
Tante Margie nickte unbeeindruckt. „Darum hab ich das so geschrieben, mit
den Angelegenheiten, weißt du? Wer lädt denn sonst Leute zu Weihnachten
ein, wenn er die nicht mal kennt. Und jetzt noch erst recht, mit Corona und
allem.“
„Tante Margie“, schluchzte ich, mit echten hochprozentigen Tränen in den
Augen, denn ich schätzte ihre Offenheit plötzlich, ihre raue Stimme, ihren
außergewöhnlichen Look und sogar ihr Parfum, „ich liebe dich.“
Tja, und ich meinte es auch so. Wenn man sich überlegt, dass diese
hinterhältige, verlogene Art vielleicht in der Familie liegt und diese Gene
sich vor allem in Tante Margie und mir ausgeprägt haben, dann muss ich sie
als das anerkennen, was sie ist, die mir am nahestehendste noch lebende
Verwandte. Und meine Familie liebt sie auch. Was will man an Weihnachten
mehr?
25 Dec 2020
## AUTOREN
Katrin Seddig
## TAGS
Literatur
Weihnachten
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
TV
Weihnachten
## ARTIKEL ZUM THEMA
Eine Erzählung von Katrin Seddig: Glitzer, Feen und saure Kotze
Christine ist allein: weil sie verlassen wurde und weil sie allein sein
will. Und sie trifft die Antifa-Fee. Ein Weihnachtsmärchen zwischen den
Jahren.
Eine Kurzgeschichte von Katrin Seddig: Hochzeit im Schnee
Die Braut ist schwanger, deswegen hat sie geheiratet. Doch am Hochzeitstag
stirbt ihr Vater. Und sie begegnet ihrer Liebe.
Die Jahresendgeschichte: Rosemaries Cousinen
Zu Silvester kommen die Cousinen zu Besuch. Sie sind alt geworden, nur eine
von ihnen irritierenderweise nicht.
Eine bemerkenswerte Frau: Eine richtige Weihnachtsgeschichte
Der Weihnachtsapfel kann nur ein wirklich perfekter Apfel sein und ihn zu
suchen, macht viel Mühe. Aber vielleicht ist noch wichtiger, mal drüber
gesprochen zu haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.